Inzest zu romantischer Musik

Von Stefan Keim · 29.04.2011
Eine Frau will ihr Haus verkaufen. Viele Menschen strömen herein, der etwas schmierige Makler scheint leichtes Spiel zu haben. Doch dann tauchen zwei Nachbarn auf und enthüllen eine schaurige Tat. Das "Bluthaus" ist ein komplexes Stück über eine inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung.
Eine Frau will ihr Haus verkaufen. Viele Menschen strömen herein, der etwas schmierige Makler scheint leichtes Spiel zu haben. Doch dann tauchen zwei Nachbarn auf und enthüllen eine schaurige Tat. Die Mutter der Frau hat ihren Mann umgebracht und sich danach selbst getötet, es ist ein "Bluthaus". Eine Hysterie entsteht, die Beinahe-Käufer steigern sich in Angst und Ekel hinein. Nie wird Nadja – der Name erinnert ein wenig an Natascha Kampusch – ihr Haus verlassen. Sie entscheidet sich, dort zu bleiben, zusammen mit den Geistern ihrer Eltern, dem in sie vernarrten Vater, mit dem sie oft geschlafen hat, und ihrer rätselhaft zurückhaltenden Mutter. Die Gespenster sind von Anfang bis Ende präsent.

Die Oper "Bluthaus" ist ein starkes, komplexes Stück, in dem es keine einfachen Wahrheiten gibt. Der Text des Tiroler Dramatikers Händl Klaus gleitet durch die Charaktere hindurch, oft wechseln sich die Sprecher oder Sänger nach jedem Wort ab. Selten sagt oder singt ein Mensch einen ganzen Satz. Zehn Schauspieler und vier Sänger bilden das ungewöhnliche Ensemble. Das gibt dem Komponisten Georg Friedrich Haas riesige Möglichkeiten, zwischen Sprache und Gesang neue Formen zu entwickeln. Wobei er auch häufig auf traditionelle Strukturen zurückgreift. In Terzen beschwören Mutter und Tochter Erinnerungen an die Kindheit, überhaupt haben die Geister die schönste Musik. Was auch – und hier wird die Musik sehr provokant – für die inzestuöse Beziehung zwischen Vater und Tochter gilt. Sie sagt, dass sie "natürlich" ihren Vater liebe, und als sie Sex mit dem Makler hat, drängt sich der Verstorbene ins Bild. Sie denkt nur an ihn.

Haas arbeitet oft mit Glissandi, selbst die Töne scheinen sich einer genauen Fixierung und Zuordnung zu widersetzen. Auf der anderen Seite stehen Anleihen bei der minimal music mit ihren häufigen Wiederholungen und beim Obertongesang. Stefan Blunier, Generalmusikdirektor des koproduzierenden Theaters Bonn, dirigiert das SWR-Radio-Sinfonieorchester mit großer Klangsinnlichkeit und feinen Abstufungen. Die Sänger sind einfach grandios, allen voran Sarah Wegener als Nadja, die noch kurz vor Schluss nach einer Kräfte raubenden Partie einen extrem hohen Ton glasklar singt und auch schauspielerisch überzeugt. Otto Katzamaier zeigt als Vater einen gewaltigen Stimmumfang von der Baritonlage bis in Counterhöhen, auch Ruth Weber als Mutter und der Countertenor Daniel Gloger als Makler präsentieren sich erstklassig.

Was auch für die Schauspieler aus Bonn gilt, die in dieser Aufführung eine unglaubliche Konzentrationsleistung vollbringen. Denn sie müssen ihre Worte genau auf die Töne setzen und haben dabei in dem komplexen musikalischen Geflecht wenige Orientierungspunkte. Ihnen gelingt in Klaus Weises Inszenierung ein Gesellschaftspanoptikum, das an die bissigen Satiren von Botho Strauß erinnert. Das "Bluthaus" ist im Bühnenbild von Martin Kukulies kein gruseliges Gemäuer, sondern eine moderne, halb transparente Architektur. Hier spuken keine viktorianischen Gespenster, sondern die Geister der Gegenwart. Diese Oper hat im Gegensatz zu vielen rein formalen Experimenten des zeitgenössischen Musiktheaters etwas zu erzählen. Sie nutzt eine ausgefeilte Ästhetik, um scheinbare Sicherheiten zu erschüttern und Moralvorstellungen in Frage zu stellen. Man versteht Nadja, dass sie mit der gemeinen, selbstsüchtigen Außenwelt, mit den Kaufinteressierten, nichts zu tun haben und lieber mit ihren Geistern leben will. Im Unglück und der Einsamkeit findet sie doch so etwas wie eine Heimat. Je länger man darüber nachdenkt, um so ergreifender und trauriger ist das.