Integration im Oderbruch

Die neuen Kinder von Golzow

Golzow - ein kleiner Ort mit Filmgeschichte im Oderbruch in Brandenburg
Golzow - ein kleiner Ort mit Filmgeschichte © Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster
Von Ernst-Ludwig von Aster · 07.02.2016
Die DDR-Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow" machte den kleinen Ort in Brandenburg bekannt. Weil die Grundschule dort vor dem Aus stand, fuhr der Bürgermeister ins nahegelegene Flüchtlingslager – und konnte zwei syrische Familien überzeugen, nach Golzow zu ziehen.
Wer kennt sie nicht. Die DDR-Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow". Ihre Grundschule in dem brandenburgischen 850-Seelen-Ort im Oderbruch ist vermutlich die bekannteste in Deutschland. 46 Jahre lange begleitete der Filmemacher Winfried Junge eine Generation Brandenburger. Von der Einschulung 1961 bis zum Jahr 2007. Bürgermeister Frank Schütz hätte diese Schule jetzt aber schließen müssen. Es lagen zu wenige Anmeldungen vor. Stirbt die Schule, dann stirbt auch das Dorf, befürchtete der Bürgermeister. Er fuhr darum ins nahgelegene Eisenhüttenstadt, in dem sich das Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Brandenburg befindet. Der Bürgermeister konnte zwei syrische Familien überzeugen, nach Golzow zu ziehen. Mit ihren sechs Kindern kann der Unterricht jetzt weitergehen und der kleine Ort macht vor, wie Integration auch auf dem Land gelingen kann.

Siegfried Scharnow fährt mit der Schippe am Bordstein entlang, schaufelt Dreck vom Straßenrand in eine Schubkarre auf dem Gehweg. Neon gelb leuchtet die Warnweste des Gemeindearbeiters. Auf der anderen Straßenseite sammelt sein Kollege abgebrochene Zweige in einem Handkarren.
Dorf-Putz in Golzow, rund um den Festplatz, vor der Schule. Ein großes Schild informiert am Giebel des Gebäudes: "Hier gingen die Kinder aus dem Film 'Die Kinder von Golzow' zur Schule".
Siegfried Scharnow: "Dat war jetzt im Fernsehen erst, elfe halb zwölfe erst ... , habe ick ein paar Filme geguckt, wo ich frei hatte. Das geht manchmal bis um einse, ein paar schöne Filme, das war gut gemacht, ein paar sind tot, gestorben, leider ... "
Die Filmkinder aus Golzow. 1961 beginnen hier die Aufnahmen. Siegfried Scharnow wird zwei Jahre später eingeschult. Zu spät für eine Film-Karriere. Mehr als vier Jahrzehnte dauern die Dreharbeiten. Die 18 Porträts aus dem Ort im Oderbruch werden zur längsten Dokumentar-Film-Reihe der Welt.
Scharnow stützt sich auf die Schaufel, macht eine kurze Pause. Erzählt über seinen Heimatort. Golzow – 850 Einwohner, drei Kneipen, ein Bäcker, ein Dönerladen, ein Filmmuseum. Und die Schule. Der Mittelpunkt des Ortes. Der Ausgangspunkt seiner Bekanntheit. "Ort der Kinder von Golzow" steht sogar auf dem Schild am Dorfeingang.
Eigentlich sollte es keine erste Klasse mehr geben
Auf der anderen Straßenseite läutet es zur Pause. Schüler drängen auf den Hof, Stimmengewirr schallt über den Dorfplatz, dringt weit bis in die Nebenstraßen, verliert sich über den umliegenden Feldern. Scharnow blickt hinüber, schüttelt den Kopf. Eigentlich sollte es in Golzow gar keine erste Schulklasse mehr geben. Zumindest nach dem Willen des Brandenburger Bildungsministeriums..
Siegfried Scharnow: "Ruckzuck entscheiden sie das hier. Und dann ist Ruhe, .... Und so viele Kinder werden nicht mehr geboren. Früher waren hier fünf Kinder Durchschnitt. Manche haben zehne, zwölfe gehabt. Das ist vorbei, die kann doch keiner mehr ernähren, von wat denn. Auch Arbeit ist hier schlecht."
