Hungern nach Liebe bis zum Tod

27.02.2007
Warum wird Essen für manche Menschen zum Feindbild Nummer Eins und treibt sie in einen Teufelskreis, der nicht selten tödlich endet? Annika Fercher war von der Magersucht betroffen und bietet einen Einblick in die Welt der gestörten Körperwahrnehmung. Zugleich gibt sie Angehörigen eine Orientierung, wie man Essgestörten helfen kann.
An ihrem absoluten Tiefpunkt angelangt, wiegt Annika Fechner nur noch 31 Kilogramm, soviel wie ein zehnjähriges Kind. Und das bei einer Körpergröße von 1 Meter 63. Sie kann kaum noch laufen, torkelt umher, Treppensteigen fällt ihr schwer. Zudem ist ihr ständig übel. Schlafen kann sie nur noch auf dem Bauch. Und dann auch nur, wenn sie ein Kissen unter die Beckenknochen legt, die sich scharfkantig und spitz durch die pergamentartige Haut nach außen bohren. Überhaupt ist die Haut wund und empfindlich. Jede Berührung verursacht Schmerzen. Am Rücken - entlang der Wirbelsäule - reiht sich blauer Fleck neben blauem Fleck. Sie friert fürchterlich. Irgendwann fällt auch das Atmen schwer. "Ich sterbe", denkt sie in den Momenten, wo ihr Bewusstsein noch funktioniert. "So fühlt sich sterben an."

Und wenn ihre Eltern, wie schon unzählige Male davor, sie nicht ins Krankenhaus gebracht hätten, dann wäre Annika Fechner wahrscheinlich tatsächlich gestorben. An Organ - oder bildlich gesprochen - an Körperversagen. Ein Körper, den die damals 18-Jährige als wunderschön ansieht. Als ausgefeiltes Objekt ihrer harten Arbeit, mit der sie knapp 16-jährig begann, weil ihre beste Freundin dünner und somit schöner war als sie.

Denn ja, magersüchtig und/oder bulimisch zu sein, bedeutet aufopferungsvolle Selbstdisziplin – zumindest aus Sich der Betroffenen. Dem Hunger Einhalt gebieten, ihm die Stirn bieten, braucht Kraft. Eine Tomate in ihre Kleinstteile zu zerlegen, um sie dann eine Stunde lang genüsslich zu zerkauen, das ist doch was! Oder per Muskelkraft das Gegessene einfach wieder rausdrücken zu können, ohne den Finger in den Hals stecken zu müssen, wer schafft das schon? Und wer macht schon freiwillig drei Stunden Sport am Tag? Und das nicht nur draußen, sondern sogar - falls man nicht rauskommt - in einem winzigen Zimmerchen.

Annika Fechners "Hungrige Zeiten" erzählen eindringlich davon, dass Essgestörte Menschen eine eigene Sicht auf das Leben entwickeln. Eine Sicht, in der Gewichtskontrolle zur alles bestimmenden Norm wird. Haben sie abgenommen, ist es ein guter Tag. "Weniger als 34 Kilo! Ich bin so stolz auf mich, auf meine Leistung! So gut wie noch nie!" Schnellt die Waage nach oben, ist es ein schlechter Tag: "Wut schwappt in mir hoch, heiß, würgend. Ich Schwein, ich unfähiges, fettes Schwein!" Um letzteres so wenig wie möglich zu erleben, ist jedes Mittel recht: Kotzen, Abführmittel, Hungern, Sport bis zum Umfallen.

Das sind schreckliche Grenzerfahrungen. Später wird Annika Fechner schreien, weinen und wimmern, als die Magensonde in ihren Körper geschoben wird. Zwangsernährt muss sie erleben, wie Eltern, Ärzte und Psychologen vor der Krankheit in die Knie gehen. Denn logisch kann man bei diesen Krankheiten nicht mehr argumentieren. Wer nicht wirklich spezialisiert ist, der greift auf Zwang zurück. Heilen kann man eine Essstörung mit Zwang aber nicht! Mit zuweilen komischer Respektlosigkeit schildert Annika Fechner ihre Erfahrungen mit guten und weniger guten Ärzten und Therapeuten, die dem körperlichen Verfall mitunter tatenlos zusehen. Auch davon erzählt dieses aufrüttelnde Buch, das man stellenweise gerne aus der Hand legen möchte, weil die darin geschilderte persönliche Hölle so furchtbar ist. Man wird Zeuge eines - scheinbar grundlosen - Selbstmordes auf Raten. Erlebt die Hilf- und Sprachlosigkeit der Eltern, die Wut der kleinen Schwester und die Sehnsucht der großen kranken nach Liebe und Annerkennung. Kurz gesagt: Hier wird nichts verschwiegen und genau das macht "Hungrige Zeiten" so lesenswert.

Acht Jahre nach Beginn ihrer Erkrankung und nach zahlreichen Klinikaufenthalten hat Annika Fechner ihr Buch geschrieben. Vollständig geheilt ist sie immer noch nicht, wird sie vielleicht auch nie. Entstanden ist dennoch der eindrucksvolle Bericht einer "heimlichen" Krankheit, an der Schätzungen zufolge in Deutschland circa fünf Prozent aller Frauen zwischen 14 und 35 Jahren und zunehmend auch immer mehr junge Männer leiden. Und genau deshalb braucht es immer wieder Bücher, die das Thema behandeln, die das Schweigen durchbrechen. Dabei erzählt Annika Fechner Buchs nicht nur von den grausamen Tiefen einer mitunter tödlich verlaufenden Krankheit, sondern es gibt auch Angehörigen eine Orientierung, wie man Essgestörten helfen kann, selbst wenn es hoffnungslos scheint. Denn "Hungrige Zeiten" steht nicht nur für den Hunger nach Essen, sondern auch für den Hunger nach Liebe.

Rezensensiert von Kim Kindermann

Annika Fechner, Hungrige Zeiten, Überleben mit Magersucht und Bulimie
C.H. Beck Verlag, München 2007
303 Seiten, 12,90 Euro
Das britische Model Twiggy im Jahr 1966
Vorbild? Das magersüchtige britische Model Twiggy (1966)© AP Archiv