Hörbuch "Die Quellen sprechen"

Geschichte wird lebendig in ihrem Grauen

Ausstellung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen: Die Fotos zeigen weibliche Offiziere – Kriegsgefangene aus dem Warschauer Aufstand. Die Fotos wurden im Oktober 1944 im Lager Fallingbostel, Niedersachsen aufgenommen.
Ausstellung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen: Die Fotos zeigen weibliche Offiziere – Kriegsgefangene aus dem Warschauer Aufstand. Die Fotos wurden im Oktober 1944 im Lager Fallingbostel, Niedersachsen aufgenommen. © dpa / picture alliance / Peter Steffen
Von Hartwig Tegeler · 19.05.2015
Ein monumentales Audio-Projekt ist dem Institut für Zeitgeschichte mit "Die Quellen sprechen" gelungen, das bis 2018 fortgeführt werden soll. Die Eindringlichkeit der erzählten jüdischen Schicksale zwischen 1933 und 1945 hat eine enorme Wucht.
"Man hat gar nicht gewusst, dass das ein Problem war, jüdisch zu sein damals. Nun komme ich aus einer sehr liberalen Familie. Wir waren also typische deutsche Assimilierte."
13 Stunden, 54 Minuten auf 14 CDs mit ausführlichem Booklet.
"Wir haben einfach dazu gehört. Haben wir geglaubt. Bis man gemerkt hat, dass man nicht dazu gehört."
Allein diese erste Staffel der Höredition "Die Quellen sprechen" bietet eine gigantische Fülle an Material aus der Zeit von 1933 bis 1945, der Zeit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Und es wird noch weitergehen, bis 2018. Für das nächste Jahr plant der HörVerlag wieder eine CD-Box mit Staffel 2.
"Bergen-Belsen, das war ein Moratorium."
Eine Fülle des Materials, das nicht zu bewältigen ist. Nein, natürlich nicht.
"In Belsen gab es nichts. Da gab es nichts mehr. Das gab es kein Essen, kein Wasser, keine Medikamente. Nichts."
Aber wenn wir eintauchen, hörend, dann ist der erste Eindruck sofort prägend, dass Geschichte lebendig wird in ihrem Grauen, aber auch in ihrer Komplexität, weil uns nichts ablenkt, keine Musikteppich, keine Geräusche, wir nur allein sind mit der Stimme derjenigen, die lesen oder erzählen. Wie hier Anita Lasker Wallfisch. Cellistin im Mädchenorchester in Auschwitz, dann Bergen-Belsen.
"Nein, es war nicht schlimmer, es war einfach ganz anders. In Auschwitz hat man auf die raffinierteste Weise, sauber die Menschen umgebracht. In Belsen ist man einfach krepiert. Das ist der Unterschied. Auschwitz war ein organisiertes Ermorden. In Auschwitz haben die das gar nicht gebraucht."
Immer geht es um das Konkrete, darum, dem abstrakten Charakter der historischen Ereignisse das Abstrakte zu nehmen. Zahlen erinnern ist das Eine, das konkrete menschliche Schicksal wahrzunehmen das andere, das, was dieser Höredition von vorneherein gelingt.
Überlebende des Holocaust erzählen
Denn das Hören von Dokumenten oder Zeitzeugenberichten zwingt uns in eine Form von Konzentration, mehr noch: sie konfrontiert uns mit einer immer wieder erstaunlichen Wucht von Eindringlichkeit. Zu hören sind in dieser Staffel 1 die Schauspieler Matthias Brandt …
"Dokument 3-12."
… und Bibiana Beglau …
"Dokument 3-9."
… sowie Überlebende des Holocaust, die die Dokumente lesen.
"Mein Name ist Anno Hamburger. Ich bin der Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg. Ich lese das Dokument 3-57. 'Max Selig versucht am 8. März 1940 bei der Gestapo die Rückkehr seiner aus Stettin deportierten Kinder zu erreichen.'"
In der zweite Hälfte der CD-Box kommen Zeitzeugen zu Wort wie Anita Lasker-Wallfisch, in vorbildlich zurückhaltender Haltung interviewt oder besser: zum Sprechen angestoßen von Regisseur Ulrich Gerhardt:
"Und so sind Sie ins Konzentrationslager gekommen nicht als Juden, sondern als Kriminelle. - Ja, und das hieß auch, dass wir nicht mit so einem Riesentransport von Juden angekommen sind. Wo gleich eine Selektion war, nicht wahr. Na ja, aber das habe ich erst viel später verstanden."
Neben der jetzt vorliegenden CD-Box ist das Material von "Die Quellen sprechen" parallel in Buchform herausgekommen, wird im Bayerischen Rundfunk in fortlaufender Folge ausgestrahlt und ist außerdem auf der Website www.die-quellen-sprechen.de um weiteres Material ergänzt dauerhaft zugänglich.
Neben "Der Krieg geht zu Ende", Walter Adlers Montage von Briefen, Tagebüchern und Alltagsdokumenten aus den letzten Kriegsmonaten, ist die Hör-Edition "Die Quellen sprechen" über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden das überzeugende Unternehmen, aus dem Mosaik von verschiedenen Facetten der Verfolgung - vom bürokratischen Dokument, dem Zeitungs-Hetzartikel bis zur erzählten Geschichte eines Menschen, der in diese Hölle geriet -, aus dem Mosaik ein Gesamtbild zusammenzusetzen. Ein monumentales Audio-Projekt.

Die Quellen sprechen: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945
Gesprochen von Bibiana Beglau und Matthias Brandt und Zeitzeugen
Der Hörverlag. München 2015; Produktion: Bayerischer Rundfunk, Hörspiel und Medienkunst, Institut für Zeitgeschichte/ Edition ‚ Judenverfolgung 1933-1945
14 CDs, Laufzeit ca. 13 Stunden 54 Minuten, Preis: 79,99 Euro

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