Jeder FDJ'ler "war eine Stütze der Diktatur in diesem Moment"

Roland Jahn im Gespräch mit Margarete Wohlan und Martin Steinhage · 06.08.2011
Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, fordert ein stärkeres Bekenntnis der früheren DDR-Bürger zu ihrer Biografie: "Wir haben alle dazu beigetragen, dass diese Diktatur so lange existieren konnte."
Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, in einer Woche jährt sich zum 50. Mal der Tag des Mauerbaus. Als die DDR die Grenzen dicht machte, da waren Sie gerade 8 Jahre alt und lebten in Jena, waren also jung und fern der Grenze. Haben Sie gleichwohl eine Erinnerung an jenen 13. August 61?

Roland Jahn: An den Tag nicht genau, aber durchaus an die Zeit danach. Schon als Kind oder als Jugendlicher bin ich mit meinen Eltern an die Ostsee gefahren in den Urlaub. Und dann sind wir immer vorbeigefahren mit dem Zug an dieser Mauer. Und im Hintergrund standen Hochhäuser. Und ich war natürlich neugierig. Wie mögen die Menschen dort leben? In der Schule lernte ich ja nur vom "antifaschistischen Schutzwall". Und, ja, ich wollte genau wissen, wie ist das Leben im Westen. Deswegen war ich neugierig.

Deutschlandradio Kultur: 28 Jahre später als die Mauer fiel, waren Sie 36 Jahre alt und lebten in Westberlin, also ganz nah dran. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Roland Jahn: Ja, dieser Tag war natürlich einer, der mir sehr im Bewusstsein heute noch ist, weil, ich saß im Sender Freies Berlin und hab die ersten Bilder der Maueröffnung kommentiert für die ARD.

Deutschlandradio Kultur: Als Journalist.

Roland Jahn: Als Journalist. Das war natürlich das ganz Besondere dran, dass ich als jemand, der doch in den Jahren zwischendurch auch stark geprägt war von den Erlebnissen mit der Mauer, dann diese Maueröffnung kommentieren durfte für die ARD.

Deutschlandradio Kultur: Wie haben Sie's kommentiert?

Roland Jahn: Ja, schon noch einerseits freudig, auf der anderen Seite auch noch besinnlich in der Form, dass ich noch mal drauf hingewiesen habe, was die Mauer 28 Jahre lang bedeutet hat - nämlich viele, viele Menschen, die dort erschossen worden sind, viele, viele Menschen, die einfach sich ein Stück Freiheit nehmen wollten, von der einen Seite der Stadt in die andere, und trotzdem ihr Leben dafür hergeben mussten. Das ist schon etwas, was man nicht vergessen darf, auch wenn man sich freut, dass die Mauer nicht mehr existiert.

Deutschlandradio Kultur: Vielleicht noch ein paar Informationen zu Ihrer Biographie für alle, die es noch nicht so genau wissen. Mit kaum 20 Jahren hatten Sie, damals in Jena lebend, erstmals Ärger mit der Stasi. Später flogen Sie wegen Mitarbeit in DDR-Oppositionsgruppen von der Uni in Jena. Wegen mehrerer Provokationen der Staatsmacht landeten Sie vor Gericht und im Gefängnis. 1983 schließlich wurden Sie aus der DDR ausgebürgert. Aber auch von Berlin-West aus haben Sie dann, salopp gesagt, die Stasi weiter auf Trab gehalten, nunmehr als Journalist, wir hörten es eben schon, der weiter intensive Kontakte nach drüben hatte. Das Thema Stasi begleitet Sie, wenn man so will, seit Jahrzehnten. Ist das schon so eine Obsession?

Roland Jahn: Ach, klar, die Stasi hat immer gewirkt und hat immer versucht auch das Leben zu beeinflussen. Aber ich denke, ich bin ein lebenslustiger Mensch geblieben. Ich hab mir auch durch die Stasi die Lebensfreude nicht nehmen lassen. Und das ist mir besonders wichtig. Das versuche ich auch jetzt noch in meine Arbeit mit einzubeziehen, dass ich immer mir sage, es ist vorbei. Und wir haben die Chancen, jetzt das aufzuarbeiten, was da geschehen ist. Wir haben die Chance vor allen Dingen, auch einer nachfolgenden Generation zu zeigen, wie eine Diktatur funktioniert hat.

Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, Sie sind ein Stasiopfer. Kann man, wenn man das erlitten hat, was Sie erlitten haben unter der Stasi, sowohl im Osten als auch im Westen, Ihre jetzige Funktion wirklich unbefangen ausüben?

Roland Jahn: Was heißt "unbefangen"? Ich denke, ich kann sie gut ausüben deswegen, weil ich einerseits ja doch Erfahrungen gesammelt habe mit meiner Biographie und dadurch weiß, was andere Menschen empfinden, die ähnliches durchlebt haben, aber andererseits durchaus jemand bin, der in der Lage ist, einen Schritt zurückzutreten und sachlich besonnen diese Aufgabe wahrzunehmen.

Das ist mein Anspruch, das zu tun. Das hab ich schon als Journalist gemacht. Und wer sich meine Beiträge anschaut zum Thema Staatssicherheit, sieht genau, mir geht es um einen differenzierten Blick. Mir geht es auch hauptsächlich darum zu begreifen, wie und was funktionierte, dass die Diktatur so lange bestehen konnte. Und ich glaube, das ist das Wichtige. Wir müssen einerseits die Täter benennen. Wir dürfen aber nicht dabei stehen bleiben und sagen, "da ist das Stasischwein", sondern wir müssen begreifen, wie ist es möglich, dass hochintelligente Menschen sich so lange angepasst haben. Wie ist es möglich, dass sogar Menschen, die eigentlich von ihrem ganzen Wesen her und von ihrer Ausbildung her nicht zum Täter werden könnten, wo man sich's kaum vorstellen kann, am Ende doch funktioniert haben und Menschenrechtsverletzungen begangen haben?

Deutschlandradio Kultur: Nicht jeder glaubt zu jeder Zeit, dass der Jahn da völlig unabhängig und emotionsfrei die Sache angeht. Sie haben sich beispielsweise den Vorwurf eingefangen, ein Eiferer zu sein. Das war im Zusammenhang damit, dass Sie gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit den Wunsch geäußert haben, knapp 50 Mitarbeiter aus Ihrer Behörde loswerden zu wollen mit der Begründung, dass die einst bei der Stasi gedient hatten. Für Ihre Vorgänger stellten diese Leute offenbar kein Problem dar, weder für Frau Birthler, noch für Herrn Gauck. Warum aber für Sie? Sind Sie der bessere Aufarbeiter?

Roland Jahn: Ach, wissen Sie, das ist ja ein Problem, was eigentlich die letzten Jahre immer wieder hochgekommen ist. Immer wieder haben die Opferverbände drauf hingewiesen, dass es für sie eine Zumutung ist, dass ehemalige Stasimitarbeiter gerade in der Behörde arbeiten, die die Tätigkeit der Staatssicherheit aufarbeiten soll.

Deutschlandradio Kultur: Was mich auch wundert, aber Sie waren der erste, der sozusagen von oben dann gesagt hat, die sollen weg.

Roland Jahn: Ja, so bin ich halt. Ich bin halt Journalist, der immer die Dinge benennt. Und das hab ich natürlich auch zu meinem Amtsantritt gemacht. Ich kann nicht jahrelang hier eine Position vertreten und dann, wenn ich im Amt bin, das verschweigen. Nein, das hab ich benannt und hab gesagt, das Problem sollte gelöst werden, weil ich möchte, dass ein Klima der Versöhnung entsteht, ein Klima, was es möglich macht, dass wir die Konflikte, die mal bestanden haben, so angehen, dass auch Menschen verzeihen können. Und man kann aber Opfern nicht befehlen, dass sie verzeihen, sondern man muss ein Klima schaffen, dass es ihnen möglich ist, dass ihre Verletzungen auch geheilt werden. Nur dann haben wir eine Chance auf Versöhnung.

Deutschlandradio Kultur: Die Frage ist, ob das der richtige Weg ist. Also, bei allem Verständnis für Ihr Unverständnis darüber, dass ehemalige Stasimitarbeiter in der heutigen Stasibehörde arbeiten, muss man doch zweierlei festhalten. Erstens: Diese Leute arbeiten mehrheitlich in eher nachgeordneten Funktionen, Stichwort Pförtner. Und zweitens, die Betroffenen sind jetzt zum Teil zwei Jahrzehnte dabei. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen in dieser Zeit. Wenn dem so ist, haben sich damit nicht genug bewährt?