Auf einem alten Damenfahrrad strampelt Fadi über den Dorfplatz, einen Kinderanhänger im Schlepp. Er winkt Gemeindearbeiter Scharnow kurz zu, der winkt zurück. Fadi Sayed-Ahmad tritt kräftig in die Pedale, biegt links ab, auf die Hauptstraße. Ein paar hundert Meter weiter wohnt er seit ein paar Wochen mit seiner Familie. Die Kinder Kamala und Bourhan gehen in die Grundschule, der kleine Hamza in den Kindergarten.
Siegfried Scharnow: "Ja, die sieht man, die grüßen ooch, freundlich. Hallo, dat machen nicht mal unsere, die Eltern ooch, also freundlich... ich habe nichts dagegen, wenn sie sich gut benehmen, können sie bleiben, gibt´s gar nischt ... "
Kamala, Bourhan und Nour. Die neuen Kinder von Golzow. Aus Syrien. Ohne sie hätte es hier keine erste Klasse mehr gegeben.
Eingang der Grundschule in Golzow im Oderbruch in Brandenburg
Klassenkampf um jeden Schüler: die Grundschule in Golzow © Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster
In der Schule eilt Gabi Thomas durchs Erdgeschoss. Mit einem Telefon in der Hand. Sie kann nicht in ihr Büro, da arbeiten die Maler. Über den Flur toben Grundschüler, die erste Klasse hat ihren Raum hinten links. Die Klasse, die es fast nicht gegeben hätte.
Gabi Thomas: "Unsere zuständige Schulrätin meldet ihren Besuch an. Da war ich ein bisschen beunruhigt und dachte: Nanu, was ist denn jetzt, für mich war eigentlich alles klar. Ja und dann machte sie mir oder überbrachte diese schockierende Botschaft."
Gabi Thomas ist eine resolute Frau. Groß, kurze schwarze Haare, auffällige Ohrringe, offener Blick. Wenn sie über den Besuch der Schulrätin erzählt, wirkt sie nicht mehr ganz so selbstsicher:
"Es wurde ein Schreiben vom Schulamtsleiter übergeben, dass es nicht zur Einrichtung einer ersten Klasse kommen sollte ..."
Gerade mal 14 neue Schüler zählte die Schulverwaltung. Weniger als 15 Anmeldungen – keine erste Klasse. Das ist die Logik der Brandenburger Bildungsbehörden. Keine erste Klasse – kein Dorfleben, das ist die Befürchtung der Menschen vor Ort.
Gabi Thomas: "Wenn man einem Dorf die Schule nimmt, dann ist das für junge Eltern überhaupt nicht mehr attraktiv sich hier anzusiedeln. Die wirtschaftliche Situation ist schwierig, das heißt, viele jüngere Leute, die sich noch entschließen hier zu bleiben, die fahren nach auswärts arbeiten, dann ist für die von absoluter Wichtigkeit, das die Kinder bei uns zuverlässig betreut werden. In Schule und in Horten, also Kita, Schule und Hort."
Einige Erstklässler drängen vom Pausenhof ins Gebäude, Kamala und Bhouran entdecken die Direktorin, stürmen auf sie zu. Gabi Thomas breitet die Arme aus.
"Schule besser oder Wochenende besser?"
"Schule bisschen besser ... Wie geht es Dir?"
"Mir geht es gut!"
Das gab es in Golzow noch nie
Drei fremdsprachige Schüler in einer ersten Klasse, das gab es in Golzow noch nie, sagt Gabi Thomas. Und schmunzelt:
"Das ist wahrhaftig eine pädagogische Herausforderung. Bei meinen Kollegen war der Wunsch auch hier weiterzumachen so groß, dass ohne weitere sofort auch Pläne reiften, lasst uns zusammensetzen, wie können wir das Ding stemmen."
