Im falschen Zug

Von Andrea Gerk · 17.11.2012
In der Novelle "Bahnwärter Thiel" beschreibt Gerhart Hauptmann die Geschichte eines liebevollen, aber unfähigen Vaters, der seinen Sohn verliert. In seinem Bühenstück lässt Regisseur Armin Petras den Assoziationen freien Lauf - ein stimmiges Gesamtkonzept fehlt jedoch.
Gerhart Hauptmanns 1888 erschienene Novelle "Bahnwärter Thiel" erzählt die tragische Geschichte eines einfachen und frommen Mannes, der sich nach dem Tod seiner geliebten Frau Minna wieder verheiratet, weil er hofft, dass sein Sohn Tobias damit gut versorgt sei. Doch diese zweite Frau Lene misshandelt das Kind, und Thiel, der ihrer physischen Anziehung verfällt und eine ihn selbst anwidernde Hörigkeit erlebt, schützt seinen Sohn nicht. Stattdessen zieht er sich zurück in ein einsames Bahnwärterhaus, und ergeht sich in einer Fantasiewelt, die dem Gedenken Minnas gewidmet ist. Als Lene ihn dort im Wald besucht, versäumt sie es, auf Tobias zu achten, der Junge wird von einem Zug erfasst und stirbt. Thiel bricht daraufhin zusammen, tötet schließlich seine Frau und das zweite Kind und landet im Irrenhaus.

Armin Petras und sein Bühnenbildner Olaf Altmann beginnen die Geschichte als Schattenspiel: Auf der Bühne, die von einem hellen Holzportal eingerahmt ist, über das sich eine großflächige Leinwand erstreckt, entsteht in großen, schwarzen Buchstaben der Name MINNA, dazu rieseln Blätter, Zweige, schließlich Erde und zwei Eheringe. Thiel und Minna treten im Schattenspiel aufeinander zu, vermählen sich. Ein poetisches und pointiertes Vorspiel, das ein Thema der Novelle, die Schatten der Vergangenheit, sehr ästhetisch veranschaulicht.

Dann tritt Peter Kurth als Erzähler auf die Bühne, löst sich aus dem Prosatext und ein dialogisches Spiel beginnt. Regine Zimmermann spielt seine zweite Frau Lene, die im Text als derbe, üppige Magd beschrieben wird, während sie hier eine ebenso zarte wie drahtig-harte Person ist. Im gleichen Kostüm - bäuerliche Röcke und dazu ein eng anliegendes Männerunterhemd, aus dem der BH hervorblitzt - tritt die Tänzerin Diane Gemsch hinzu, verdoppelt zum Teil die Handlung oder ergänzt sie durch tänzerische, expressive Bewegungsstudien, einmal tanzen sogar beide Frauen wie in einer Tabledance-Bar an der Stange.

Auch die beiden Schauspieler bewegen sich immer wieder aus den Dialogen heraus, vor allem die ungeheure erotische Anziehung, in der Thiel gefangen ist, wird derart tänzerisch darzustellen versucht. All das spielt sich stets ganz vorne an der Bühne ab, die Erzählpassagen werden frontal ins Publikum gesprochen und gespielt, während auf der Leinwand Filmszenen laufen, Naturbilder, Spielfilmausschnitte, spielende Kinder, Lichter der Großstadt.

Einzelne Szenen gelingen in diesem assoziativen Reigen durchaus, etwa, wenn der bullige und zugleich verletzlich wirkende Bahnwärter Thiel von Peter Kurth eine Szene mit seinem kleinen Sohn als Vogelstimmenkonzert am Mikrofonständer spielt. Ganz zart, dann wieder lustig erklärt er dem Kind, was den Neuntöter oder den Eichelhäher auszeichnet, imitiert deren Stimmen und fordert den Jungen dazwischen ganz liebevoll auf, seinen Schlafanzug anzuziehen und sich ins Bett zu liegen. Mit sparsamen Worten und präzise gesetzten Mitteln gelingt es Peter Kurth, die ganze Zärtlichkeit und Liebe dieses letztlich unfähigen Vaters zum Schillern zu bringen. Besonders mit diesem herausragenden Schauspieler entstehen immer wieder derartig gelungene Momentaufnahmen.

Doch die vielen Einzelszenen fügen sich zu keinem stimmigen Gesamtkonzept, sondern brechen auseinander zu einem letztlich unverständlichen Reigen, der mal expressiv, mal naturalistisch, mal postdramatisch, dann geradezu tiefenpsychologisch gerät. Aber auch diese Disparatheit erweist sich nicht als schlüssiges Kompositionsprinzip, sodass man am Ende vor allem ratlos ist oder, wie es eine Kollegin beim Hinausgehen formuliert hat: "'Bahnwärter Thiel?' - Ich versteh nur Bahnhof ..."