"Ich kritisiere alle, die diesen Drehtüreffekt nutzen"

Marco Bülow im Gespräch mit Christopher Ricke · 12.03.2010
Marco Bülow macht die Lobbyisten-Tätigkeit von Politikern für die Wahlmüdigkeit vieler Bürger mitverantwortlich. Deshalb sei eine zunehmende Politikerverdrossenheit nicht verwunderlich, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete. Er fordert mehr Transparenz über die Verflechtungen.
Christopher Ricke: Sind die Politiker, ist das Volk in der Hand von Lobbyisten? Bestimmt gar nicht die Regierung, das Parlament, sondern die Wirtschaft und die Banken? Diese Fragen werden immer wieder diskutiert, dabei steht es doch eigentlich ganz klar im Artikel 20 des Grundgesetzes: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Und das wird von Abgeordneten vertreten, nicht durch Lobbyisten. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow sucht jetzt die Provokation, er hat ein Buch geschrieben, das jetzt herauskommt: "Wir Abnicker - über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter". Herr Bülow, verstehe ich Sie richtig, sind sie überflüssig und sind auch die schönen Diäten und Pauschalen, die vorzügliche Altersvorsorgung, all das, was der Steuerzahler für die Abgeordneten leistet, an sich ganz umsonst?

Marco Bülow: Ja, ganz so ist es Gott sei Dank noch nicht, aber ich erkenne, dass die Lobbyisten, aber auch andere Umstände, also die Regierung viel stärker Einfluss ausübt, und dass die eigentliche Entscheidungsmitte, das Parlament, also die gewählten Abgeordneten an Einfluss verlieren. Wir haben diesen Einfluss noch, nur wir nutzen ihn nicht so aus, wie wir eigentlich sollten, das ist, glaube ich, das Problem.

Ricke: Tatsache ist ja, dass auch Politik Beratung braucht, dass die Welt zu komplex ist, als dass jeder Abgeordnete jedes Detail verstehen kann. Was ist falsch daran, wenn man sich Rat holt bei Lobbyisten?

Bülow: Rat holen ist gut, aber wenn man das einseitig, vor allen Dingen bei den Lobbyisten tut, die von großen Wirtschaftsunternehmen geschickt werden, die da hinterher sind, ihren Rat loszuwerden, dann habe ich damit ein Problem. Und dass man den Rat der kleinen Bürgerinitiativen, die nicht die großen Kapazitäten haben und mit zig Leuten in Berlin sitzen, der einfachen Bürgerinnen und Bürger, für die man keine Zeit mehr hat, weil man sich zu häufig mit Lobbyisten trifft, und auch die Wissenschaft eher nur am Rande eine Rolle spielt, dann habe ich damit ein Problem, weil es doch klar ist, dass Beratern und Geschickten von Unternehmensverbänden es in erster Linie um den Profit ihres Unternehmens geht – was völlig legitim ist –, aber das sollten wir immer berücksichtigen. Und ich habe das Gefühl, dass dieser Einfluss sehr stark und sehr groß geworden ist, und die andere Beratung, die wir nötig haben, dafür umso kleiner und umso schwächer geworden ist.

Ricke: Aber gerade bei den Unternehmensverbänden gibt es doch ein gutes Beispiel, es gibt doch Politiker, die sich ganz ihrer Aufgabe verschreiben. Nehmen wir zum Beispiel den Umweltminister Norbert Röttgen, der ist vor zwei Jahren eben nicht Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Industrie geworden, sondern Politiker geblieben. Brauchen wir mehr von der Sorte?

Bülow: Ja, natürlich brauchen wir das auch, aber dieser Drehtüreffekt ist auch eine Schwierigkeit, dass es Politiker und Lobbyisten gibt, die immer wieder wechseln zwischen Politik und Lobbyismus, und natürlich alte Kontakte, alte Verbindungen dabei auch Einfluss ausüben, und teilweise das zum Problem wird und die Unabhängigkeit von Politikern damit ein bisschen auf dem Spiel steht.

Aber ich freue mich natürlich über jeden, der sich dann für die Politik entscheidet, meistens ist es ja andersrum, meistens wechseln ja hochrangige Politiker in die Wirtschaft. Und diese Angebote kriegen sie natürlich nur, weil sie vorher vielleicht doch schon den einen oder anderen Gefallen, oder zumindest wirtschaftsfreundlichen Kurs gefahren haben.

