Interaktives Musiktheater "Fugit"

Publikum und Musiker gemeinsam auf der Flucht

Im Abendlicht werfen die Beine von Fußgängern, die über die London Bridge laufen, lange Schatten aufs Pflaster, aufgenommen im März 2005.
Auf "Fugit" muss man sich einlassen - und Kontrolle abgeben. © picture-alliance / dpa / Daniel Sambraus
Von Antje Grajetzky · 03.03.2016
Warme Kleidung und festes Schuhwerk empfiehlt die Straßentheatergruppe Kamchàtka für ihr interaktives Musiktheater "Fugit". Es ist jetzt in Köln uraufgeführt worden und verbindet ein Konzert mit dem aktuellen Fluchtthema. Die Teilnehmer sind begeistert.
Das Konzert beginnt im Probenraum des Zentrums für Alte Musik. Plötzlich bricht es ab.
Zwei Männer und eine Frau mit Koffern kommen und fordern uns mit ihren Blicken auf, den Raum zu verlassen. Ihre Gesten sind befehlend. Wir gelangen in einen großen Raum, in dem Menschen kleine Lager aufgeschlagen haben. Eine Decke, ein Stapel Bücher, ein Kochtopf. Im Raum bewegen sich Musiker. Sie sind elegant gekleidet, aber die Mode liegt 80 Jahre zurück. Unter ihnen ist die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann.
"Es gibt da eine Melodie, die ist das Leitmotiv des ganzen Abends, die kommt immer wieder, das ist ein katalanische Weihnachtslied, was aber ne sehr traurige Melodie hat und sehr ans Herz geht. Wir waren im Raum verteilt gestanden und haben diese Melodie, jeder in seinem Tempo, jeder in seiner Art für sich allein gespielt und doch alle zusammen als Gruppe gleichzeitig. Da hatte ich son starken Eindruck von 'Ich bin ganz allein und das einzige was uns noch verbindet ist die Melodie'. Da waren wie so Fetzen, man fängt da ein Fetzen auf und da ein Fetzen auf. Es war so ne Weite so ne Einsamkeit und gleichzeitig aber auch verbunden über diese Melodie, das hätte über Kilometer theoretisch sein können. Ich hatte da son ganz starkes Bild von, wir sind irgendwo, nirgendwo, irgendwo..."
Die Besuchergruppe wird aufgeteilt. Manche müssen sich hier von ihrer Konzertbegleitung trennen. Uns werden die Personalausweise und Handys abgenommen. Und dann geht es nach draußen. Es ist dunkel und es regnet. Wir ducken uns an Hauswänden entlang, werden in einen Bus gebracht

Immer wieder neue Situationen

Wieder nach draußen. An einem Supermarkt spielen zwei Musiker, aber wir müssen uns verstecken und weiter. Wir gelangen in einen Club und erleben ein kleines Konzert.
Auch die Musiker des Ensembles vom Zentrum Alte Musik Köln müssen sich immer auf neue Situationen einstellen. Michael Hell, der musikalische Leiter von Fugit, sieht darin künstlerisches Potential.
"Wandelkonzerte mag ich wahnsinnig gerne, weil sie sowohl das Publikum als auch unsere Musiker in immer andere Räume bringen, das bringt auch andere Klänge, das bringt andere Atmosphären, Stimmungen rein, gerade für dieses Thema Flucht ist natürlich toll, dass alle tatsächlich die Flucht miterleben dürfen und zwar nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker."
Für eine blinde Musikerin wie Gerlinde Sämann ist das ein besonders Erlebnis.
"Wir erleben ja eine Fluchtsituation, eine Notsituation, wo man emotional und auch physisch sehr nah aneinander kommt, weil man sich gegenseitig hilft, weil man sich als Gruppe braucht, damit man nicht verloren geht. Ich empfinde, dass ich da ein Teil dieses großen Körpers bin und mich da eigentlich sehr leicht mitbewegen kann, weil da ist immer eine Hand, ein Arm, ein Fuß, der einem die Richtung zeigt."
In Köln ist Fugit erstmals mit Musik zu erleben. Die Besucherin Eva Becker ist begeistert.
"Traumhaft, überwältigend, immer im richtigen Moment an den unterschiedlichsten Orten so tolle Musik."

"Kaum in Worte zu fassen"

Adrian Schvarzstein: "Wir haben mit den Musikern zusammen eine neue Fassung erarbeitet. Hier geht es darum, dass wir ganz spezielle Musik ausgesucht haben, die sich auf Flucht und Migration inhaltlich oder historisch bezieht. Es sind Komponisten dabei, die haben eine Fluchtgeschichte persönlich und die Stücke, die wir ausgesucht haben beziehen sich auf das Davonlaufen auf das Ankommen und so gibt es inhaltliche und historische Bezüge und bildet deshalb eine Einheit."
...erklärt der künstlerische Leiter Adrian Schvarzstein.
Irgendwann sind wir in einer Autowerkstatt. Unsere Begleiterin zeigt alte Fotos. Wir fragen uns innerlich, wo wohl die anderen Besucher sind, was sie erleben.
Thomas Höft: "Es geht nicht darum eine Flucht light zu inszenieren, sondern um Gefühle wach zu rufen von Solidarität, von Gemeinschaft, von Miteinander. Wie ist eigentlich ein Ausnahmezustand, was löst ein Ausnahmezustand aus mit uns und das ist so ein kleiner kreierter Ausnahmezustand, der da entsteht, wie verhalten wir uns da. Was passiert da. Das finde ich unglaublich spannend."
In einer U-Bahn Station treffen wir uns wieder. Es herrscht ausgelassene Freude, wir tanzen.
Plötzlich wird es wieder ernst. Unsere Augen werden verbunden. Wir werden geführt und auf Stühle und Bänke gesetzt, es ist warm und Musik erklingt.
Dann Stille. Nach und nach nehmen wir die Augenbinden ab. Schauspieler und Musik sind nicht mehr da.
Eva Becker: "Uff. Das ist kaum in Worte zu fassen. Ich bin noch ganz geflasht. Immer wieder überwältigt und eingeschüchtert zugleich. Immer wieder Unerwartetes erlebt, immer wieder in neue Situationen reingeworfen worden, wo ich nicht wusste, soll ich lachen oder nicht. Ich mein, ich hab mich komplett hingegeben. Ich hab mein Handy abgegeben, ich hab meinen Personalausweis abgegeben, hab mein Augenlicht irgendwann abgegeben, ich hab einfach alles mitgemacht. Für mich war's ein unglaubliches Erlebnis."
Mehr zum Thema