Indien

Bigotte Moral und fatale Rollenbilder

Von Claudia Kramatschek · 03.12.2013
In seinem Roman "Das verbotene Glück der anderen" erzählt der indische Autor Joseph Manu eine tragische Familiengeschichte. Und wirft einen Innenblick in das kollektive Bewusstsein seines Heimatlandes.
Madras, Ende der 80er-Jahre. Noch ist die Liberalisierung Indiens eher eine vage Verheißung - noch verläuft das Leben auf dem Subkontinent in den gewohnten und geordneten Bahnen: Männer gehen morgens arbeiten, Mütter bleiben zu Hause. Nur bei den Chackos, die mit ihren Nachbarn in einem von vier identischen Häusern in der Balaji Lane wohnen, ist die Welt aus den Fugen. Denn drei Jahre zuvor hat Unni Chacko, mit 17 Jahren schon ein begnadeter Cartoonist, das Unaussprechliche getan und sich das Leben genommen.
Seit Unnis Tod studierte sein Vater Ousep immer wieder minutiös die Cartoons seines Sohns – in der Hoffnung, einen Schlüssel zu seinem Tod zu finden. Auf kuriosem Weg ist ihm nun Unnis letzter Comic in die Hände geraten, an dem dieser bis zum Tag seines Todes gearbeitet hat. Ausgerechnet diesen Comic aber kann er seiner Frau Mariamma nicht zeigen, denn sie spielt darin eine entscheidende Rolle.
Dunkler Kampf mit den Mächten des Bösen
Ousep begibt sich erneut auf die Suche nach der Wahrheit, indem er noch einmal alle trifft, mit denen Unni einst Kontakt hatte: Freunde, Bekannte, Lehrer. Was er dabei entdeckt, ist ein Sohn, der ganz anders zu sein schien als der, den Ousep selbst kannte: Der hatte zwar in all seinen Comics über die Suche nach dem Sinn des Lebens gespottet – schien aber dennoch seelisch gefangen in einem dunklen Kampf mit den Mächten des Bösen.
Manu Joseph gestaltet Ouseps Suche bewusst in Anlehnung an die literarische Form einer Suche, einer "Quest". Ousep muss reifen an dem, was er entdeckt. Im Verlauf dieser Quest lüftet der Autor behutsam sein Geheimnis aber auch die Geheimnisse der anderen Figuren: warum etwa aus Ousep, einst ein vielversprechender Schriftsteller in Kerala, ein gebrochener Mann wurde, der abends betrunken nach Hause kommt; und warum Mariamma Stimmen aus der Vergangenheit hört und ihrem Sohn jeden Tag predigt, wie Männer sich Frauen gegenüber zu benehmen haben.
Fein ineinander gewobene Motive und Szenen
Tatsächlich wirft Joseph – ohne sich je irgendeines exotisierenden Lokalkolorits zu bedienen – anhand fein ineinander gewobener Motive und Szenen einen erhellend präzisen Innenblick in das kollektive Bewusstsein des damaligen Indiens: der Druck etwa, qua Bildung aufzusteigen, der Väter per se zu Tyrannen und Söhne zu Verlierern machte; die bigotten Moralvorstellungen und fatalen Rollenbilder, die für die Frauen schon immer eine Bürde, für Männer oft ein Freibrief waren.
Oft – denn Josephs Roman handelt nicht nur vom teils bedrückenden, da aussichtslosen Kampf der Frauen gegen die Übermacht der Männer. Joseph zeigt, dass die Wahrheit komplexer ist: dass das Böse oft in Gestalt des Guten daher kommen kann – und umgekehrt. Und dass es Männer gibt, die sich – wie Unni und Ousep – auf die schwierige Suche nach einem anderen Weg als indischer Mann begeben haben. Das macht "Das verbotene Glück der anderen" zu einem so herzzerreißenden wie höchst aktuellen Roman.
Manu Joseph: Das verbotene Glück der anderen
Aus dem Englischen von Claudia Wenner
C. H. Beck Verlag, München 2013
376 Seiten, 19,95 Euro
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