Sie organisieren einen Übersetzer, treffen die Eltern, wollen herausfinden, was sie erwarten. Oder befürchten. Was ist mit der Ernährung? Was ist mit dem Sportunterricht? Sind die Kinder traumatisiert? Fragen, die so in Golzow noch nie gestellt wurden.
Gabi Thomas: "Ich weiß, das Halima zu mir sagte: Weißt Du, lass sie Unterricht mitmachen, lass sie glücklich mit anderen Kindern zusammen sein, dann vergessen sie das. Sie hat mir auch gesagt, dass gerade Bourhan, auf der Reise schon, emotionaler reagiert hat, als die Mädels."
Grundschulkinder und die Schulleiterin singen und bewegen ihre Arme.
Bourhan (l), Kamala (3.v.l.) und Nour (5.v.r.) singen zusammen mit anderen Kindern und der Schulleiterin Gaby Thomas.© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Zwei Jahre war der siebenjährige Bourhan mit seiner Familie unterwegs. Eine Odyssee, die zweimal übers Mittelmeer führte. Was genau auf der Flucht passierte, wissen die Lehrer bis heute nicht. Seit der Einschulung aber wissen sie, dass Bourhan Angst vor Uniformen hat. Die freiwillige Feuerwehr wollte die neuen Schüler begrüßen, einen Baum pflanzen.
Gabi Thomas: "Und die kam in Uniform. Und dann machte Bourhan wirklich große Augen. Und in den Augen war Angst zu sehen. Und dann mussten wir ihm das erklären. Feuerwehr vor Ort ist was ganz Tolles, das ist unser Freund und unser Helfer, guck mal der Marco ist auch in der Feuerwehr, den kennt er. Und da haben wir auch das erstmal gemerkt, er hat also irgendwie mal schlechte Erfahrungen gehabt."
Die Kinder kommen aus dem Klassenraum. Bourhan stürmt vorweg. Seine achtjährige Schwester Kamal und ihre Freundin Nour schlendern Hand in Hand hinterher.
Fadi: "Guten Morgen, Sabat (Arabisch am Telefon), ja okay, jaja, ist okay, super!"
Am nächsten Morgen bei Familie Sayed Ahmat. Fadi steht im T-Shirt und in Boxershorts vor dem Fenster des kleinen Wohnzimmers und telefoniert. Draußen, über den Feldern des Oderbruchs steigt Früh-Nebel auf. Halima brüht arabischen Kaffee, Kamala, Bourhan und Hamza schlafen noch.
Fadi: "Komm mal her, Fino, komm mal her!"
Fino, eine junge Katze, schleicht durch die Wohnung. Ein Geschenk von der Nachbarin. Wie auch der Kratzbaum in der Ecke:
Halima kommt aus der Küche, grünsamtener Hausanzug, Hausschuhe, Kopftuch. Vorsichtig stellt sie Kaffeetassen und Gepäck auf den kleinen Couchtisch.
Fadi: "Kein Glas. Kaputt…"
Der Küchentisch ist ein Geschenk der Nachbarn
Die Glasplatte unter der Tischdecke ist kaputt, sagt Fadi entschuldigend. Der Tisch ist ein Geschenk von den Nachbarn. Halima setzt sich auf das Sofa, auch das ein Geschenk von Golzowern, greift zu Stift und Papier:
"Schreibe mit Papier - und dann lerne ich."
Sie will jeden Tag fünf neue Vokabeln lernen, das hat sich die 29-Jährige vorgenommen. Mindestens.
Halima sucht nach Worten, gestikuliert. Vor mehr als zwei Jahren flüchtet die Familie aus Syrien, aus Latakia, der Hafenstadt am Mittelmeer. Dort wo die russische Luftwaffe ihren Stützpunkt errichtet und Assad noch viele Anhänger hat. In Latakia arbeitet Fadi als Immobilienmakler, Halima hilft in einer Apotheke.
