Istanbul rechnet mit dem großen Beben

Von Luise Sammann · 31.01.2011
Istanbul wird gern als Brücke zwischen den Kontinenten bezeichnet, denn die eine Stadthälfte liegt auf europäischem, die andere auf asiatischem Boden. Doch genau diese symbolträchtige Lage könnte der 15-Millionen-Metropole schon bald zum Verhängnis werden: Hier herrscht akute Erdbebengefahr.
Erdbebenalarm! Die türkischen Kinder, die eben noch lachend dagesessen haben, springen von ihren Stühlen, kriechen unter den Küchentisch, die Hände schützend über dem Kopf zusammengeschlagen. Alles um sie herum ist in Bewegung, Gläser und Becher fliegen aus den Küchenschränken, ein Regal kippt von der Wand, ein Bilderrahmen saust auf den Boden ...

Nach wenigen Sekunden ist das Beben vorbei. Ein Zehnjähriger Junge steckt den Kopf unter dem Küchentisch hervor, springt zum Gashahn in der Ecke und dreht ihn ab. Ein Mädchen flitzt zum Sicherungskasten, auf dem Weg zur Tür schnappt sie einen Erdbeben-Rucksack, der für den Notfall immer bereitsteht, dann rennen beide raus... Ende der Übung!

Trainer Tarik ist zufrieden, sie haben alles richtig gemacht. Bis zu 300 Schüler lässt er jeden Tag in der unterirdisch verkabelten Küche dreidimensional durchschütteln. Im Erdbeben-Simulator des Istanbuler Wissenschafts-Zentrums, lernen die Kinder, was sie zu tun haben, wenn die Erde bebt. Einige hier hören zum ersten Mal davon, dass sie an einem erdbebengefährdeten Ort leben, andere – wie die zehnjährige Zeynep – sind längst kleine Experten.

"Ich weiß zum Beispiel, dass ich bei einem Erdbeben keine Panik kriegen soll und dass ich immer meinen Kopf beschützen muss. Wenn es losgeht darf man keinen Fahrstuhl benutzen, und auch nicht auf die Treppe oder den Balkon laufen. Dann habe ich noch gelernt, dass ich danach nicht gleich meine Verwandten anrufen soll, damit die Telefonleitungen frei bleiben."

Gründe dafür, warum Zeyneps Eltern regelmäßig mit ihr über Erdbeben sprechen, gibt es genug: Istanbul gehört zu den gefährdetesten Städten der Welt. Trainer Tarik erklärt warum:

"Die Erdoberfläche, auf der wir stehen, ist nicht ein großes Stück, sie besteht aus Tausenden von kleinen Platten. Da, wo zwei Platten sich berühren, sprechen wir von einer Verwerfungslinie, da kann es gefährlich werden. 92 Prozent der Türkei liegen auf solchen Verwerfungslinien! Das bedeutet, wir haben kaum eine Chance einem Erdbeben zu entkommen, wir müssen lernen, damit zu leben. Überall und jeden Moment kann es losgehen!"

Die 20 Viertklässler, die auf einer kleinen Tribüne vor Trainer Tarik aufgereiht sitzen, sind verstummt. Die wackelnde Küche eben war noch lustig. Aber als Tarik ihnen die möglichen Folgen eines Bebens beschreibt und an die mehr als 300.000 Opfer in Haiti vor einem Jahr erinnert, vergeht vielen das Lachen. Und genau das ist Ziel des Trainings! Denn wer bei einem Erdbeben stirbt und wer nicht, ist eben nicht ausschließlich höhere Gewalt, Schicksal oder Gottes Wille – wie viele Istanbuler schulterzuckend behaupten.

"Zunächst mal: Erdbeben sind Naturkatastrophen, die Menschen verursachen sie nicht direkt. Aber die Schäden und Opfer werden durch unsere Fehler verschlimmert. Wenn wir zum Beispiel instabile Häuser bauen, werden mehr Menschen leiden, logisch, oder? Das können wir ändern, indem wir mehr sichere Häuser bauen ..."

Tarik erklärt den Kindern, dass höhere Häuser gefährlicher sind als niedrige, dass in engen Straßen alles übereinander stürzt und Fluchtwege verschüttet werden. "Ihr", sagt Tarik, könnt noch heute eine Erdbebentasche packen".

