"Im Islam ist es erlaubt, Schulden zu machen"

Bülent Ucar im Gespräch mit Susanne Führer · 13.01.2012
Bülent Ucar sagt, dass der Islam grundsätzlich gestatte, Schulden zu machen. Dennoch müsste hintergfragt werden, in welchem Maße man sich verschulde. Vergebung erlangt ein Schuldiger im Islam in erster Linie durch persönliche Reue, ergänzt der Professor für islamische Religionspädagogik.
Susanne Führer: Menschen werden in eine historische Schuldverstrickung hineingeboren, weil sie nämlich in eine Gesellschaft, in ein Wirtschaftssystem geboren werden, deren Strukturen die Menschen nahezu zwangsläufig zu Schuldigern werden lassen.Diese Idee der universalen Schuldverstrickung bezeichnet der Begriff Erbsünde. Das sagte gestern Nachmittag der katholische Moraltheologe Lob-Hüdepohl hier im "Radiofeuilleton". Wie hält es der Islam mit der Schuld? Darüber will ich mit Bülent Ucar sprechen. Er ist Professor für islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. Ich grüße Sie, Herr Ucar!

Bülent Ucar: Ebenso, danke sehr!

Führer: Kennt der Islam auch diese Idee, diese christliche Idee, dass der Mensch zwangsläufig schuldig wird, diese Idee der Erbsünde also?

Ucar: Nein. Die Vorstellung von einer Erbsünde ist dem Islam grundsätzlich fremd. Der Islam geht davon aus, dass jeder Mensch eine natürliche positive Veranlagung hat, allerdings zugleich auch mit dem Drang, Negatives tun zu können. Also er kann seine Natur im Positiven wie auch im Negativen entwickeln, und für diese persönliche Leistung trägt er dann auch entsprechend die Verantwortung. Also er ist quasi, wenn Sie so wollen, rein von Sünden geboren und auf diese Welt gekommen, und verantwortlich ist er nur für sein persönliches Tun.

Führer: Welche Arten von Schuld gibt es denn überhaupt im Islam?

Ucar: Na ja, es gibt grundsätzlich die persönliche individuelle Schuld - sie sind nur für das verantwortlich, was sie selbst auch tun oder auch entsprechend unterlassen. Sie haben beispielsweise keine direkte Verantwortung über das Tun oder Lassen von anderen, von Dritten, es sei denn, sie haben da ein besonderes Verhältnis, ein Obhutsverhältnis beispielsweise: Eltern gegenüber ihren Kindern, oder wenn sie jemand sind, der eine Verantwortung im Bereich der Wirtschaft, der Politik hat, dann tragen sie natürlich auch Verantwortung für ihre Mitarbeiter.

Führer: Und inwiefern kann man schuldig werden? Also man wird schuldig anderen Menschen gegenüber - kann man sich auch Gott gegenüber versündigen?

Ucar: Ja, natürlich, auch auf dieser Ebene muss man unterscheiden. Es gibt Rechte im Islam von Gott als derjenige quasi, der die Natur, die Menschen, alles das, was da ist, geschaffen hat, im Grunde genommen die Rechte des Schöpfers gegenüber den Geschöpfen und an dieser Stelle konkret gegenüber den Menschen, und zugleich gibt es Rechte von Tieren, Rechte von Mitmenschen gegenüber dem Menschen. Und all diese Rechte sind dann entsprechend wie jeder Person entsprechend auch zu berücksichtigen in diesem Gesamtkonzept.

Führer: Ich hatte ja den Katholiken Andreas Lob-Hüdepohl zitiert, wonach der Mensch im Christentum nahezu zwangsläufig schuldig wird, weil die Verhältnisse so sind, um es mal so ein bisschen salopp zu formulieren. Er sagte aber auch, auf der anderen Seite ist der Christ auch von dieser Erbsünde, in die er hineingeboren wird, befreit, nämlich durch die unbedingte Zusage Gottes, unabhängig von dem Schuldigsein des Menschen angenommen zu werden. Ist der Gott des Islam auch ein verzeihender, ein vergebender Gott?