Sie verkaufen alles. Zahlen viel Geld an Schlepper und Schleuser, die versprechen sie in Sicherheit zu bringen. Nach Europa. Fadi steht auf, holt einen ramponierten Tablet-Computer aus dem Regal, feine Risse ziehen sich über das Display. Halima schüttelt den Kopf. Auf dem Tablet-Bildschirm baut sich eine Seite der zypriotischen Küstenwache auf. Sie zeigt Videoaufnahmen aus einem Militärhelikopter: Unterlegt mit dramatischer Musik.
Halima hält sich die Hand vor Augen. "Ich kann das nicht mehr sehen", sagt sie. Auf dem Video sieht man einen überladenen Fischkutter, der sich durch die raue See quält. Meterhoch schlagen Wellen gegen die Bordwand, Gischt spritzt über das Deck.
Unten am Video-Bildrand steht: 345 Personen auf einem 25 Meter-Fischerboot. Datum: 25. September 2014. Uhrzeit 7.17 Uhr
Halima blickt ins Leere. Fadi spreizt Daumen und Zeigefinger. Zoomt aufs Oberdeck des Fischtrawlers. Eng an eng drängen sich die Menschen.
Fadi: "Hamza, Halima, Bourhan, Kamala, ich..."
Zwei Kinder mit weißen Schirmmützen, ein Mann im gelben T-Shirt, eine Frau, die gerade ein Kleinkind wickelt. "Das sind wir", sagt Fadi. Vier Tage schlingert der Trawler durch schwere See, dann nimmt ein Kreuzfahrtschiff die Flüchtlinge auf. Und bringt sie nach Zypern. Das nächste Foto auf seinem Tablet: der kleine Hamza im Krankenhaus. Gerade mal ein Jahr alt, dehydriert, eine Kanüle im Arm. Eine Woche lang muss er behandelt werden.
Dicht an dicht stehen Zelte für Flüchtlinge am 12.09.2015 auf dem Gelände der Erstaufnahmestelle für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt (Brandenburg)
Zelte auf dem Gelände der Erstaufnahmestelle für Asylbewerber in Eisenhüttenstadt (Brandenburg)© pa/dpa/Pleul
Zwei Monate im Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt
Fadi legt den Tablet-Computer beiseite. Halima nimmt einen Schluck Kaffee. Hamza ist heute zweieinhalb. Die meiste Zeit seines Lebens war er auf der Flucht. Zypern, Türkei, Italien, schließlich Deutschland. Zwei Monate lebt die Familie im brandenburgischen Erstaufnahmelager, in Eisenhüttenstadt. Dann fragen Betreuer, ob sie nach Golzow ziehen wollen. "Golzow" – den Namen haben die beiden noch nie gehört. Ein Ort auf dem Land, sagen die Betreuer. Einige Bekannte sind skeptisch. Fadi tippt etwas ins arabisch-deutsche Übersetzungsprogramm. Das Wort "Rassismus" erscheint auf dem Bildschirm.
Halima schreibt das Wort "Rassismus" auf ihren Lernzettel. Da stehen schon "verheiratet" und "Feierabend" ... "Kaffee trinken" – das waren mit die ersten deutschen Wörter, die sie in Golzow lernte.
Halima lacht. Kaffee trinkt sie gerne und oft. Mit den Nachbarinnen. Und ihren neuen Freundinnen aus Golzow.
Halima: "Vielen Dank an die Golzower, die mir und meiner Familie helfen. Und uns so herzlich aufgenommen haben, vielen Dank Golzower, an alle Menschen..."
Eine Woche später, im Filmmuseum, einem langgestreckten Flachbau gleich neben der Schule. Auch das Gemeindezentrum ist hier untergebracht. Ebenso wie das Büro von Frank Schütz, dem ehrenamtlichen Bürgermeister. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Akten, obenauf liegt eine Einladung zur Filmnacht:
"Der berühmte Besuch. Und ich habe gerade gehört, der Karl-Marx Orden ist weg? Wir hatten in Golzow mal diesen Kim Il Sung, und das ist eines der Gastgeschenke."
