Jüdische Tradition

Tage der Ehrfurcht

Ein jüdisches Gebetsbuch vor einer Menora
Ein jüdisches Gebetsbuch vor einer Menora © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Von Evelyn Bartolmai · 26.09.2014
Die zehn Tage zwischen dem jüdischen Neujahrstag Rosch ha-Schana und Jom Kippur, dem Versöhnungstag, sind eine Zeit der Umkehr. Ein altes Gebet erinnert die Gläubigen in diesen Tagen an die Legende um einen reuemütigen Rabbiner.
Der Klang des Schofars leitet die zehn besonderen Tage zu Rosch ha-Schana ein und erinnert daran, dass "zu Beginn des Jahres geurteilt wird, was am Ende sein soll", wie der Talmud sagt. Oder, wie es in einem speziellen Gebet heißt:
"Am Neujahrstag wird es aufgeschrieben und am Versöhnungstag wird es besiegelt: wie viele vergehen und wie viele erschaffen werden. Wer leben wird und wer sterben; wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit; wer durch Feuer und wer durch Wasser; wer durch das Schwert und wer durch Hunger; wer durch Sturm und wer durch Seuche…"
Unetaneh tokef heißt dieses Gebet nach seinen Anfangsworten, auf Deutsch "Lasst uns die Macht dieses heiligen Tages preisen". Es beschreibt bis ins einzelne, wie ein Mensch für seinen Lebenswandel belohnt oder eben auch bestraft werden kann, und es gipfelt in dem wohlgemeinten Rat am Ende:
"Aber Umkehr, Gebet und Wohltätigkeit können das schwere Urteil abwenden."
Die Legende um den Rabbiner Amnon von Mainz
Und deshalb reden wir besser von Ehrfurcht gebietenden als von schrecklichen Tagen.
Das Gebet entstand im 11. Jahrhundert in Deutschland und basiert auf einer bekannten Legende um den Rabbiner Amnon von Mainz. Dieser Rabbi Amnon war ein angesehener Jude in seiner Heimatstadt, doch immer wieder wurde er vom Erzbischof gedrängt, zum Christentum überzutreten.
Eines Tages bat Rabbi Amnon um drei Tage Aufschub, um darüber nachzudenken, wie er sagte, aber eigentlich wollte er nur den lästigen Dränger loswerden. Doch bereute der Rabbi diesen Satz, kaum dass er ausgesprochen war, denn er empfand ihn sogar sich selbst gegenüber als Zweifel an seinem Glauben.
Als Rabbi Amnon nach drei Tagen nicht beim Erzbischof erschien, ließ dieser ihn von seinen Bütteln holen. Rabbi Amnon war verzweifelt und wusste nicht, wie er aus dieser Klemme wieder herauskommen konnte. Er ließ dem Erzbischof ausrichten, dieser möge ihm für seine Worte die Zunge abschneiden. Der Erzbischof antwortete, er werde nicht die Zunge, die gut gesprochen habe, jedoch die Füße abschneiden lassen, die Rabbi Amnon nicht zum Erzbischof gebracht hatten, und obendrein auch noch die Hände.
Ein starkes Gebet
Genau so geschah es. Wenige Tage später war Rosch ha-Schana und Rabbi Amnon ließ sich in die Synagoge tragen. Er bat darum, den Namen Gottes lobpreisen und heiligen zu dürfen, und so trug er dieses ungemein starke Gebet vor, dass er unter dem Eindruck seines eigenen Schicksals verfasst hatte und als Lehrbeispiel für die Gemeinde verstanden wissen wollte. Kaum hatte er das Gebet beendet, entschwand er auf wundersame Weise den Blicken der Beter und aus der Synagoge. Gott war wohl derart beeindruckt, dass er den an Leib und Seele tödlich Verwundeten sofort zu sich genommen hatte.
Obwohl Unetaneh tokef jahrhundertelang ausschließlich in aschkenasischen Synagogen gebetet wurde, hat sich in Israel unter dem Eindruck des Jom Kippur-Krieges von 1973 der Brauch entwickelt, dieses Gebet auch in den Gedenkveranstaltungen für die Gefallenen und Opfer dieses Krieges vorzutragen und es schließlich auch in die Liturgie des sephardischen Gottesdienstes zu Rosch ha-Schana und Jom Kippur zu integrieren.
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