Ricke: Gilt das auch für zwei Namen aus Ihrer eigenen Partei? Also, ich schaue mir mal Bundeskanzler, den ehemaligen, Gerhard Schröder an, der längst Lobbyist ist, oder näher noch in Ihrer politischen Heimat, in Nordrhein-Westfalen bei der SPD, der ehemalige Ministerpräsident und Bundesminister Wolfgang Clement.

Bülow: Ja, ich kritisiere alle, die diesen Drehtüreffekt nutzen, aus allen Parteien. Gott sei Dank betreiben wir es noch nicht ganz so stark, wie bei den anderen, aber auch da bleibt meine Kritik nicht fern. Also ich glaube, dass es eine Karenzzeit geben müsste, nachdem man Politik gemacht hat – gerade in hochrangigen Positionen –, darf man nicht von heute auf morgen in hochrangige Positionen der Wirtschaft wechseln. Weil, es bleibt immer ein negativer Beigeschmack bestehen, selbst dann, wenn sich die Erwartung nicht erfüllt, dass dann wirklich vorher schon die Unternehmen gefüttert werden, oder direkten Einfluss ausüben, auch dann bleibt trotzdem der Geruch haften.

Ricke: Ist das jetzt die Meinung eines einzelnen Bundestagsabgeordneten, die Haltung von Marco Bülow, oder gibt es da einen breiten Unmut im Parlament?

Bülow: Also es ist natürlich in erster Linie meine subjektive Meinung, aber ich glaube schon, dass auch eine Reihe von meinen Kolleginnen und Kollegen merken, dass die Macht der Lobbyisten stärker geworden ist, und dass wir was dagegen unternehmen müssen. Und übrigens, in anderen Ländern wird ja was unternommen, und ich frage mich, warum das nicht in Deutschland passiert.

Es gibt beispielsweise selbst in den USA klare Lobbyregister, wo sich alle – übrigens nicht nur die direkten Unternehmenslobbyisten –, sondern auch die PR-Agenturen, Anwaltskanzleien, die nämlich auch nichts anderes machen als Lobbyismus, dann wenigstens melden und transparent bescheinigen müssen, dass sie eben zu diesem Lobbyistenbereich gehören. Und die das nicht tun, müssen mit empfindlichen Strafen rechnen.

Aber noch nicht mal diese Transparenz haben wir im Augenblick eingerichtet, also da gibt es eine Menge Handlungsspielraum, den wir wirklich einsetzen müssen. Also die Mehrheit, anscheinend, hat es noch nicht begriffen, im Parlament. Aber ich weiß, dass es immer kritische und immer mehr Stimmen gibt, die zumindest mehr Transparenz einfordern, aber auch für eine Eindämmung sich aussprechen werden.

Ricke: Sehen Sie in diesen Verflechtungen von Wirtschaft und Politik auch einen Grund für die Politikmüdigkeit?

Bülow: Ja, natürlich, weil wenn das Parlament an Einfluss verliert, dann ist es natürlich schwierig, der Bevölkerung klarzumachen, dass wir die Probleme schon in den Griff kriegen, wenn wir selber fast keinen Zugriff mehr darauf haben. Oder den Zugriff, den wir haben, nicht mehr nutzen, und warum soll ich dann noch erwarten, dass die Leute sowohl in der Partei für einen Werbung machen, also Wahlkampf betreiben, und dann auf der anderen Seite auch die anderen mich wählen, wenn sie dann eh sehen, dass ihr Abgeordneter eigentlich im Parlament nicht mehr viel ausrichten kann. Und natürlich führt das zu Wahlmüdigkeit, ich würde nicht sagen zur Politikverdrossenheit, sondern eher zu Politikerverdrossenheit.

Ricke: Nur legen Sie das Buch vor, mit dem provokanten Titel "Wir Abnicker - über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter". Glauben Sie, dass Sie damit etwas bewegen werden?

Bülow: Ich hoffe zumindest, dass ich damit Anstoß errege, um dann auch Anstöße geben zu können, dass einige Leute vielleicht ins Nachdenken kommen, und dass eine Diskussion ins Rollen kommt. Und ich lege sowohl dar, wo unsere Einflussbereiche immer noch da sind, wo wir sie auch nutzen. Ich lege auch dar, welche Unterstützung wir Politiker brauchen, um was zu verändern, aber vor allen Dingen möchte ich eben sagen, dass wir als Abgeordnete, ja, vorangehen müssen, um die Änderungen herbeizuführen.