Ucar: Ja, im Westen gibt es die irrige Vorstellung, dass man meint, die Gottesvorstellung im Islam bei den Muslimen sei eben halt so, dass man sagt, Gott ist derjenige, der zornig ist, Gott ist derjenige, der rächt, der zugleich aber auch vor allem der Gerechte ist. Das ist die eine Seite der Medaille. Zu der anderen Seite gehört natürlich auch die Vorstellung von der Barmherzigkeit, von der Treue Gottes gegenüber den Menschen und andersrum. Und dies bedeutet an der Stelle, dass hier eine Balance in der Beziehung zwischen dem/den Menschen und Gott betrachtet wird.

Führer: Aber wie erlangt dann derjenige, der Schuld auf sich geladen hat, Vergebung?

Ucar: In erster Linie zum einen durch Reue, durch persönliche individuelle Reue. Vor allem bezieht sich diese Reue im Verhältnis zu Gott, weil ich hab ja eingangs erwähnt, dass der Mensch Rechte hat im Bezug auf Gott, im Bezug auf seine Mitmenschen, und diese müssen dann entsprechend berücksichtigt werden. Wenn der Mensch quasi die Rechte Gottes verletzt, dann ist er in erster Linie zur persönlichen individuellen Reue verpflichtet, wenn er jedoch Schuld auf sich geladen hat, indem er die Rechte von Mitmenschen verletzt, dann reicht diese persönliche individuelle Reue zunächst einmal nicht aus, sondern er muss darüber hinaus auch versuchen, die Rechte, die er verletzt hat, entsprechend auszugleichen. Also er muss beispielsweise, wenn er eine Million von seinem Nachbarn mitgehen lässt und eine Woche später der Auffassung ist sozusagen, ich hab das jetzt bereut, das alleine wird ja nicht ausreichen. Er muss zugleich auch die Bereitschaft haben und das auch konkret tun, diese eine Million seinem Nachbarn auszuhändigen.

Führer: Also er muss wiedergutmachen.

Ucar: Jawohl.

Führer: Herr Ucar, ist denn Schuld überhaupt ein zentraler Begriff im Islam? Also die Rabbinerin Elisa Klapheck, die wir zu Beginn dieser Reihe hatten, meint ja, Christen seien geradezu fixiert auf Schuld und Sühne. Wie ist das im Islam?

Ucar: Das mag ich an dieser Stelle nicht beurteilen, aber die Frage der Schuld ist natürlich auch im Islam wichtig, weil wenn Sie frei sind, haben Sie entsprechend auch eine Verantwortung für Ihr tun, und wenn Sie frei sind, dann neigen Sie zugleich nicht nur zum Positiven, auch zum Negativen als Mensch. Und in dem Moment, wo Sie negative Handlungen durchführen, tragen Sie eine Schuld. Aber der Mensch besteht nicht nur sozusagen aus Schuld und aus negativem Handeln und aus Sünden, er hat durchaus auch positive Seiten, und man muss dieses quasi auch wiederum im Gesamtspiel mit betrachten.

Führer: Schuld und Schulden im Islam, das Thema im Gespräch mit Bülent Ucar, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. Herr Ucar, Sie haben gerade schon diese eine Million erwähnt, deswegen kommen wir jetzt mal von einer moralischen Schuld jetzt mal hin zu den finanziellen Schulden: Ist denn das erlaubt, darf man sich verschulden?

Ucar: Grundsätzlich ja. Also im Islam ist es durchaus erlaubt, Schulden zu machen, nur muss man sich auch die Frage an dieser Stelle gefallen lassen, inwiefern sind Schulden erlaubt. In unserer Gesellschaft beispielsweise leben die allermeisten Menschen über ihre Verhältnisse, und da ist die Frage zu stellen, ja, grundsätzlich ist es erlaubt, Schulden zu machen, aber ist es auch in Ordnung, in diesem Maß sich zu verschulden, also finanziell. Diese Frage ist sicherlich umstritten zwischen den islamischen Theologen.

Führer: Wer Schulden macht, im Allgemeinen sich Geld leiht, zahlt Zinsen dafür, im Christentum galt ja auch mal ein Zinsverbot, das wurde dann in der Neuzeit aufgehoben, jetzt sind nur noch die Wucherzinsen verboten. Ich habe mal gelernt, dass die Scharia auch nach wie vor Zinsen verbietet, aber was bedeutet das für die Praxis?