Der Karl-Marx-Orden ist weg. 1984 überreicht von Willi Stoph, dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates. Eine Auszeichnung für die Golzower LPG Einheit, für herausragende sozialistische Leistungen im Gemüseanbau. Die Fahne von Kim-Il-Sung aber ist noch da. Auch die gab es 1984. Als der nordkoreanische Diktator in das Oderbruch kam. Und den Landwirtschaftsbetrieb besichtigte. Frank Schütz grinst. Erinnerungsstücke gibt es reichlich in Golzow. Geschichte, Filmgeschichte. Einmal im Jahr lädt das Örtchen zur langen Filmnacht. Zeigt Bilder von damals.
Frank Schütz wirft einen kurzen Blick aufs Programm, legt es zur Seite, holt einen blauen Ordner aus dem Regal. "Asyl" ist darauf mit dickem, blauem Edding geschrieben:
"Man muss sich nicht erstmal einlesen, man muss sich permanent einlesen, man muss permanent versuchen, sich auf den aktuellen Stand zu bringen. Weil wir sind ja in letzter Zeit auch so in einer Entwicklung gewesen im Asylrecht, in der Durchführung, wie was gehandhabt wird."
Schütz, Mitte 40, ein schlaksiger Mann, schwarze Lederhose, grüner Pullover, Brille. CDU-Mitglied. Das mit dem C ist mir ernst, sagt er. Zu DDR-Zeiten war er in der jungen Gemeinde, in der kirchlichen Opposition, jetzt ist er Flüchtlingshelfer und Schulretter in Personalunion. Zwei syrische Familien, das macht zehn neue Golzower. Vier Erwachsene und sechs Kinder. Für Schütz nur der Anfang:
"Wir sind gerade dabei was vorzubereiten, wir werden demnächst den nächsten Zuzug haben, zwei bis vier Familien, es sind syrische Familien, das steht fest, das haben wir so vereinbart mit dem betreuenden Verein."
Ein graumelierter Herr mit großer Brille, eine braune Lederaktentasche in der Hand, kommt ins Zimmer. Winfried Junge, über 80 Jahre, der Regisseur der Filmreihe "Kinder von Golzow":
Frank Schütz: "Die Windräder vor Golzow sind gestrichen, Winfried."
Winfried Junge: "Habt ihr geschafft? Glückwunsch."
Frank Schütz: "Und das sind so Sachen: Wenn man in Golzow ruft, dann stehen die."
"Wenn man in Golzow ruft, dann stehen die Leute". Diesen Satz sagt Frank Schütz oft. Auch wenn er sich ein wenig neidisch anhört. Seine Frau kommt aus Golzow, er aus dem Nachbarort:
"Die Golzower haben etwas Besonderes. Das ist ein besonderes, kleines Völkchen - will man nicht sagen -, das ist ein Menschenschlag, der sich gut streiten kann. Der aber wenn es darum geht, sehr schnell und intensiv zusammensteht."
Ein ganz besonderer Filmabend
Gut 50 Filmfreunde drängen sich auf dem schmalen Gang. Auch die syrischen Familien sind mit ihren Kindern gekommen. Halima schüttelt jede Hand, die ihr entgegengestreckt wird. Auch wenn sie das in Syrien als Frau nie tun würde. Fadi unterhält sich mit einem Bekannten aus der Nachbarschaft, Bourhan tobt mit dem Sohn des Bürgermeisters über den Flur.
Klaus-Dieter Lehmann: "Hier gab es mal 400 Schüler, das muss man sich mal vorstellen"
Ausstellung über die Langzeitbeobachtung "Kinder von Golzow" im brandenburgischen Golzow im Oderbruch (Landkreis Märkisch-Oderland)
Die Ausstellung über die Langzeitbeobachtung "Kinder von Golzow"© picture alliance / dpa
Klaus-Dieter Lehmann mustert die Schwarz-Weiß-Porträts der Filmkinder, die im Flur hängen. Er kennt sie alle. Jahrelang war Lehmann Bürgermeister von Golzow. Die Filmnacht heute ist für ihn mehr als eine Reise in die Vergangenheit. Es ist auch eine in die Zukunft.
