"Ich kann mich wunderbar konzentrieren"

Wolfgang Rihm im Gespräch mit Britta Bürger · 22.03.2012
Der Komponist Wolfgang Rihm ist gerade sechzig geworden: Zwei Festivals, das "Europäische" in Karlsruhe und die "MaerzMusik" in Berlin, widmen sich in diesen Tagen seinem Werk. Diese Ehre versuche er, locker zu nehmen - er sieht "darin ein vorübergehendes Phänomen".
Britta Bürger: Wenn man es zulassen kann, dann gehen einem die Kompositionen von Wolfgang Rihm unter die Haut, schließlich versucht der Komponist das gesamte Spektrum menschlicher Empfindung ohne Weichzeichner, ohne Schalldämpfer auszuloten. Subjektiv und emotional, eruptiv und expressiv, komplex und fragmentarisch. Immer verbunden mit der radikalen Forderung nach künstlerischer Freiheit.

Rund um seinen 60. Geburtstag, den er am 13. März gefeiert hat, wird Rihms Schaffen derzeit in Karlsruhe und Berlin umfassend gewürdigt. Ich konnte ihn gestern beim Berliner Festival MaerzMusik in einer Probenpause treffen und habe ihn zunächst gefragt, was ihm da in dieser Probe gerade durch den Kopf gegangen ist?

Wolfgang Rihm: Erstens wie komme ich rechtzeitig zur Probe, zweitens wann beginnt unser Gespräch. Also, ganz logistische Dinge, die das Leben eines Komponisten manchmal überlagern. Und jetzt sitze ich hier.

Bürger: Und während der Probe, inwieweit sind Sie dann noch wirklich gefragt, beteiligt? Stellen die Interpreten Ihnen konkrete Fragen während so einer Probe?

Rihm: Gelegentlich schon. Von der einfachen Frage "Na, wie ist es" bis zur Frage "Sollen wir in Takt soundso viel ein bisschen schneller oder langsamer werden". Alle Fragen sind da, alle Fragen sind erlaubt. Selten werden alle gestellt, aber es ist möglich.

Bürger: Sie haben schon als Elfjähriger angefangen zu komponieren und in den vergangenen 50 Jahren wohl an die 400 Werke mittlerweile komponiert, gelten als der produktivste, zugleich auch meistgespielte deutsche Komponist unserer Zeit. Wie durchorganisiert ist Ihr Leben?

Rihm: Eigentlich gar nicht. Weil, dann könnte ich nicht arbeiten, wenn es durchorganisiert wäre. Ich bin nur jemand, der sich offensichtlich aus dem Moment heraus schnell und tief weg ... , heute sagt man -beamen kann in der Arbeit. Das heißt, ich kann mich wunderbar konzentrieren.

Und wenn ich dann mal drin bin, dann ist es auch gut. Aber der Hauptkampf geht eben darum, dieses Drinsein in irgendeiner Form zu erreichen. Also, ich habe es ja schon angedeutet: Logistik beherrscht das alles, aber trotzdem, ich versuche, ein weiterhin relativ chaotisches Dasein führen zu dürfen.

Bürger: Ihr Name ist ja mit der künstlerischen Freiheit, mit diesem Credo auch verbunden, das wäre ja ein Widerspruch auch, künstlerische Freiheit und ein durchorganisiertes Leben.

Rihm: Na ja, sehen Sie, die Widersprüche fangen ja da an: Allein wenn Sie das, was ich irgendwann mal aus Versehen in einem Gespräch künstlerische Freiheit genannt habe und was seitdem wie ein Markenzeichen mich umschwirrt, wenn man das realisieren möchte - und um Realisieren geht es vor allem bei Kunst, also nicht um das Behaupten, sondern um das Realisieren -, dann ist es aus mit der Freiheit. Dann verbringt man Tage damit, am Schreibtisch zu sitzen und draußen scheint die Sonne. Und man würde gern rausgehen, aber das geht eben nicht. Und so ist alles in einer Choreografie des Triebverzichts aufgehoben und eingelassen. Das ist gar nicht so frei. Aber trotzdem ist in diesen Momenten, die Arbeit um Schreiben, ist es möglich, sich sehr frei zu empfinden.

Bürger: Ist der Schreibtisch, von dem Sie gerade gesprochen haben, auch Ihr Denkort?

Rihm: Nein. Sämtliche Orte, ob still oder belebt, dienen dem Denken. Schließlich trage ich das Hirn mit mir.

Bürger: Das heißt, in dem Moment, in dem Sie beginnen zu schreiben, ist, anders als beim Schriftsteller, in dem sich das im Prozess des Schreibens entwickelt, haben Sie das Werk eigentlich schon vorausgedacht?