"Warum brauchen wir die? Auch wenn das Beben zu Ende scheint, gibt es oft noch kleine Nachbeben. Wir müssen also einige Tage im Freien verbringen, bis wir sicher sind, dass es vorbei ist."

Eine gute Stunde vom Wissenschaftszentrum entfernt thront das renommierte Kandili-Observatorium auf einem Hügel im asiatischen Teil Istanbuls. Institutsleiter Mustafa Erdik ist studierter Erdbeben-Ingenieur – er gilt als eine Art "Erdbeben-Guru" in der Szene. Weit mehr als 200 Publikationen hat er zum Thema veröffentlicht, seit Jahrzehnten arbeitet er mit Forschungszentren in Europa und den USA eng zusammen.

"Im Bezug auf Erdbeben ist Istanbul einer der gefährlichsten Orte der Welt, nur San Francisco und Tokio haben ein ähnlich hohes Risiko. Aber es ist nicht möglich ein genaues Datum vorauszusagen, es könnte in 10 Sekunden passieren, oder aber auch in 50 Jahren."

Immer wieder kursieren Gerüchte in der Türkei, nach denen Wissenschaftler das genaue Datum des großen Bebens voraussagen könnten – und auch welches Stadtviertel besonders sicher ist. Mehrfach schon stellte sich im Nachhinein heraus, dass die, die hinter solchen Nachrichten standen, mit Immobilien handelten und lediglich die Preise in bestimmten Vierteln hochtreiben wollten. Erdik winkt ab. Alles, was er weiß ist, dass eine der wichtigsten Verwerfungslinien weltweit nur wenige Kilometer südlich von Istanbul verläuft. Jährlich verschieben sich die Platten dort etwa einen Fingernagel breit und bauen so immer weiter Druck auf, der sich irgendwann entladen muss.

"Das Szenario sieht so aus: Das Erdbeben selbst wird etwa eine Minute dauern. Gleichzeitig setzen Explosionen ein und Feuer brechen aus. Dann dauert es mindestens vier Minuten, bis wahrscheinlich eine Tsunami-Welle Istanbul erreicht. Die Zahl der Opfer hängt vom Tag und von der Uhrzeit ab."

Und noch etwas spielt eine Rolle: Die Sicherheit der Gebäude und Stadtviertel, in denen sich die Menschen aufhalten, wenn das Beben kommt. Besonders seit dem letzten größeren Erdbeben vor zwölf Jahren, bei dem 18.000 Menschen in der Nachbarstadt Izmit ums Leben kamen, verschärften die Istanbuler Behörden die Bauvorschriften. Endlich, könnte man sagen. Staatliche Gebäude werden nun saniert, Brücken verstärkt, 400 Schulen wurden bisher überprüft und umgebaut...

Auf der Erdbeben-Gefahrenkarte, die Erdik und sein Institut erstellen, ist ganz Istanbul in gefährliche rote, orange, gelbe und weniger gefährliche grüne und blaue Zonen eingeteilt. Die Bodenbeschaffenheit, die Nähe zur Verwerfungslinie, die Dichte der Häuser ... All diese Informationen fließen in die Berechnung mit ein. Zeytinburnu ist auf dieser Karte rot, dunkelrot! Das Viertel gehört zu den Gegenden, die die unzähligen Einwanderer aus den Dörfern Anatoliens in den vergangenen Jahrzehnten über Nacht illegal hochgezogen haben. Und Zeytinburnu ist eines der Viertel, die Erdbeben-Ingenieur Erdik lieber heute als morgen abreißen lassen würde ... Allerdings wohnen inzwischen knapp 100.000 Menschen in den verwinkelten Gassen, den kreuz und quer stehenden, oft drei- oder vierstöckigen Häusern. Sämtlichen Voraussagen zufolge wohnen sie auf einer tickenden Zeitbombe ...

"Viele der Bewohner hier sind aus dem armen Südosten der Türkei gekommen. Die haben andere Prioritäten, die wollen sich vor allem hier ein Leben aufbauen. Deren erster Gedanke ist nicht, 'was mache ich wohl, wenn ein Erdbeben kommt'"."