Klaus-Dieter Lehmann: "Einmal der Kontakt mit den Menschen. Wilfried will ja Syrien-Filme zeigen. Ich glaube, ich habe da schon einmal etwas gesehen von, das gehört einfach mit dazu, ist einfach ein Stück Kultur im Dorf."
Doch diesmal ist es etwas Besonderes. Die Kinder von Golzow. Mit syrischer Beteiligung. Film- und Fluchtgeschichten. Klaus-Dieter Lehmann erinnert das an lange zurückliegende Zeiten:
"Ick bin 77 Jahre alt, auch Flüchtlingskind. 1945, 1946 bin in das total zerstörte Oderbruch gekommen, 1946 mit einem Schulweg von fünf Kilometern zu Fuß über die Feldmarkt auch an Leichen vorbei, an Munition vorbei, und, und, und…"
In der Nähe, bei den Seelower Höhen, tobte eine der letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Im Oderbruch siedeln sich nach Kriegsende Flüchtlinge aus Schlesien, West- und Ostpreußen an. So wie Lehmann. Zwei Jahre nach Kriegsende zerstört das Oderhochwasser einen Großteil von Golzow. Zerstörung und Verlust, Flucht, und Vertreibung – das ist hier präsenter als anderswo, sagt Lehmann. So war es auch auf der Einwohnerversammlung vor gut einem Jahr, als über die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge diskutiert wurde:
Klaus-Dieter Lehmann: "Bei dieser Versammlung bin ich aufgestanden und habe gesagt: Ich war auch Flüchtling. Da ist ein kleiner Junge gestorben, das war im Juni 45, ich weiß den Namen noch, Jürgen Paschke hieß der, der wurde eben in der Hecke beerdigt. Da gab es kein nix und wo man sich abmelden konnte. Und dann haben sie alle lange Ohren gekriegt."
Flüchtlings-Familien für Golzow, neue Kinder für die Schule – das ließ sich am Ende gut vermitteln. In dem kleinen Ort.
Klaus-Dieter Lehmann: "Ist doch super, ist doch super. Aber wie gesagt, wenn da so schwarmweise junge Männer kommen, die Frauen haben alle Angst gehabt. Und ich muss sagen: Nicht unberechtigt, ja, naja."
Als das Land Brandenburg in der einzigen Mehrzweckhalle Flüchtlinge unterbringen wollte. Alle waren dagegen. Auch Bürgermeister Schütz. Trotz aller Nächstenliebe.
Frank Schütz: "Und da haben wir uns als Golzower auch dagegen ausgesprochen und haben gesagt: Das ist nicht im Interesse des Dorfes. Weil, wir müssen bei aller Hilfsbereitschaft, die wir gerne an den Tag legen, mit der wir uns gerne auch zeigen, immer daran denken, wir müssen auch an unser dörfliches Leben denken. Da haben wir gesagt, das kann nicht sein, Das wäre auch für das Dorf eine sehr starke Belastung gewesen."
Kartoffelchips und Dominosteine für die Kinder
Die Filmfreunde drängen in den kleinen Vorführraum. Die Kinder stürzen sich auf Chips und Dominosteine, die auf Papptellern angerichtet, an der Seite stehen. Regisseur Winfried Junge greift zum Mikrofon:
"Die 35 Minuten ist 45 Jahre alt und hat die Interpretationen des Jahres 1971"
Ein 35 Minuten langer Schwarz-Weiß-Film. Regisseur Winfried Junge präsentiert seine Hommage an den jungen, aufstrebenden sozialistisch-syrischen Staat. Untersetzt mit Brecht-Zitaten. Fadi guckt und staunt.
"Das ist Damakus", sagt Fadi. "Und die Straße dort, die führt aufs Land". Filmgeschichte aus Syrien. Unzerstörte Städte, Ein friedliches Land. Als Winfried Junge diesen Film drehte, waren Fedi und Halima noch nicht geboren. Eine filmische Ode an die ostdeutsch-syrisch-sozialistische Freundschaft. Auf der Leinwand macht der Frachter "Oder" im Hafen fest, er kommt aus Rostock, entlädt Papierrollen.
