"Ich habe überlegt, wer ich bin, und da kam nichts"

Von Katja Bigalke · 17.08.2009
Es passierte an einem Tag im Jahr 2005. Jonathan Overfeld sitzt auf einer Bank in Hamburgs Planten-un-Blomen-Park und weiß weder wo noch wer er ist.
"Ich kann das nicht erklären, ich hab alles real gesehen: Häuser, Blumen und ich hab überlegt und da kam nicht, wer bin ich, da kam nichts."

Er sieht in einem Café ein paar Menschen auf der Terrasse, setzt sich neben sie. Sie trinken Capuccino. Overfeld möchte auch einen, weiß aber nicht wie das Getränk mit der dichten Milchhaube heißt: Bei der Kellnerin bestellt er dann einfach "dasselbe" und weist auf den Nachbartisch

"Und dann hab ich das probiert und dann dachte ich Kaffee. Und dann fingen die an zu rauchen: Zigaretten. Und ich wusste nicht, was das war, aber ich dachte, das will ich auch – das war die Sucht - und dann brachte die Marlboro. Es schmeckte widerlich, hat aber gut getan. Diese alltäglichen Geschichten kamen relativ schnell wieder - erst ein sinnlicher Bezug durch Schmecken und Fühlen und so."

"Das da" nennt Jonathan Overfeld heute diese erste Phase nach dem Moment auf der Bank, in der er sich die Umwelt zumindest begrifflich wieder zu eigen macht. Das Allgemeinwissen kommt schnell wieder: Er weiß intuitiv, dass man an einer roten Ampel stehen bleibt, er kennt den Namen des Bundeskanzlers. Aber er erinnert sich nicht, ob ER damit zusammenhängt. Ihm fällt nichts ein aus seinem eigenen Leben. Schließlich landet er im Krankenhaus, wird untersucht auf Drogen und Alkohol. Aber nichts. Und dann, nach drei Tagen kommt ganz unerwartet ein erstes Bruchstück aus seiner Kindheit zurück:

"Da steht ein Klavier und mir kam diese Kiste vertraulich vor, da waren Emotionen da, so heftig, dass ich die Kiste aufmachen musste und dann hab ich die Tasten gehen und dann hab ich gespielt und je länger ich spiele, kommen die Erinnerungen. Die erste war in Emden, ich war sechs Jahre alt und da war ein Konzert und mein Klavierlehrer hatte mich dahin geschickt, um die Kinder zu begleiten. Die Erinnerung war die erste und dann wurde ich von einer Familie mitgenommen, die mich fördern wollte, und das war dann der erste sexuelle Missbrauch."

Durch das Klavierspielen gewinnt Overfeld Zugang zu seiner Kindheit. Einer furchtbaren Kindheit. Immer wieder wird er mit Szenen von Gewalt und Missbrauch konfrontiert. Bis ins kleinste Detail erscheinen ihm die Bilder brutaler Pflegeeltern und grausamer Priester, denen der Junge anvertraut wurde. Nie kommt eine schöne Erinnerung. Und auch nie eine Erinnerung an die Zeit nach seiner Jugend. Heute fehlen dem 58-Jährigen noch immer 40 Jahre seines Lebens. Er hat sie recherchiert und rekonstruiert. Er weiß heute, dass er offenbar nie über seine Kindheit gesprochen, sie verdrängt hat. Er hat erfahren, dass er mal als Reiseleiter gearbeitet hat und 15 Jahre mit einer Frau zusammen war. Aber weder kann er die Sprachen sprechen, die er als Reiseleiter offenbar beherrschte, noch erinnert er sich an seine lange Liebe.