... sagt Erdogan Karacali. Ein kleiner, untersetzter Mann in Rollkragenpullover und Jeans, der mitten im täglichen Chaos von Zeytinburnu fast untergeht. Zielstrebig schiebt er sich durch das nie enden wollende Gedränge im Zentrum des Viertels. Rentner Karacali gehört dem freiwilligen Katastrophenschutz von Zeytinburnu an. Er und eine Gruppe von Ehrenamtlichen treffen sich regelmäßig zu Erstehilfekursen, zu Vorträgen und Trainings. Für den Ernstfall haben sie sich in kleine Hilfsteams eingeteilt, Treffpunkte und Benachrichtigungspläne abgesprochen, eine Notfallausrüstung angeschafft.

Karacali bleibt neben der Feuerwehrwache von Zeytinburnu stehen, schließt voller Stolz die Tür eines Stahlcontainers auf.

""In unserem Bezirk sind wir etwa 43 Freiwillige, in den Taschen hier hat jeder seine persönliche Ausrüstung: Helme, Blaumann, feste Schuhe, Seile, mit denen wir auch trainieren. Und dort in der Ecke ist das Equipment für das ganze Team: Generatoren, Brechmaschinen, Funkgeräte, Lampen, Schlafsäcke, Schaufeln und so weiter."


Karacali könnte noch Stunden weiter erzählen, er ist stolz auf jeden Nagel, der sich in diesem Container befindet. Denn all das ist durch engagierte Bürger von Zeytinburnu zustande gekommen. Auf den Staat vertrauen sie hier längst nicht mehr. Denn anstatt die Erdbebensicherheit zu erhöhen, lassen die Behörden es zu, dass in Zeytinburnu immer weiter Häuser hochgezogen werden – Shoppingcenter, Wohnhäuser und Bürogebäude, die statt in die Breite in die Höhe wachsen. Das Risiko für die Bewohner steigt mit jedem neuen Haus, schimpft Karacali.

"Hier sieht man es doch ... die Häuser berühren sich alle, sie stehen so dicht beieinander. Stell dir vor, du verlässt während des Erdbebens dein Haus, da stürzt es dir von überall her auf den Kopf. Die Leute können sich nirgendwo mehr sammeln, sie haben in jede Lücke ein Haus gestellt, die Straßen sind so eng, da kann man sich nirgendwo mehr sicher fühlen."

Nach dem Erdbeben 1999 im benachbarten Izmit, bei dem auch Teile Istanbuls erschüttert wurden, zelteten die Menschen aus Angst vor Nachbeben nächtelang in Parks und auf Schulhöfen, sie verlegten ihr Leben nach draußen. Im heutigen Zeytinburnu wäre das nicht mehr möglich. Wer hier lebt, hat nur noch eine Möglichkeit, um sich einigermaßen sicher zu fühlen: Verdrängen! "Die Erdbebenvorsorge muss deswegen der Staat übernehmen – ganz Zeytinburnu abreißen und neu aufbauen", meint Karacali.

Doch wie reißt man ein ganzes Viertel ab – oder gleich eine halbe Stadt, in die weiterhin Jahr für Jahr 300.000 neue Bewohner strömen? Eine japanische Expertenkommission kam jüngst zu dem Ergebnis, dass allein in Zeytinburnu mehr als 2000 Häuser sofort abgerissen werden müssten, weil sie schon bei einem leichten Beben einstürzen könnten. In ganz Istanbul – dessen Großteil wie Zeytinburnu über Nacht entstanden ist – wären es mehrere Hunderttausend Gebäude ... Sule, ebenfalls eine Bewohnerin von Zeytinburnu, will deswegen lieber gar nicht erst wissen, wie sicher oder unsicher ihr Haus eigentlich ist.

"Keine Behörde hat mein Haus bisher untersucht, wir haben auch niemanden damit beauftragt. Das ist teuer und alle Eigentümer müssten sich dafür zusammentun. Aber wir glauben sowieso, dass es nicht sicher ist. Wenn sie es überprüfen würden, würden sie uns vielleicht auffordern, sofort auszuziehen."