"Das ist meine Stadt", sagt Fadi. Latakia. Er schüttelt den Kopf. Fragt dann leise: "Wann kommt denn ein Film aus Golzow?" Er muss noch gut eine Stunde warten. Dann taucht die Schule von Golzow doch noch auf der Leinwand auf:
"Die, von denen wir erzählen werden sind 10 Jahre hier zur Schule gegangen, einige filmten wir schon 1961."
Jetzt lächelt Fadi. Die Schule sieht fast noch so aus, wie heute. Die männlichen Schüler tragen schulterlange Haare und Schlaghosen, die Schülerinnen kurze Röcke. Mopeds der DDR-Marke Simson knattern durchs Bild. Aufnahmen von 1971. Eine halbe Stunde dauert die Zeitreise.
Ein kurzer Blick zu Halima. Die nickt. Es ist Viertel nach elf. Zeit zu gehen. Auch wenn gleich noch der Film "Jürgen von Golzow" auf dem Programm steht. Der dauert mehr als drei Stunden. Die Kinder schnappen sich schnell noch ein paar Dominosteine. Für den Heimweg.
Zwei Monate später. Der Geruch- von Kohle und Holzhöfen liegt über dem kleinen Ort im Oderbruch.
Marina Brauer: "Die sind etwas aufgekratzt."
In der Schule greift Marina Brauer zu einer kleinen Glocke, läutet für die Erstklässler die nächste Stunde ein. "Zahlen im Alltag" steht auf dem Lehrplan.
Marina Brauer: "So, wir fangen jetzt an mit den Büchern, wieviel Bücher hast Du gezählt?"
Alle Kinder melden sich. Dann zählt die ganze Klasse laut mit. Bourhan, Nour und Kamala noch ein bisschen lauter als ihre Mitschüler. Die Lehrerin holt zwei große Schaumstoffwürfel aus dem Schrank, Marina Brauer dreht die Würfel, die Kinder zählen die Augen zusammen. Wer richtig rechnet, darf ein paar Schritte nach vorne gehen
Kamala: "Und los geht's!"
Die achtjährige Kamala startet ganz außen. Man spürt ihren Ehrgeiz. Neulich hat sie ihrer Lehrerin gesagt, dass sie in die dritte Klasse wechseln möchte. Blitzschnell kommen die Ergebnisse. Marina Brauer lächelt zufrieden.
Im Büro, im Filmmuseum, holt Frank Schütz mal wieder seinen blauen Ordner mit der Aufschrift "Asyl" aus dem Regal. Der Bürgermeister wiegt den Kopf:
"Wir zählen, wir zählen jeden Tag, wir haben dieses Jahr noch mal sehr wenige Schüler."
Weitere syrische Familien sollen kommen
Eigentlich sollte schon längst eine weitere syrische Familie in Golzow wohnen, doch der Umzug verzögert sich. Aus bürokratischen Gründen.
Frank Schütz: "Sie waren schon einmal da, ich habe sie leider noch nicht persönlich kennengelernt. Das ist ein Gartenbauingenieur, der eigentlich hier ja auch gut reinpasst, in diese gärtnerische geprägte Region. Kinder auch, ein ganz kleines Kind und zwei größere."
Wieder neue Kinder. Für die Schule von Golzow. Als der Gemeinderat vor ein paar Tagen die zukünftige Wohnung der Familie besichtigte, beschwerten sich Anwohner aus dem Nachbarhaus. Sie stellten Schütz zur Rede. Und wollten wissen, warum bei ihnen keinesyrische Familie einzieht:
Frank Schütz: "Und das ist das was mich am meisten freut: Von den Leuten, die ihre Ängste, ihre Sorgen und ihre Befürchtungen geäußert haben, auch ein Entgegenkommen zu den Familien hin, Und eine deutliche Aussprachen auch: Na, wir wussten es doch damals nicht. Wo man sagt, genau so ist es. Dann ist auch jede Angst und jede Bedenkenäußerung legitim."