Roland Jahn: Klar sind das Argumente, die man ernst nehmen muss. Als erstes ist natürlich bei uns jeder wichtig. Bei uns gibt’s nichts Nachgeordnetes. Der Mensch am Empfang, der repräsentiert unsere Behörde. Da kommen die Menschen hin, haben Nachfragen, wollen einen Antrag stellen auf Akteneinsicht. Und dann empfängt sie ein ehemaliger Stasimitarbeiter? Ich denke, das ist verständlich, dass wir hier die Empfindung derer, die unter Stasi gelitten haben, ernst nehmen.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie mal mit denen geredet, mit den betroffenen Personen?

Roland Jahn: Na selbstverständlich rede ich mit denen.

Deutschlandradio Kultur: Wie läuft das ab? Vom Opfer zum Täter oder vom Chef zum Untergebenen?

Roland Jahn: Ich respektiere sie als Mensch. Ich gehe ein auf ihre Gedanken, auf ihre Bedürfnisse. Das Entscheidende ist doch, dass wir das Problem lösen. Es existiert sichtlich. Und mir ist wichtig, dass wir eine Lösung finden, die einvernehmlich ist, dass wir sagen, diese Menschen, die wollen sich einbringen in diese Gesellschaft und das können sie auch an einem anderen Ort in der Bundesverwaltung. Die Arbeitsverträge sind mit der Bundesrepublik Deutschland. Und das ist genau der Weg, der jetzt ganz in Ruhe und besonnen beschritten wird.

Deutschlandradio Kultur: Sie nennen sich "der Anwalt der Opfer" und wollen sozusagen Versöhnung herbeiführen zwischen Tätern und Opfern. Und das Ganze findet dann aber sozusagen in Ihren Augen statt unter der Diktion der Opfer. Also, die Opfer geben vor, wie Versöhnung abzulaufen hat. Die Frage ist: Ist das möglich?

Roland Jahn: Es gibt niemand vor, wie Versöhnung abzulaufen hat. Es geht immer nur um ein Klima der Versöhnung.

Deutschlandradio Kultur: Aber wie schafft man dieses Klima am besten?

Roland Jahn: Indem man eingeht auf die Empfindungen der Menschen.

Deutschlandradio Kultur: Auch der Täter?

Roland Jahn: Selbstverständlich müssen wir auf alle eingehen. Aber wir müssen doch mal klar und deutlich sagen, was geschehen ist. Wir dürfen hier nicht irgendwelche Zeichen umkehren. Hier sind Menschenrechtsverletzungen geschehen. Die müssen klar benannt werden. Hier haben Menschen es sich zum Beruf gemacht, in einem Unterdrückungsapparat mitzuarbeiten. Und das muss doch man ganz offensiv diskutieren. Hier geht’s doch um die Frage: Welche Verantwortung hat jeder Einzelne in dieser Diktatur getragen? Und diese offensive Diskussion, denke ich, kann auch zu Ergebnissen führen.

Wir haben als Behörde einen Film unterstützt. Wir haben die Akten bereitgestellt. Wir haben Veranstaltungen mit organisiert, wo ein Bespitzelter und ein Spitzel gemeinsam die Akten lesen, die Stasiakten lesen. Der Spitzel hat dazu beigetragen, dass der Bespitzelte ins Gefängnis gekommen ist, dass aufgrund der Berichte, die er abgeliefert hat, er zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. So, und wie diese Menschen sich begegnen vor der Kamera, wie diese Menschen gemeinsam diese Akten lesen und das aufarbeiten, das ist, denke ich, ein Weg, wo man sagen kann, hier kann man zueinander kommen. Hier kann man dann auch zu einem Punkt kommen, wo das Opfer sagt: Ich kann verzeihen.

Deutschlandradio Kultur: Wie aktuell das Thema Stasi noch immer ist, lässt sich auch an den Kontroversen im Land Brandenburg ablesen. Dort hat eine Enquête-Kommission des Landtags große Versäumnisse beim Umgang mit der SED-Diktatur im Allgemeinen und der Stasi im Besonderen festgestellt. Herr Jahn, was lief falsch in Brandenburg?