Aber Sule will nicht ausziehen. Auch, wenn die Finanzbeamtin es sich wohl leisten könnte. Auch Karacali, der die lauernde Gefahr nur zu gut kennt, kann Zeytinburnu nicht einfach verlassen.

"Ich bin hier geboren, meine Freunde sind hier. Auch wenn es nicht mehr so ist wie früher, es gibt hier noch Nachbarschaftsbeziehungen. Wenn ich weit weg bin, dann vermisse ich diesen Ort, ich lebe gern hier. Und die Probleme lassen sich auch nicht einfach lösen, indem wir umziehen. Die gleichen Probleme gibt es auch anderswo. Wir müssen erst versuchen, uns um den Ort zu kümmern, an dem wir leben. Und das versuchen wir hier."

Doch ob das reicht? Forscher sind sich sicher, dass das letzte Beben in Izmit das Risiko für ein weiteres, stärkeres Erdbeben in Istanbul heraufgesetzt hat. Das Erdbeben vor einem Jahr in Haiti hat viele Erinnerungen an das Leid von damals wieder hochkommen lassen. Und trotzdem bleiben die engagierten Bürger in Karacalis Katastrophenschutz-Gruppe eine Ausnahme. Die meisten Bewohner von Zeytinburnu schauen lieber weg.

Die 44-jährige Aysegül steht in ihrer blitzblanken Küche mitten in Zeytinburnu und gießt Tee in kleine, tulpenförmige Gläschen. Wenn sie an das Erdbeben vor zwölf Jahren denkt, schießen ihr die Tränen in die Augen.

"Es war furchtbar. Meine Kinder waren noch klein. Als ich gemerkt habe, dass das Haus wackelt, habe ich meine Kinder und meine Mutter stehen lassen und bin raus gerannt. Ich hatte solche Angst, dass ich nur ein paar Schritte weit gehen konnte. Ich konnte meine Kinder nicht holen, konnte einfach gar nichts mehr tun. Ich habe immer noch Angst, ich zittere noch heute, wenn ich mich daran erinnere."

Drei Monate lang konnte Aysegül nicht mehr zu Hause schlafen. Sie schlief in Parks, hinter Autos ... Als sie es nicht mehr aushielt, nahm sie ihre Kinder und zog für ein Jahr nach Mersin, im äußersten Süden der Türkei. In ihre alte Wohnung kehrte sie nie wieder zurück, aus Angst. Das Haus, in dem sie jetzt lebt, ist neu. Deswegen erscheint es ihr sicherer – ob das stimmt, weiß niemand. Doch immerhin, Aysegül ist diesmal vorbereitet, soweit das eben möglich ist. Die Wände der Wohnung sind fast kahl, auf schwere Bilderrahmen hat sie verzichtet, genauso wie auf Glasvitrinen. Wenn es losgeht, will sich die Hausfrau in die Lücke zwischen zwei Sofas hocken, für die Tage unmittelbar nach dem Beben hat sie eine Erdbebentasche bereitstehen.

Aysegül öffnet die graue Sporttasche, kramt einen dicken Strickpulli hervor, eine Taschenlampe, eine Tüte Zucker ... Ihr Gesichtsausdruck schwankt zwischen Stolz und Scham.

"Meine Schwester macht sich zum Beispiel überhaupt keine Sorgen, genauso wenig ihr Mann. Als ich damals einem Verwandten zuschrie, er soll rauslaufen, hat er nur gesagt, ich soll keinen Quatsch reden. "Wovor hast du Angst, wenn es unser Schicksal ist, werden wir sterben", hat er gesagt. Viele Leute halten mich für verrückt ... "

Während Aysegül die letzten Worte sagt, blickt sie zu Boden. Als verrückt möchte sie in der Nachbarschaft natürlich auch nicht gelten ... Die Erdbebentasche steht deswegen auch längst nicht mehr gleich neben der Eingangstür – wo sie eigentlich hingehört – sondern irgendwo im Zimmer ihrer Tochter. Dort eben, wo sie im Alltag am wenigsten stört. Und vielleicht auch dort, wo sie einen nicht ständig an das erinnert, was kommen könnte ...
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