Rihm: Nein. Das Schreiben und der Prozess des Schreibens und das darin Entwickelte, das sind genau so wichtig wie, ich glaube, bei jedem, der etwas zu Papier bringt oder der etwas gestalthaft erfindet, ist der Prozess enorm wichtig. Und den kann man ja nicht im ... oder ich kann es zumindest nicht im Voraus planen. Wozu auch? Um dann tautologisch eben zu wiederholen ... dann ist man ja schon getan. Nein, nein, der Prozess ist enorm wichtig, weil aus den möglichen Fehlentwicklungen enorm viel Anregung rausspringen kann.

Bürger: Und das können Sie am Schreibtisch beurteilen, oder doch erst, wenn Sie das Werk dann hören?

Rihm: Na, ich kann schon sehr viel am Schreibtisch beurteilen und da gehe ich auch manchmal ans Klavier und probiere es aus und dann stelle ich mir das so vor und dann überlege ich mir, ob das wohl hinhaut, na ja, probieren wir's mal ... Eigentlich, ich muss nicht sehr viel ändern, wenn es dann geprobt wird und erklingt.

Bürger: Sie haben sich in ihren Werken immer wieder mit der griechischen Mythologie befasst, mit Literaten, mit Philosophen von Paul Celan über Artaud, Nietzsche, Heiner Müller. Sie selbst sind auch ein Notizbuchschreiber, auch jetzt auf dem Tisch liegt ein kleines Notizbuch ...

Rihm: ... ach, das sind Konzentrationsmittel. Ich mache Punkte, sehen Sie, ich mache Striche. Das sind keine Noten, aber es sind irgendwelche Scheingrafismen. Ich kann mich dadurch besser konzentrieren und manche schreibe ich ein Wort und ... mache ich gerade in der Probe ...

Bürger: ... erzählen Sie mir ein paar Worte, die Sie aufgeschrieben haben!

Rihm: In der Probe steht hier: "Leichtigkeit".

Bürger: Haben Sie die empfunden eben?

Rihm: Nein, die habe ich erwünscht. Oder "Anfang leiser, dunkler", sehen Sie.

Bürger: Wovon hängt es ab, für welche Instrumente Sie sich jeweils entscheiden? Fordert ein bestimmtes Thema dieses oder jenes Instrument, oder ist es eher die Überlegung, dass Sie für einen bestimmten Interpreten wie jetzt zum Beispiel für den Klarinettisten Jörg Widmann etwas schaffen wollen?

Rihm: Ja, das ist klar. Wenn man für einen Künstler, der ein Instrument spielt, was schreibt, dann ist dessen Instrument der Zielort der Erfindung. Manchmal sind es Farben, die aus einer gewissen Vorstellung in die Realität drängen. Zum Beispiel habe ich vor, in nächster Zeit etwas für die Berliner Philharmoniker zu machen, und da werde ich auch aus gewissen Holzbläserfarben die ganze Komposition entwickeln. Also, solche Grundsatzentscheidungen sind dann da. Manchmal ist es aber einfach das Orchester oder es ist ein Ensemble oder es ist ein Mensch.

Bürger: War die Beschäftigung mit der Melodie, mit der menschlichen Stimme für Sie schon immer so wichtig wie heute?

Rihm: Ja. Also, das Komponieren für menschliche Stimme halte ich überhaupt für das Allerwichtigste bei der Musik. Also die Möglichkeit, die menschliche Stimme in ihren ganzen Facetten und ihrer ganzen Vielfalt ... Ich scheue jetzt vor dem Begriff "zum Klingen zu bringen", denn die Stimme bringt ja die Musik zum Klingen. Aber ich muss als Komponist die Stimme ... Ja, ich muss ihr einen Ort geben, ich muss ihr ein Stockwerk in dem Haus freiräumen, dass sie sich entfalten kann, um von dort aus dieses je nachdem gestaltete Stück zu durchdringen.

Stimme ist etwas ganz Wichtiges für mich, eigentlich seit frühester Zeit. Ich habe in einem Chor mitgesungen, das war ein großer Konzertchor, ein Laienchor, der aber sehr große Aufgaben übernahm. Haben wir die ganze große Chorliteratur mit Orchester auch immer, der Klassik und der Romantik bis in die neuere Zeit, also bis Penderecki, "Lukaspassion", von Bach, "Matthäuspassion", so was. Also, das war in den 60er-Jahren, wissen Sie, 60er-, 70er-Jahren, Mitte, Ende meiner Schulzeit.

Und da habe ich enorm viel gelernt über die ganze Funktionsweise von Musik, wie man das auch notieren muss. Ich habe ja auch, wenn das Orchester dabei war, das Orchester immer gesehen, wie es agiert.

Bürger: Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die zeitgenössische Musik in den heutigen Konzertprogrammen selbstverständlich dazugehört. Es gibt unendlich viele Festivals mittlerweile für Neue Musik ein großes interessiertes Publikum. Das war ja, als Sie angefangen haben, noch ganz anders, da haben sich Orchestermitglieder geweigert, neue Musik, unbekannte Musik zu spielen ...