"Auch ich lerne noch jeden Tag dazu", sagt Schütz. Dass der sogenannte Islamische Staat von den Familien "Daesh" genannt wird. Dass dies auch ein Schimpfwort ist. Dass Händeschütteln für die meisten syrischen Frauen nicht zum Begrüßungsritual gehört. Und dass ein syrisches Essen nicht eine, sondern viele Stunden dauern kann.
Frank Schütz: "Ich habe mir einen Termin in meinen Terminkalender fest eingetragen. Und das ist der Termin der Einschulung. Und genauso halte ich es auch für den nächsten Einschulungstermin. Der Einschulungstermin, steht als fester Termin bei mir im Terminkalender."
Bei der Familie Sayed Ahmad, in der kleinen Wohnung im vierten Stock, stürmt Hamza ins Wohnzimmer, schwenkt in der einen Hand einen Dinosaurier. In der anderen ein Polizeiauto. Halima serviert arabischen Kaffee mit Kardamon, dazu mit Nüssen gefüllte Datteln. Der runde Couchtisch ist repariert. Bourhan und Kamala kommen aus der Schule, schleppen ihre Schulranzen ins Kinderzimmer.
Brandenburgs Bildungsminister Günter Baaske steht hinter fünf Erstklässlern, die winken und tanzen - unter ihnen zwei syrische Mädchen.
Brandenburgs Bildungsminister Günter Baaske zu Besuch in der Grundschule Golzow© dpa / Bernd Settnik
Lob vom Bildungsminister Brandenburgs
Stolz nickt Halima, geht zum Schrank, holt zwei Urkunden hervor. Eine für Bourhan, eine für Kamala. Für "herausragende Leistung beim Lernen der deutschen Sprache" steht da. Unterschrieben vom brandenburgischen Bildungsminister. Der hat neulich die Schule besucht. Auch Halima und Fadi können demnächst einen Deutschkurs machen, die Bewilligung ist da, fünf Stunden pro Tag dürfen sie lernen.
Neulich hat eine Freundin sie gefragt, warum sie in Golzow lebt, erzählt Halima. In so einem kleinen Ort. Auf dem Land. Hier ist es ruhig, hat Halima geantwortet. Einfach nur ruhig. Hier können wir zur Ruhe kommen.
Halima springt auf, geht ins Schlafzimmer, kommt lachend zurück, legt einen blauen Pass nach dem anderen auf den Tisch. Reise-Ausweise, ausgestellt von der Bundesrepublik Deutschland, auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention. Dazu noch fünf Plastikkarten. Aufenthaltstitel für die ganze Familie.
Fadi dreht eine beige Plastikkarte in der Hand. Sein alter syrischer Ausweis. "Hier hatte ich noch volle Haare", sagt er. Bourhan beäugt seinen neuen Pass. Hamza lässt den Dinosaurier über die Tischplatte turnen.
Kamala holt ein Buch aus dem Regal. Sie möchte jetzt noch etwas vorlesen. Langsam gleitet der Zeigefinger der Achtjährigen von Bild zu Bild:
"Ziege, Feuerwehr, Mantel, Sonnenblume, und Ente, Eiswaffel, Gitarre Regenschrim, hier Sonnenschirm, hier Regen und da Sonne."

Ernst-Ludwig von Aster: "Zum Einkaufen fahren sie manchmal nach Berlin, denn in Golzow gibt es keinen Supermarkt. Und arabische Gewürze schon gar nicht. Seit einem halben Jahr leben zwei syrische Familien mit ihren sechs Kindern in dem kleinen Ort im Oderbruch. Der Bürgermeister hat sie hergelockt: Der Grundschule drohte die Schließung wegen Schülermangel. Von der Großstadt aufs Dorf, von der Hafenstadt ins Oderbruch – kann das funktionieren, wollte ich wissen."

Ernst-Ludwig von Aster
© privat
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