"Ich bin Christ und sehe mich als Revolutionär"

Von Klaus Hart · 22.11.2008
Der 64-jährige brasilianische Dominikanermönch Frei Betto aus der Megacity Sao Paulo ist der bekannteste Befreiungstheologe des Tropenlandes. Er gilt als ein unermüdlicher Berater der Sozialbewegungen und von katholischen Pastoralen. Seine Bücher werden weltweit in Millionenauflage verlegt.
Morgens gegen sechs in São Paulos Stadtteil Perdizes. Frei Betto, mittelgroß, schlank, sportlich, trabt durch die noch leeren, stillen Gassen am Dominikanerkloster, macht sich fit für den Tag. Nach der Meditation, dem Gebet mit seinen Ordensbrüdern in der Klosterkapelle, setzt er sich an den Computer.

Frei Betto: "Ich schreibe regelrecht zwanghaft – das ist wohl genetisch bedingt. Bei meinem Vater, meiner Mutter das Gleiche. Wir hatten eine Bibliothek zu Hause, in jedem Zimmer lagen Bücher herum. Ich habe bisher 53 veröffentlicht, jedes Jahr kommen ein, zwei neue hinzu. So wird das wohl bis an mein Lebensende weitergehen. Denn das ist mein bevorzugter Kontakt mit der Welt.

Doch ich reise auch viel ins Ausland, um Vorträge zu halten, werde am meisten nach Italien und Spanien eingeladen. Aber ich muß einfach jeden Tag auch raus in diese Stadt, ich schwimme und wandere gerne, habe meinen Lieblingsstrand, gehe zu politischen Versammlungen."

Frei Betto ist Bestsellerautor, von seinen Büchern wurden bereits über vier Millionen Stück verkauft. Ist er deshalb Millionär?

"An meinen Büchern verdiene ich viel weniger, als es scheint. Mein weltweit meistverkauftes Buch handelt von Fidel Castro und seiner Beziehung zur Religion. Doch da fast alle Ausgaben eine politische Konzession der kubanischen Regierung waren, hat es nur wenig Geld eingebracht. Als Ordensbruder habe ich mich für ein Leben in Einfachheit entschieden – meine Einnahmen fließen deshalb größtenteils in die Gemeinschaft der Dominikaner und in Seelsorgeprojekte."

Inspiriert von Edgar Allan Poe, schreibt Frei Betto sogar einen Krimi, "Hotel Brasil" - und sein Roman "Batismo de Sangue", Bluttaufe, ist auch als Film sehr erfolgreich, schildert die Gräuel der Militärdiktatur am Beispiel der Dominikaner Sao Paulos. Frei Betto wird vier Jahre eingekerkert, weil er mit einem Stadtguerillaführer eng zusammenarbeitet, vielen Verfolgten das Leben rettet, ihnen zur Flucht ins Ausland verhilft.

"Ich wurde psychisch, nicht physisch gefoltert, wie meine Dominikanerbrüder. Der gravierendste Fall war Frei Tito, der als Folge der Torturen den Verstand verlor, 1984 in einem französischen Kloster mit 28 Jahren Selbstmord beging."

Kein einziger Diktatur-Folterknecht wurde bestraft, die Folter in Brasilien wird weiter alltäglich angewandt - das prangert Frei Betto immer wieder öffentlich an.

"Folter ist laut Gesetz ein Verbrechen, wird aber auf den Polizeiwachen praktiziert, um Geständnisse zu erzwingen. Elektroschocks, den Kopf in den Wassereimer, die Haut verbrennen, Messer unter die Fingernägel treiben – das sind einige der Methoden. Oft bekennen sich daher Menschen zu Taten, die sie gar nicht begangen haben. Von den Normen der Zivilisation sind wir noch weit entfernt. Unter der jetzigen Regierung hat sich die soziale Ungleichheit nicht verringert, sondern erhöht. Die Kirche muss weiter ihre prophetische Mission erfüllen, im Namen der Armen die Menschenrechte verteidigen, die Regierung kritisieren."

Frei Betto nennt es seine Christenpflicht, weiterzukämpfen und die sozialen Bewegungen zu stärken. Dort ist er zweifellos der bekannteste, meistgefragte Vordenker der Befreiungstheologie; dort sieht sie gut verankert.

"In Lateinamerika ist die Befreiungstheologie weiter lebendig, produktiv und aktiv, wird von den katholischen Basisgemeinden, aber auch der Arbeiter-,Indianer - und Migrantenseelsorge getragen, ist im kirchlichen Leben stark präsent. Viele Menschen atmen regelrecht Befreiungstheologie, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie widmet sich heute nicht nur sozialen Problemen, sondern auch der Ökologie, der Astrophysik – ich selbst habe in einem Buch den Dialog zwischen christlichem Glauben und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, vor allem der Quantenphysik, beschrieben.

Seit der Sozialismus zusammenbrach, die Berliner Mauer fiel und auch die Revolution in Nicaragua einen Rückschritt erlebte, ist die Befreiungstheologie nicht länger eine Besorgnis der US-Regierungen – können wir also mit mehr Ruhe weiterarbeiten, werden wir weniger verfolgt, leiden wir weniger Druck."


Frei Betto geißelt die Vereinigten Staaten, steht zu Kuba und Fidel Castro, will einen christlichen Sozialismus – und hat dennoch anders als Leonardo Boff nie Probleme mit dem Vatikan.

"Wirklich noch nie - ich wurde nie verwarnt, nie zensiert, hatte nie Ärger mit Rom. Im Gegenteil – als ich während der Diktatur mit den Dominikanern eingekerkert war, hat uns Papst Paul der Sechste ein Kreuz aus Olivenholz geschickt – gefertigt in Jerusalem! Und ich weiß, dass Johannes Paul der Zweite mein Buch über die Gespräche mit Fidel Castro gelesen hat – und gut fand. Nein, ich kann mich über Rom nicht beklagen."

Auf die Frage, ob es irgendein Echo vom neuen Papst gebe, antwortet Frei Betto mit Ironie:

"Nein - ich denke, er weiß nicht einmal, dass ich existiere. Da gibt es keine Reaktion, nichts."

Waldemar Rossi führt die Arbeiterseelsorge Sao Paulos; er ist in den Sozialbewegungen und in den Gewerkschaften eine geradezu legendäre Figur. Sein Verhältnis zu Frei Betto ist nicht frei von Kritik:

"Ich finde gut, was Frei Betto schreibt, bin aber oft nicht seiner Meinung, streite seit Jahren mit ihm. Frei Betto ist widersprüchlich, hat in der Lula-Regierung gearbeitet, lange Zeit Lula verteidigt, obwohl der ihn doch nur täuschte. Seit Frei Betto die Regierung verließ, ist er wieder kämpferischer, konsequenter geworden - und sieht, was er von Anfang an hätte sehen müssen. Lula und die anderen an der Regierungsspitze sind Verräter, Kanaillen."

Noch nennt Frei Betto den Staatschef seinen Freund - kritisiert dessen Regierungspolitik aber deutlich als neoliberal.

"Der Neoliberalismus hasst Kultur. Deshalb zwingt er Unterhaltung auf, will eine sinnentleerte, vom Fernsehen hypnotisierte Menschheit, will Konsumierer, Individualisten, keine Staatsbürger.

Man schaue sich nur die Fernsehprogramme an. Unser Bewusstsein, unseren Geist nähren sie nicht. Der kulturelle Nutzen ist sehr gering. Dies ist das Projekt des Neoliberalismus."