Roland Jahn: Ja, man hat die Entwicklung ein bisschen verschlafen in Brandenburg. Schon Anfang der 90er Jahre wurden Fehler gemacht, indem man gerade das, was an Informationen zur Verfügung gestellt worden ist durch die Stasiunterlagen, nicht genutzt hat hier klar Schiff zu machen. Und so ist es passiert, dass jetzt selbst 20 Jahre danach Dinge hochkommen, wo natürlich die Öffentlichkeit empört ist. – Wie kann es sein, dass der Leiter einer Polizeiwache in Cottbus ein ehemaliger Stasivernehmer war? Wie konnte der Karriere machen? Das sind doch die Fragen, die beantwortet werden müssen. Und hier, glaube ich, ist die Brandenburger Politik gefordert.

Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, wie ist denn Ihre Einschätzung? Hat das Ganze vielleicht - auch dass Brandenburg sich bei der Aufarbeitung schwerer getan hat als andere neue Länder- , hat das Ganze vielleicht seine Ursache da drin, dass mit Manfred Stolpe, dem damals führenden Kirchenmann der DDR, jemand Brandenburgischer Ministerpräsident wurde – später ja auch Bundesminister -, der wegen seiner Stasikontakte ja seit zwei Jahrzehnten, quasi von Anfang an, in der Kritik steht? Diese Verstrickungen Stolpes sollen ja noch einmal ganz genau untersucht werden, wird immer wieder gefordert. Kann das eigentlich gelingen ohne Stolpes freiwillige und dann auch höchst aktive rückhaltlose Beteiligung? Geht das?

Roland Jahn: Klar, die Rolle von Manfred Stolpe hat hier in Brandenburg natürlich schon eine Rolle gespielt. Ich würde mir wünschen, dass Manfred Stolpe gerade jetzt, wo er nicht mehr im Amt ist, ein bisschen offensiver auch seine eigenen Positionen hinterfragt, seine Verstrickungen mit der Staatssicherheit noch mal offensiver auch diskutiert und nicht nur sich rechtfertigt.

Deutschlandradio Kultur: Denn es ist doch eine Grauzone, wie auch in anderen Fällen, die man eigentlich nur dadurch sozusagen erhellen kann, indem derjenige, der im Fokus der Kritik steht, mitmacht.

Roland Jahn: Selbstverständlich. Wichtig ist immer, dass das Bekenntnis zur Biographie, das offensive Umgehen mit dem eigenen Verhalten, das ist das, was ich mir wünsche, was überhaupt in Deutschland zu wenig da ist. Es gibt zu wenig Bekenntnis zur Biographie. Es gibt zu wenig, ja, der Umgang mit der eigenen Verantwortung. Ich glaube, nach 20 Jahren sollte man schon mal soweit sein, dass man da einen Schritt zurücktritt und nicht nur rechtfertigt.

Deutschlandradio Kultur: Vielleicht ist Brandenburg insofern auch so ein spezieller Fall, weil da so eine Art Solidarisierung der ehemaligen DDR-Bürger mit dem damaligen Ministerpräsident Stolpe stattfand nach dem Motto: Wir lassen uns von den Wessis doch nicht diktieren, wer uns regiert.

Roland Jahn: Ja, es ist natürlich schon so ein bisschen hoch gespielt worden als Ost-West-Konflikt. Aber das sehe ich überhaupt nicht, dass das berechtigt war - weil, die DDR, das war nicht nur die SED. Die DDR, das war nicht nur die Stasi. Sondern die DDR, das waren viele, viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Biographien, mit ganz unterschiedlichen politischen Haltungen. Und diese Vielfalt, die in der DDR war, die lässt sich nicht reduzieren auf ein paar wenige.

Deutschlandradio Kultur: Aber wieso dann die Front in Brandenburg zum Rest?

Roland Jahn: Natürlich ist das Land Brandenburg, gerade weil dort viele früheren DDR-Funktionäre wohnen, besonders geprägt davon, von der Fragestellung: Wird hier eine ganze Identität von Personen infrage gestellt, wenn man die DDR infrage stellt?