Rihm: Ja, das müssen Sie sich auch so vorstellen: Ich habe angefangen von Orchestern gespielt zu werden, das war Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Also jetzt, wenn Sie sagen, 1972. Da saßen Orchesterleute, die 1910 geboren waren zum Teil, die waren da gerade so 60, so alt wie ich jetzt. Für die war das natürlich ... Da war schon Richard Strauss das Letzte. Also ... das muss man auch einfach verstehen, das braucht ja auch seine Zeit alles.

Bürger: Haben Sie das als Kampf empfunden damals, dass ...

Rihm: Ich habe es als Widerstand empfunden, mit dem ich nicht gerechnet habe. Aber jetzt, als ich angefangen habe, saßen halt da noch Leute drin im Orchester, die das alles ziemlich komisch fanden. Natürlich! Aber sie haben es dennoch gespielt! Aber schauen Sie mal, das war das Südwestfunk-Orchester! Und ich habe neulich vor dem Orchester gesagt, da bin ich geboren, in diesem Orchester bin ich geboren!

Und die haben das ganz toll gespielt, auch die, die es nicht gern gespielt haben. Die haben nämlich dann, weil sie Profis sind, das sehr gut gespielt, 1974 zum ersten Mal in Donaueschingen. Und so konnte überhaupt klar werden, da ist ein junger Komponist, der macht was ... ja, was macht er denn eigentlich?

Aha, das ist ja interessant oder das ist uninteressant, aber es war in einer Weise präsentiert, die professionell ist. Und wir Komponisten sind auf Interpreten angewiesen. Wir brauchen Interpreten.

Bürger: Sie brauchen Interpreten und Sie brauchen ein Publikum. Was wünschen Sie sich vom ...

Rihm: ... zunächst brauchen wir mal Interpreten. Das Publikum, ob man das am Anfang schon braucht, weiß ich gar nicht. Das muss sich ja auch erst herstellen. Ein Publikum, was a priori da ist, das ist manchmal gar nicht das beste Publikum. Das beste Publikum ist das, das entsteht durch zufällige Begegnung.

Wenn jemand mal was gehört hat und da springt ein Funke über und er sagt, ach, beim nächsten Mal, das interessiert mich jetzt, da möchte ich noch mal mehr hören. Aber so dieses eingerichtete Publikum, das bereits eingenordete Publikum, was da sitzt und schon das erwartet, was es zu erwarten hat, das ist nicht immer gut für die Sache. Also, ich meine damit, ein Spezialistenpublikum ist nicht immer gut für zum Beispiel zeitgenössische Musik.

Gehen Sie nach Donaueschingen, da können Sie auch manchmal Aufführungen hören, die sehr gut sind, aber wo das Publikum weghört, weil es einfach ein Spezialistenpublikum ist und sich nicht mitnehmen lässt. Und dann zufällig irgendwie sind dann sogenannte "Laien", Anführungszeichen, dabei, und bei denen fällt der Groschen und die sorgen dann dafür, dass der Stein Kreise zieht, wenn er ins Wasser fällt.

Bürger: Sie pendeln zwischen Berlin und Ihrer Geburtsstadt Karlsruhe, wo Sie ja seit 1985 auch eine Professur haben für Komposition. Und in beiden Städten werden Sie derzeit groß gefeiert, in Karlsruhe bei den Europäischen Kulturtagen und in Berlin im Rahmen des Festivals MaerzMusik. In Karlsruhe wird mit Ihrem Konterfei in der ganzen Stadt geworben, selbst auf Bussen. Wie ist das für Sie, mit 60 schon so groß gefeiert zu werden?

Rihm: Tja ... Es ist schön und anstrengend zugleich. Es ist ... Einerseits entspringt es ja auch einer Neigung, einer Zuneigung, andererseits ist es natürlich dann für eine gewisse Zeit aus mit der privaten Existenz. Ich versuche, das ganz eigentlich locker zu nehmen. Also jetzt, ich sehe darin ein vorübergehendes Phänomen. Und wenn ich dann wieder an meinem Schreibtisch bin, dann spielt das ja alles dann auch keine Rolle mehr, dann ist es wichtig, was als Nächstes aufs Papier kann.

Bürger: Wolfgang Rihm, ich danke Ihnen fürs Gespräch, entlasse Sie zurück in die Probe. Und was machen Sie da jetzt mit dem Begriff "Leichtigkeit"?

Rihm: Den wende ich jetzt nicht an, weil jetzt ein anderes Stück kommt, wo der gar nichts verloren hat!

Bürger: Und wir lassen unser Gespräch ausklingen mit einem Ausschnitt aus Wolfgang Rihms "7 Passions-Texten", die am Sonnabend in der Berliner Sophienkirche vom RIAS-Kammerchor aufgeführt werden. Daraus "Recessit pastor noster".


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:
MaerzMusik 2012 feiert zwei Jahrhundertkünstler -
Das Festival der Berliner Festspiele vom 17. bis 25. März
Mehr zum Thema