Internet und Geschichte

Ein neues Zeitalter

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl, auf dessen Rückenlehne "Internet here!" steht, neben ihm ein identischer Stuhl und ein Computerbildschirm
Internet überall: Das Netz verändert nicht nur die Politik, sondern die gesamte Lebenswelt. © dpa/picture alliance/Maximilian Schönherr
Von Stephanie Rohde · 17.06.2015
Wie gelingt eine Geschichte des Internets? Welche Quellen bezieht man ein, wie ordnet man die Informationen? Der Historiker Jens Crueger beschäftigt sich mit diesen Fragen. Stephanie Rohde hat mit ihm darüber gesprochen, mit welchen Problemen die Historiker kämpfen.
Eine E-Mail um 10:29 Uhr. Keine Antwort. Dann eine Kurznachricht über Twitter.
Uhrzeit: 9:30 Inhalt:
"Lieber Herr Crueger, hätten Sie Zeit und Lust, heute ein paar Fragen zu beantworten zur Geschichte des Internets?"
Die Antwort um 10:09:
"Liebe Frau Rohde, das mache ich sehr gerne."
So müsste die Geschichte dieses Berichts beginnen, wenn man sie chronologisch aufschreiben wollte. Und als Beleg für dieses Treffen könnten Historiker in der Zukunft die zitierten digitalen Twitternachrichten anführen. Aber warum sollte gerade diese Konversation in die digitale Geschichte eingehen? Welche Relevanz haben private Kurznachrichten als Quelle für Historiker?
Fragen wie diese stellen sich Digitalhistoriker täglich, wenn es um die Geschichte des Internets geht. Oder vielmehr: Werden sich Digitalhistoriker stellen – wie Jens Crueger:
"Was im Moment noch gar nicht läuft, ist, das Internet zu untersuchen als historisches Phänomen, da ist die Geschichtswissenschaft noch ganz am Anfang."
Bislang liegt der Fokus der Geschichtsschreibung des Internets vor allem darauf, wie sich die Technologie entwickelte, wie das militärische Projekt mit dem Namen ARPANET des amerikanischen Verteidigungsministeriums 1989 zum World Wide Web wurde, wie es sich langsam als neues Massenmedium etablierte und dann von global agierenden Konzernen kommerzialisiert wurde.
Jens Crueger will andere Historiker davon überzeugen, das Internet als historisches Phänomen in all seinen sozialen Ausprägungen zu untersuchen. Angesichts der Massen von Daten ein unvorstellbar komplexes Unterfangen.
"Also die Geschichte des Internets wäre nur möglich als so eine Globalgeschichte also als ein großer Wurf, der versucht, die vielen Einzelbeispiele irgendwie zusammenzubinden. Aber diese vielen Einzelbeispiele, finde ich, sind das, was relevant ist."
Crueger hat sich in diesem unüberschaubaren Themenpanorama der Geschichte des Internets einen Punkt herausgesucht, an dem er veranschaulichen möchte, wie die Digitalisierung den Alltag verändert hat. Er untersucht, wie die Allgegenwart des Internets das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit beeinflusst.
"Wir wollen versuchen, mit einer historisch vergleichenden Einordnung aufzuzeigen, dass, wenn sich Privatheit verändert, dass das nicht ein absoluter oder idealer Zustand ist, der verloren geht, sondern, es transformiert sich was, und das ist bislang im Laufe der Geschichte was ganz Normales gewesen, und Privatheit und Öffentlichkeit haben sich immer entlang der gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt und jetzt tun sie das entlang der Digitalisierung."
Das Internet verändert die Quellenlage
Crueger hat ein Forschungsthema - und zugleich entdeckt der Forscher, wie das Internet die Quellenlage verändert, wie sich seine Möglichkeiten, in Alltagsgeschichte einzutauchen, erweitern.
"Gleichzeitig bietet uns das Internet Möglichkeiten, in interpersonelle Kommunikation reinzuschauen, wie wir sie nie hatten und alltags- und mentalitätsgeschichtliche Fragen, also wie das Internet gerochen hat, wie es sich angefühlt hat, wie Menschen miteinander umgegangen sind bei einem privaten Thema, ich glaube, dass das eine große Chance ist, weil wir das aus den analogen Quellen nur ganz schwer rausgreifen können, da haben wir Tagebücher und Briefe, aber das war es meistens auch schon."
Neue Möglichkeiten schaffen neue Probleme: Was später einmal in die Geschichtsschreibung eingehen wird und was nicht, hängt davon ab, was heute archiviert wird und was nicht. Doch Historiker müssen erst die Frage beantworten, ob private Kommunikation beispielsweise in sozialen Netzwerken überhaupt als Quellen in Betracht kommt oder nicht.
"Wir müssen uns darüber verständigen, was für Quellengattungen wir im digitalen Raum haben. Wollen wir am Ende auch Computerviren untersuchen oder Trojaner und machen daraus dann historische Forschung oder wollen wir Social Media untersuchen oder sagen wir, das ist uns auch zu heikel. Also, was sind Quellen, die sich für historische Forschung nutzen lassen und lohnend sind, wie gehen wir mit denen methodisch kritisch um und gibt es nicht vielleicht schon Parallelen zum analogen Raum, also bei manchen Sachen ist es vielleicht doch nicht so, dass das alles neu ist, und dass wir nicht auch im analogen Raum was haben, wo wir aufsetzen können, um das im digitalen Raum weiter zu erforschen."
Während seiner Recherche sieht sich Jens Crueger mit den grundlegenden Problemen der Digitalgeschichte konfrontiert. Wenn er erst einmal definiert hat, was er als Quelle ansieht und was nicht, folgt das nächste Problem: Diese Quellen verändern sich. Kritisch wird es vor allem bei Nachrichtenportalen, deren Texte sich mitunter fast stündlich durch ein Update ändern.
"Bei sich schnell versionierenden Seiten, die ja unbestritten eine hohe Relevanz haben, ist man überhaupt nicht Herr geworden, wie man mit diesen Versionen umgeht. Und ich glaub, da ist es das Drängendste, weil vieles andere wird lange bleiben, aber diese Dinge bleiben ein paar Minuten, dann sind sie weg."
Und wenn es die eine Quelle, so wie sie früher auf Papier war, nicht mehr gibt, wird es obsolet zu definieren, was überhaupt eine Originalquelle im Internet ist und was nicht.
Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung im Internetzeitalter: Erst allmählich zeichnen sich die Problemberge ab, vor denen die Historiker stehen. Ob es jemals denkbar ist, eine Geschichte des World Wide Web zu schreiben, die mehr ist als eine Technikgeschichte: Das steht noch in den Sternen.
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