Natürlich wird diese Diskussion dort verstärkt geführt. Aber gerade deswegen ist es wichtig, auch diese Menschen herauszufordern. Es ist nicht einfach, nach 40 Berufsjahren in der DDR zu sagen, das war alles irgendwo doch der falsche Weg, den wir gegangen sind. Wenn jemand soweit kommt, dann stellt er fast sein ganzes Leben infrage. Das ist ganz, ganz schwierig. Und das muss man respektieren, dass diese Menschen da einen schweren Zugang haben.

Aber genau diesen Weg müssen wir gehen. Wir müssen alles, was wir getan haben, hinterfragen, weil, es hat dort eine Diktatur existiert. Und wir haben alle mit unserer Biographie dazu beigetragen, dass diese Diktatur so lange existieren konnte. Und das ist nichts Abstraktes, sondern Diktatur haben viele Menschen erlebt ganz konkret. Wir haben den Jahrestag es Mauerbaus jetzt. Wir erinnern uns an die vielen Toten an der Mauer. Das sind die Opfer, die wir alle mit zu verantworten haben, die die Diktatur gestützt haben.

Ich selbst hab ja auch eine zeitlang diese Diktatur gestützt. Ich selbst war in der Freien Deutschen Jugend. Ich war im Grundwehrdienst bei der Bereitschaftspolizei. Das sind alles Verhaltensweisen, die diese Diktatur stützen. Und deswegen ist es wichtig, dass jeder seine Biographie nimmt und hinterfragt. Es muss ja nicht immer gleich in der Öffentlichkeit alles rausgetragen werden. Es kann ja auch zu Hause stattfinden, in den Familien, Gespräche mit den Kindern. Das ist doch das Wichtige, was Aufarbeitung ist. Aufarbeitung heißt nicht nur, wenn es in der Zeitung steht. Aufarbeitung heißt wirklich, mit den Menschen auch im Gespräch sein, die einen umgeben.

Deutschlandradio Kultur: In der FDJ gewesen zu sein, ist klar. Das heißt ganz sicherlich noch nicht, dass man eine Stütze des Regimes war. Das leuchtet einem ja auch als Wessi ein. Wie ist es eigentlich, wenn man im Wachregiment Felix Dserschinski war, wie zum Beispiel neun Richter, die heute noch in Brandenburg tätig sind, oder wie der Präsident des Fußballzweitligisten Union Berlin? Ist man denn Stasi gewesen, wenn man bei Felix Dserschinski war?

Roland Jahn: Erst mal zurück auf den Satz vorher: Natürlich ist jeder, der in der Freien Deutschen Jugend gewesen ist und am 1. Mai bei der Parade vor der Tribüne der SED lang gelaufen ist, eine Stütze der Diktatur in diesem Moment. Das muss man sich im Nachhinein bewusst werden. Damals haben wir da nicht dran gedacht, aber objektiv gesehen ist jeder, der dort gejubelt hat, ein Träger der Diktatur. Das muss er für sich verantworten.

Felix Dserschinski ist natürlich auch etwas, wo man genau hinschauen muss, die Frage stellen, wie ist er dazu gekommen, dass er sich verpflichtet hat zu dem Wehrdienst. Wie war das damals bei der Musterung? Hat man ihn überredet, seinen dreijährigen Dienst bei der Stasi zu machen? Wusste er das überhaupt usw.? Das sind alles Faktoren, die man durchaus mit beachten soll.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie es ertragen, wenn ein Richter in Brandenburg heute tätig ist, der bei Felix Dserschinski gedient hat? Ist das okay?

Roland Jahn: Ich denke, man muss jedem die zweite Chance geben. Man muss jedem die Möglichkeit geben, mit seiner Vergangenheit umzugehen. Entscheidend ist doch für mich mehr und mehr, wie sind die Leute in den letzten 20 Jahren damit umgegangen mit dem, was sie gemacht haben. Und das ist leider das, was meistens nicht stattgefunden hat. Die tun ja immer so: "Okay, ich hab gesagt, ich war bei Felix Dserschinski beim Wehrdienst" - und das war's dann.

Nein, nur ein offensives Umgehen mit der Vergangenheit in den letzten 20 Jahren ist das Kriterium, wo wir sagen können: Genau diese Leute haben ne Berechtigung an einer Vertrauensstellung in diesem neuen Staat mitzuarbeiten.

