Islam

Täter oder Opfer?

Von Ralph Gerstenberg · 04.05.2014
Geht es um die Muslimbrüder, ist nicht mehr nur von terroristischen Tätern die Rede. Zurzeit werden sie zum Opfer willkürlicher Justiz, die sie zu Hunderten aufs Schafott schicken will. Das Buch von Petra Ramsauer erklärt die Gruppe, über die wir so wenig wissen.
Den Buchumschlag ziert das Bild einer verhüllten Frau. Nur ihre Augen sind zu sehen. Darüber ein Stirnband mit einem arabischen Schriftzug.
"Es gibt keinen Gott außer Allah."
Das Foto stammt von einer Demonstration im Oktober 2013 gegen die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi. Eine Frau auf dem Cover eines Buches über die Muslimbruderschaft sei, so Petra Ramsauer, keine Irritation, sondern eine Illustration.
"Tatsächlich ist die Muslimbruderschaft kein Männerbund: in Ägypten, dem Mutterland der Gruppe, dürfte die Hälfte der einen Million Mitglieder weiblich sein, aber auch in den 79 Ländern weltweit stellen Frauen eine beträchtliche Gruppe des 'Männerbundes'. Führungsrollen in der Bewegung blieben ihnen allerdings lange vorenthalten – noch: Zu den vielen Veränderungsprozessen, die momentan synchron ablaufen, zählt auch ein neues Selbstbewusstsein der muslimischen Schwestern, die gerade jetzt im gesamten arabischen Raum eine wachsende Rolle spielen."
Die größte Überraschung: der Einfluss der Frauen
Das Kapitel "Machtschwestern" über die Frauen in der Bruderschaft, werde "zu den größten Überraschungen der Lektüre gehören", vermutet Petra Ramsauer. Darin spricht die österreichische Journalistin von "Frauenpower", einem "frischen Wind in der Schwesternschaft", die durch die Demonstrationen des "Arabischen Frühlings" ein neues Selbstbewusstsein erlangt habe. Als Vorbild diene Naglaa Ali, die Frau des ägyptischen Expräsidenten Mursi, die sich im Gegensatz zu ihrem plötzlich im Nadelstreifenanzug gewandeten Ehemann treu geblieben und weiterhin in Verschleierung aufgetreten sei. Eine Frau, die sich aus der Politik raus hält und ihrem Mann den Rücken stärkt! Das Selbstvertrauen, von dem Petra Ramsauer spricht, ist das Selbstvertrauen konservativer Musliminnen, die sich nun an der Seite der Männer in der Öffentlichkeit zeigen und, während diese im Gefängnis sitzen, den Apparat aufrechterhalten und an Einfluss gewinnen. Mit emanzipatorischen Vorstellungen des Westens habe das allerdings wenig zu tun.
"In der von Männern dominierten Volksvertretung – nur zehn Frauen waren unter den 508 Abgeordneten ab 2011 – gab es nur wenig Widerstand. Ebenso offensichtlich waren die Prioritäten der Muslimschwestern an der Macht. Der Aufbau einer neuen Infrastruktur von Beratungsstellen – für die Unterstützung von Frauen bei Erziehungsfragen, die Förderung von Mütterberatung und Anleitung zur Haushaltshilfe – war das erste Projekt der neuen Mandatarinnen. Die 'Partei für Freiheit und Gerechtigkeit' schuf binnen weniger Monate ein landesweites Netz solcher Stellen."
Im Knüpfen eines überregionalen Netzwerkes haben es die Muslimbrüder vor allem in den vielen Jahrzehnten ihres Verbots zur wahren Meisterschaft gebracht. Gegründet im Jahr 1928 durch Hassan al-Banna war es dessen erklärtes Ziel, nach der Abschaffung des Kalifats ein neues, länderübergreifendes islamisches Reich zu errichten.
Die Schattenseite der regionalen Ableger
Und wirklich gelang es der Bruderschaft, nicht nur in Ägypten, in Saudi-Arabien, im Libanon, in Syrien, Palästina oder Jordanien, sondern auch in Europa und in den USA Fuß zu fassen. So nützlich regionale Ableger auch seien, sie hätten ihre Schattenseite, weil Einflüsse aus den jeweiligen Ländern die reine Lehre verwässerten.
"Ein Teil der Gefolgsleute der Bruderschaft suchte Schutz – und lukrative Jobs – in den Golfmonarchien und kam dort mit dem Gedankengut erzkonservativer Salafisten in Kontakt. Jene, die nach Europa oder in die USA auswanderten, wurden ebenso stark vom politischen Umfeld der westlichen Demokratien geprägt. Die Kakofonie ihrer Sprecher und die schwere Fassbarkeit der eigentlichen zentralen Ideologie der Bewegung sind nicht zuletzt auch eine Folge dieser divergierenden Exilerfahrungen."
Die Muslimbruderschaft plane eine Gesellschaftsreform von unten, eine Veränderung durch aktives soziales Engagement, das zur Verbreitung der islamischen Gesinnung und letztendlich zu einem Großreich aller Muslime führen solle. Doch die offensichtliche Kluft zwischen Realpolitik und Utopie führte immer wieder zu Differenzen der ägyptischen Mutterbewegung mit den 79 Mitgliedsorganisationen.
Gute Recherche, nützlicher Überblick
Deshalb sei 1983 in einem internen Statut die Macht und Dominanz der ägyptischen Zentrale festgeschrieben worden. Immer wieder übten Regionalvertreter jedoch Kritik an dieser hierarchischen Struktur. In der Präsidentschaftszeit Mohammed Mursis verschärfte sich der Konflikt.
"Das konservative Hauptquartier in Ägypten geriet massiv unter Druck, die Aktivitäten verlagerten sich in die Zentralen im Exil. Eine neue, oft junge Generation rückt nun in den Vordergrund, die im Ausland im Zeichen der 'Anti-Coup-Bewegung' an einem neuen Image feilt. Gleichzeitig wurden in Ägypten nicht bloß die Führungskader, sondern auch viele einfache Mitglieder verhaftet."
Nach der Verhaftungswelle und dem Verbot der Organisation im Mutterland Ägypten stünde die Muslimbruderschaft nun an einer "Weggabelung" zwischen Radikalisierung und Modernisierung, diagnostiziert Petra Ramsauer. Anders als der ehemalige Muslimbruder Hamed Abdel-Samad, der die Bruderschaft als totalitär und faschistisch bezeichnet, hält sich die vierundvierzigjährige Nahostexpertin mit ihrem Urteil zurück.
In dem gut recherchierten Buch liefert sie einen facetten- und kenntnisreichen Überblick über die Bewegung von deren Ursprüngen bis in die Gegenwart, lässt Insider zu Wort kommen und setzt sich vorurteilsfrei mit den Zielen und Strategien der Muslimbrüder auseinander. So gelingen erhellende Einblicke in das Innenleben der größten Bewegung des politischen Islam.

Petra Ramsauer: Muslimbrüder. Ihre geheime Strategie. Ihr globales Netzwerk
Molden Verlag Wien, März 2014
208 Seiten, 19,99 Euro



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