Ucar: Ja, grundsätzlich gibt es sozusagen unterschiedliche Wahrnehmungen und Prägungen von den Begriffen im Islam, auch der Begriff Zins beispielsweise. Die allermeisten islamischen Theologen würde jede Art von Zins verbieten und dieses auch entsprechend für eine Sünde erachten. Aber Sie haben gesagt, im Christentum war das ursprünglich auch verboten, und mittlerweile meint man damit nur Wucherzinsen. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch im Islam. Es gibt zahlreiche islamische Theologen, die sagen, mit Zinsverbot ist nur der Wucherzins gemeint, aber nicht der reguläre Zinssatz, den beispielsweise Banken und Sparkassen anbieten. Beides ist gleichermaßen in der Theologie vorhanden. Ich persönlich bin der Meinung, dass ich sage, Zinsverbote so oder so ausgelegt, Faktum ist, dass unser Wirtschaftssystem, das wir heute haben, letztlich auf dem Zinswesen beruht, in Deutschland, in Europa und auch in den meisten islamisch geprägten Ländern.

Führer: Also auf der Idee, dass Geld eben auch, also das Kapital arbeitet und Geld erwirtschaftet. Wenn wir jetzt mal auf die aktuelle Eurokrise gucken, dann haben wir da ja also wieder einmal, was man schon vorher eigentlich wusste, erfahren, dass diejenigen, die ohnehin nichts haben, höhere Zinsen zahlen müssen als die, die was haben, als die Wohlhabenden - also nehmen wir Griechenland, nehmen wir Portugal, nehmen wir Spanien. Sind das dann Wucherzinsen, weil dann andere Staaten - Deutschland zum Beispiel - ja daran verdienen?

Ucar: Es ist natürlich eine sehr prekäre Frage, in Deutschland in den Medien werden die ja sehr heftigst über die südeuropäischen Staaten, insbesondere Griechenland, kritisiert, weil sie eben halt so viel Schulden gemacht haben zulasten der Nordeuropäer, der Mitteleuropäer, aber Faktum ist, dass momentan diejenigen Länder, die ihre Staatsanleihen sehr gut platzieren konnten in den letzten Tagen und Wochen, durchaus von der Griechenlandkrise, von der Eurokrise profitieren. Und letztlich muss man sich auch in diesem Zusammenhang die Frage gefallen lassen, diese Länder, die momentan verschuldet sind, werden immer mehr verschuldet über die Eurokrise und Länder wie Deutschland verdienen quasi mit daran. Ob das nun als Wucherzins zu bewerten ist oder normaler Zins, die Frage erübrigt sich an der Stelle meines Erachtens. Faktum ist, wir müssen uns grundsätzlich die Frage stellen, die Wirtschaftsordnung, die wir momentan in Europa, in Deutschland haben, die letztlich auch sehr stark auf dem Zinswesen beruht, wie effektiv ist sie, wie langfristig angelegt ist sie - und an dieser Stelle habe ich erhebliche persönliche Zweifel.

Führer: Aber wie sähe denn eine islamische Lösung der Eurokrise aus?

Ucar: Ja, das ist natürlich auch eine schwierige Frage. Viele sagen ja, es sei illusionär zu meinen, dass man ein Kapitalsystem, ein Finanzsystem aufbauen könne, ohne auf Zinsen zurückgreifen zu können. Es mag so oder so sein, ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, ich kann das nicht wirklich beurteilen, aber gleichzeitig gehen die islamischen Theologen, die islamischen Wirtschaftsexperten davon aus, dass sie sagen, es gibt letztlich ja auch so etwas wie eine Beteiligung an den Geschäftsmodellen, also letztlich so was wie ein Aktienmodell. Jemand, der einer anderen Person Geld ausleiht, partizipiert an dem Profit dessen, derjenige, der diese Geschäfte auch durchführt, und zwar im Negativen wie im Positiven. Letztlich bietet man also quasi zum Bankensystem eine Alternative im Bereich des Aktiensystems an. Ob das ein überzeugendes Modell ist, da bin ich auch überfragt.

Führer: Sagt Bülent Ucar. Er ist Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. Danke fürs Gespräch, Herr Ucar! Und ich bitte unsere Hörer um Vergebung für die schlechte Telefonleitung. Es war ein ganz normales Telefon, aber offensichtlich ist die Leitung schon etwas älter.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

<li_1651035>Thema 2012-01-12 "Allen Menschen zur Solidarität verpflichtet" - Theologe spricht sich für einen Schuldenerlass auch auf EU-Ebene aus</li_1651035>
Mehr zum Thema