Deutschlandradio Kultur: Aber Herr Jahn, jetzt seien Sie doch mal ganz konkret. Was erwarten Sie von so jemandem, so einem Richter, der bei Felix Dserschinski gedient hat? Was muss er sagen, damit Sie sagen, okay, er ist glaubwürdig, er kann in seinem Amt bleiben?

Roland Jahn: Das kann man nicht so einfach formulieren. Hier geht’s wirklich nicht um Schlagworte. Es geht hier darum: Was hat dieser Mensch in den letzten 20 Jahren getan? Wie ist er damit umgegangen?

Eins kann ich natürlich noch mal deutlich sagen: Ein Wehrdienst bei Felix Dserschinski mit drei Jahren ist etwas anderes wie ein Stasioffizier, der sich es zum Beruf macht, als hauptamtlicher Stasimitarbeiter am Unterdrückungssystem mitzuarbeiten. Das ist ein klarer Unterschied.

Deutschlandradio Kultur: Ich mach jetzt mal einen harten Schnitt. -Durch die Medien geistert in diesen Tagen der Fall Horst Mahler, der bekanntlich nicht nur erst Linksextremist war und später Neonazi wurde, sondern angeblich, was er bestreitet, auch als zeitweiliger Stasikollaborateur Ende der 60er Jahre tätig war. Mal jetzt ganz über diesen Fall hinaus: Wie massiv hat sich die Stasi im Westen eingemischt in die Politik, in die Gesellschaft?

Roland Jahn: Ja, die Stasi war nicht nur im Osten. Die Stasi hat sich massiv eingemischt in die bundesdeutsche Gesellschaft.

Deutschlandradio Kultur: Also nicht nur geschnüffelt wie bei Ihnen, bis zu einhundert Stasi-Leute haben Sie ja wohl, als Sie im Westen lebten…

Roland Jahn: Ich hab selbst in meiner Akte gesehen, dass die Stasi in Westberlin vor Ort war. Ich hab sie gesehen, selber gespürt, aber in der Akte hab ich's bestätigt bekommen. Es gab Skizzen meiner Wohnung. Man hatte Maßnahmepläne, bestimmte Kneipen zu verwanzen, wo ich mich mit Diplomaten getroffen habe, die journalistische Schmuggelware in den Osten gebracht haben.

Deutschlandradio Kultur: In West-Berlin wohlgemerkt.

Roland Jahn: In West-Berlin. So. Und selbst der Schulweg meiner Tochter wurde observiert. Da hab ich mich schon gefragt: Was wollten die da alles tun? Und da kann man nur froh sein, dass es zu Ende ist.

Deutschlandradio Kultur: Wir wissen seit einiger Zeit, der Polizist Kurras, der 1967 in West-Berlin den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, stand in Diensten der Stasi. Zu der Zeit war möglicherweise auch der Anwalt Mahler für die "Firma" tätig. Wurde oder wird der Einfluss der Stasi auf gesellschaftliche Prozesse im Westen unterschätzt, also, in diesem Fall auf die Studentenprotest und die daraus resultierende 68er Bewegung?

Roland Jahn: Ich denke, das wird nicht unterschätzt. Und wir mit unserer Behörde leisten da ja einen Beitrag zur Aufklärung. Wir stellen Akten zur Verfügung, gerade auch über die Westarbeit der Stasi. Und auch in anderen Dingen sind wir aktiv. Wir stellen Akten zur Verfügung auch über das Wirken der Stasi in der linken Szene. Es ist immer die Frage der Wissenschaftler, der Medien. Sie müssen Anträge stellen. Sie müssen bei uns in dem Archiv recherchieren.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ganz interessant an der Stelle. Wahrscheinlich wissen das die wenigsten - wie ist das jetzt? Jetzt haben wir den aktuellen Fall Mahler. Alle fragen sich: War er, war er nicht? Hat er, hat er nicht? Kann jetzt Roland Jahn ins Archiv stiefeln oder Leute losschicken und sagen, checkt das mal ab, und dann machen wir einen Bericht? Oder muss da erst jemand das beantragen?

