Im Schatten des großen Bruders

Rezensiert von Abdul-Ahmad Rashid · 05.10.2005
Fritz Heidegger war nicht minder begabt als sein Bruder, wurde aber wegen eines Sprachfehlers von der Schule genommen. Während Martin zum weltberühmten Denker wurde, machte sich Fritz in seiner Heimat einen Namen – als gefürchteter Schreiber von Fastnachtsreden. Er ist der heimliche Held in Hans-Dieter Zimmermanns Doppelbiografie "Martin und Fritz Heidegger - Philosophie und Fastnacht".
Ein Foto, aufgenommen um 1960: Es zeigt die Brüder Martin und Fritz Heidegger, nebeneinander auf einer Parkbank sitzend. Nicht nur die Gesichtszüge offenbaren die verblüffende Ähnlichkeit zwischen den beiden alten Herren, auch die Kleidung drückt die Gleichartigkeit aus: Beide tragen eine schwarze Baskenmütze und ein helles Jackett zu einer schwarzen Hose. In der lockeren, einander zugewandten Haltung ist für den Betrachter die enge Verbundenheit zwischen den beiden Männern spürbar:

Hans Dieter Zimmermann: "Es ist erstaunlich, wie gut sie sich verstanden haben. Es gab offensichtlich nie größere Streitigkeiten zwischen ihnen, es war also ein gutes Zusammenklingen. Und ich glaube, es beruhte auch auf einer innerlichen Wahlverwandtschaft sozusagen, weil eben Fritz doch sehr gut die Philosophie seines Bruders verstehen konnte und ihm ein guter Partner war."

In seinem Doppelporträt "Martin und Fritz Heidegger - Philosophie und Fastnacht" erzählt der Berliner Literaturprofessor Hans Dieter Zimmermann von der Beziehung der beiden Brüder vor dem Hintergrund ihrer badischen Heimat und der Ereignisse der damaligen Zeit. Und es ist nicht die klassische Geschichte von dem, der auszieht, um berühmt zu werden, während sein Bruder ein Schattendasein ohne Beachtung führt.

In der badischen Kleinstadt Meßkirch erblicken die Brüder Heidegger das Licht der Welt, Martin am 26. September 1889, Fritz am 6. Februar 1894. Beide besuchen die Schule und sind Messdiener. Später sind nicht nur die bescheidenen finanziellen Verhältnisse der Eltern der Grund, dass Martin studieren darf, Fritz hingegen nicht:

Hans Dieter Zimmermann: "Er hat gestottert und wurde deshalb schon in seiner Gymnasialzeit von der Schule genommen und hat also nicht studieren können und wurde so Bankbeamter. Also, es war immer ein Überschuss an Begabungen in diesem kleinen umgrenzten Bereich, in dem er tätig war. Und dieser Überschuss kam am besten in den ‚Fastnetsreden’, also in den Karnevalsreden zum Ausdruck, die wunderbar sind, von einer Deftigkeit und auch von einer Klugheit."

"Meine lieben Narren! Fasnacht ist! Fast wollte ich irrewerden an meiner alten Überzeugung, dass ihr noch lange nicht in die Tiefen wahrer Narrheit hinabgedrungen seid. Fastnacht halten, heißt ja nichts anderes, als sich auf den Kopf stellen, damit die trübe Wasserbrühe Eurer Voreingenommenheit besser auslaufen kann."

Fritz Heidegger ist der heimliche Held des Buches. Ihm gehört die große Sympathie des Autors. Zimmermann schildert ihn als kauziges Original, vom dem heute noch Anekdoten in seiner badischen Heimatstadt erzählt werden.

"Wenn Fritz Heidegger in die Kneipe von Meßkirch kam, schmiss er seinen Mantel in den Saal, begrüßte die Wirtin mit einem ‚Hallo, du hohenzollerische Landeskuh!’, und wenn sie ihm sagte, dass die Jacke auf die Garderobe gehörte, antwortete er: ‚Kannsch jo selber ufhebe.’ Wagte jemand, ihn bei seinem Viertele zu stören und auf seinen Bruder anzusprechen, raunte Fritz: ‚Mein Bruder ist der Philosoph, ich bin der viel sooft’, also viel trinkt."

Der zitierte Philosoph jedoch vollzieht die bewusste Abkehr von der Heimat: Auf der Suche nach dem tieferen Sinn des Seins zieht sich Martin in eine Hütte in den Bergen zurück, die er "Herrgottswinkel" nennt, Fritz hingegen findet sie in der heimatlichen Umgebung, auch wenn seine intellektuellen Fähigkeiten weit darüber hinausgehen. Und während Martin sich an der Universität in seinen Reden für die Sache der Nationalsozialisten ereifert, gibt Fritz in der badischen Provinz ein Beispiel für echte Zivilcourage: Er wird nach nur einem halben Jahr aus der Partei hinausgeworfen, weil er die Hand zum Hitlergruss nicht richtig hoch bekommt.

Hans Dieter Zimmermann: "Und da ist eben der Punkt, an dem der Philosoph hinter dem Bruder Fritz zurücksteht, nämlich 1933/34 hat der Bruder Fritz, der ja noch sehr eng an diesem katholischen Milieu in Meßkirch verhaftet war, die Nationalsozialisten sehr skeptisch gesehen, und das war ja Martins Position nicht, der ja ungefähr ein Jahr gebraucht hat, bis er kapiert hat, das ist vielleicht doch nicht das, was ich mir erwartet habe."

Auch auf die komplizierte und oft verwirrende Rhetorik in der Philosophie Martin Heideggers geht Zimmermann ein. Zwar würdigt er sie mit großem Respekt, doch kommt er nicht herum, sich auch über sie zu amüsieren:

"Die Suche nach dem grundlegend Einfachen brachte Martin dagegen zu einem Tiefsinn, der ins Rätselhafte führte und zu Sätzen, die vorher nie geschrieben wurden: "Das Waltende des Wortes blitzt auf als die Bedingnis des Dings zum Ding." Ein Satz, über den nicht nur Fritz ins Stottern geraten wäre. Fritz war bisweilen freiwillig komisch, Martin bisweilen unfreiwillig."

Doch bei aller Gegensätzlichkeit verweist Zimmermann in seinem Buch immer wieder auf die enge Beziehung und den großen gegenseitigen Respekt, der zwischen beiden Brüdern herrscht. Martin Heideggers Arbeiten, so Zimmermann, seien ohne die Assistenz des Bruders nicht denkbar gewesen, die sich nicht allein darauf erstreckte, dass Fritz 30.000 Manuskriptseiten eigenhändig für den Bruder abschrieb. Er stand ihm bei jeder Gelegenheit mit Rat und Tat zur Seite, hielt gelegentlich auch mit abweichenden Meinungen nicht zurück, aber war nie so vermessen, gegen den Philosophen Stellung zu nehmen.

Fritz Heidegger: "Ich habe ihm sogar manchmal Ratschläge erteilt. Er hat manchmal in einem einzigen Satz mehrere Wahrheiten, und da habe ich gesagt, Martin, dies geht nicht, du musst es auseinanderreißen."

Dafür hat Martin ihm "dem einzigen Bruder", wie er ihn nannte, lebenslang Dankbarkeit bewahrt. Und so kam es, dass die ehemalige Heidegger-Schülerin Hannah Arendt einmal über das Verhältnis der beiden Brüder schrieb: "Der einzige Mensch, den Martin wirklich hat, ist sein Bruder."


Hans Dieter Zimmermann: Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht
C.H. Beck-Verlag, München 2005, 172 S., 17,90 Euro