Roland Jahn: Beides natürlich. Wir sind natürlich per Gesetz beauftragt, über die Tätigkeit der Staatssicherheit zu berichten. Aber wir tun das in Zusammenhängen. Wir fangen nicht an, hier Einzelpersonen zu überprüfen. Es gibt ganz klare Regelungen, dass die Überprüfung von Personen nach Gesetz erfolgt. Und das ist so nicht einfach machbar.

Entscheidend ist, dass hier immer das Wirken der Staatssicherheit untersucht wird. Darum geht es. Wir sind dazu da, Transparenz herzustellen über das Wirken der Staatssicherheit, auch in der linken Szene der Bundesrepublik Deutschland.

Deutschlandradio Kultur: Einige wenige Zahlen zur Stasihinterlassenschaft, wenn Sie jetzt so in den Archiven waren, um einmal mal die Quantität zu illustrieren, mit der Sie und Ihre Mitstreiter da arbeiten müssen: Aneinandergereiht hat es die Stasiunterlagenbehörde mit 158 Kilometer Papier zu tun, das ist die Strecke Berlin-Helmstedt. Ferner u.a. mit 39 Millionen Karteikarten, mit eineinhalb Millionen Fotos sowie mit über 16.000 Säcken voll mit geschreddertem Papier, das die Stasiverantwortlichen 1989 der "feindlich-negativen" Nachwelt vorenthalten wollten. Noch nicht einmal 500 dieser Säcke sind bislang auf fast einer Million Seiten wieder hergestellt worden. Stehen da eigentlich noch Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis?

Roland Jahn: Diese Frage kann man so nicht stellen.

Deutschlandradio Kultur: Doch.

Roland Jahn: Demokratie hat… – Sie haben Recht, diese Frage kann man natürlich so stellen und ich glaube, es ist aber wichtig zu betonen, Demokratie hat ihren Preis. Aufklärung hat ihren Preis. Und ein Archiv wird so geordnet, wie's nötig ist. Und wir sind dabei, hier natürlich auch in dem finanziell möglichen Rahmen das zu halten, was die Rekonstruktion von Akten zum Beispiel betrifft.

Aber wenn wir zum Beispiel ein Forschungsprojekt machen zur virtuellen Rekonstruktion von Akten, ist das ein Forschungsprojekt, was dieser Republik insgesamt zugute kommt. Die Landeskriminalämter haben sich schon angemeldet, das Stadtarchiv Köln, wo viel vernichtet worden ist durch den großen Unfall, hat sich angemeldet, hier unser Forschungsprojekt mit zu nutzen zur Wiederherstellung von zerstörten Akten.

Das heißt, wir tun auch etwas mit dem, wo hier Geld eingesetzt wird, für die gesamte Gesellschaft. Und dieses Projekt ist jetzt auf dem Weg. Und es ist durchaus wichtig zu sagen, gerade auch in Hinsicht der Arbeit der Stasi im Westen, dass hier noch Dokumente zusammengestellt werden, die für das Wissen und das Wirken der Stasi im Westen von großem Interesse sind.

Deutschlandradio Kultur: Herr Jahn, Sie haben eben in einem Nebensatz schon gesagt, dass Sie sich Ihre Stasiakte oder Stasiakten angeschaut haben, die ja sicherlich sehr, sehr umfänglich sind. Uns würde zum guten Schluss interessieren: Waren eigentlich in diesen Akten Informationen, die für Sie nicht nur neu, sondern auch äußerst schmerzhaft waren, etwa der Verrat durch nahe stehende Menschen, vielleicht sogar so schmerzhaft, dass Sie den Blick ins Archiv für den Moment bereut haben?

Roland Jahn: Ich hab ihn nicht bereut. Aufklärung ist am Ende immer ein Gewinn, auch wenn's schmerzt. Und für mich war das Erlebnis und die Erkenntnis, dass ein Freund mich verraten hat, gar nicht der politische Verrat, sondern ich hab die Stimme immer noch im Ohr, wie der Freund sagt im Telefon, "Roland, lass uns mal wieder sehen und ein Bier trinken gehen". Und wenn man dann genau von diesem Kneipenbesuch detailliert die Gesprächsnotizen liest und merkt, dass er im Detail alles sich gemerkt hat und aufgeschrieben hat für die Stasi, und das noch in West-Berlin, dann ist man schon schockiert. Und dann weiß man, was es bedeutet, wenn Freunde einen verraten.

Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank, Herr Jahn.