Historiker Werner Plumpe

Der Mythos von der Alternative zum Kapitalismus

Filmkulisse für den ZDF-Zweiteiler "Deckname Luna"
Filmkulisse für den ZDF-Zweiteiler "Deckname Luna" © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Von Arno Orzessek · 22.02.2017
Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe rechnet mit linken Utopien ab: Es habe nicht an unfähigen Apparatschiks gelegen, dass der Sozialismus scheiterte. Der ehemalige Kommunist singt heute das Loblied des Kapitalismus, der die "Ökonomie des kleinen Mannes" sei.
Nein, auch Werner Plumpe behauptet nicht, dass sich noch allzu viele Menschen nach Honecker, Breschnew und Co. zurücksehnen. Geschweige denn nach Lenin oder Stalin.
Wohl aber konstatiert der Wirtschaftshistoriker, der bis 1989 in der DKP, der orthodox-kommunistischen Partei Deutschlands, organisiert war, dass die Ideen der Vergangenheit irritierend lebendig geblieben sind:
"Der alte reale Sozialismus hat seinen Charme verloren, die anti- oder post-kapitalistischen Utopien hingegen nicht. Das, was derzeit unter dem Stichwort Postkapitalismus diskutiert wird, ist in der Tat die Rückkehr in das Reich der Utopien, über die Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Spott ausgegossen hat."
Es ist nicht das utopische Denken als solches, das den ehemals kommunistischen Wirtschaftshistoriker Plumpe stört, sondern die offenbar unsterbliche These, Sozialismus und Kommunismus seien nur aufgrund mangelhafter Durchführung unter dem Regime unfähiger Apparatschiks gescheitert − und nicht etwa wegen grundlegender Mängel des Konzeptes selbst oder gar der Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems.
"Die Erinnerung an den Kommunismus – so lässt sich pointiert sagen – wird daher von dem Wunsch regiert, in dessen Niedergang keine Apotheose des Kapitalismus sehen zu müssen."

"Märkte funktionieren ziemlich gut"

Plumpes eigenes Bild vom Kapitalismus ist durchaus nicht ungetrübt. Aber für ihn stimmt die Gesamt-Perspektive:
"Die Ungleichheit ist durch den ökonomischen Fortschritt nicht verschwunden, keine Frage, sondern hat ihr Gesicht gewandelt. Rein phänomenal ist die Moderne aber eben nicht durch Verelendung gekennzeichnet, wie Marx und Engels das – ganz Kinder ihrer Zeit, nebenbei – generell annahmen. Sondern im Gegenteil durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, die heute älter werden, besser ernährt sind und generell, bei allen Unterschieden, ein besseres Leben führen können als noch 200 Jahren."
Plumpes Fundamentalkritik der kommunistischen Ökonomie setzt bei Marx' Arbeitswerttheorie und der Unterstellung an, der Wert eines Gutes und damit sein Preis sei objektiv bestimmbar. Während sich im aufkommenden Massenkonsum zeigte, dass Märkte, in denen Angebot und Nachfrage die Preise regeln, ziemlich gut funktionieren.
"Um Preise und Werte zu bestimmen, braucht man überhaupt keine objektive Basis. An den Marktpreisen orientierten sich […] auch die Unternehmer, die danach kalkulierten, ob die erwarteten Marktpreise die eigenen Kosten deckten oder nicht. Wenn ja, wurde produziert, wenn nein, wurde nicht produziert. Das Problem objektiver Werte existierte und existiert in diesem Rahmen bis in die Gegenwart überhaupt nicht."
Das ökonomische Kernproblem des Sozialismus war nach Plumpe die staatliche Planung, die anfangs allerdings erfolgreich war. Immerhin schien die Sowjetunion von der Weltwirtschaftskrise nach 1929 verschont zu bleiben, was vielen westlichen Linken imponierte. Und trotz der Zerstörungen in zwei Weltkriegen lagen die russisch-sowjetischen Wachstumsraten in der Zeit von 1913 bis 1950 nur knapp hinter denen der USA zurück, die keine Kriegszerstörungen im eigenen Land hinnehmen mussten.

Brutale Enteignung der Landbevölkerung

Allein, es mussten laut Plumpe insgesamt wohl mehr als 50 Millionen Menschen sterben, um den Wachstumsprozess in den kommunistischen Ländern überhaupt in Gang zu setzen:
"Die ursprüngliche Akkumulation in Russland und in den späten 1950er-Jahren in China war nun genau das, was Marx dem Kapitalismus angekreidet hatte: nämlich eine brutale Enteignung der Landbevölkerung, der sowohl in Russland wie in China Millionen Menschen zum Opfer fielen. Wahrscheinlich mehr Menschen, als in England, Frankreich und Deutschland zum Zeitpunkt der Entstehung des Kapitalismus überhaupt gelebt hatten. Die Hungersnöte und das Massensterben in Russland und China werden heute aber zumeist ganz anders erinnert, nämlich vor allem als politische Fehler Stalins und Maos. Das dahinterstehende ökonomische Problem wird dadurch verdeckt, nämlich die Frage, wie die ökonomischen Bedingungen einer kapitalintensiven Industrie ohne Privateigentum überhaupt geschafft werden können."
Endgültig scheitern sieht Plumpe die Planwirtschaft mit der Beschleunigung der technologischen Innovationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Marktwirtschaft konnte in den dynamischen Prozessen ihre Vorteile voll ausspielen: Flexibilität, Spontanität, Variantenreichtum der Produkte. Anders die Planwirtschaft:
"Der Planungs- und Verwaltungsaufwand der realsozialistischen Wirtschaftssysteme – und zwar überall – stieg überproportional rasch an. Er wurde seit den 1970er-Jahren zu einer harten Barriere der wirtschaftlichen Dynamik, die eben nicht nur wegen der mangelnden Innovationsfähigkeit, sondern auch wegen der verschwenderisch hohen Betriebskosten der Wirtschaftsverwaltung an Leistungsfähigkeit verlor."

"Kapitalismus ist kein Elitenprojekt"

Hinzu kam, dass in den kommunistischen Ländern wirtschaftlicher Erfolg und Misserfolg restlos der politischen Führung zugerechnet wurde – was zum Vertrauensverlust in der Bevölkerung und zur finalen Krise massiv beitrug.
So weit Plumpes Abrechnung mit den Systemfehlern des Kommunismus.
Bei seinem Auftritt in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gönnte sich Plumpe schließlich auch noch einige pro-kapitalistische Provokationen – etwa diese hier:
"Der Kapitalismus ist kein Elitenprojekt. Der Kapitalismus ist die Ökonomie des kleinen Mannes. So kommt er auch in die Welt. Mit billigen Wedwodge-Vasen, über die der Goethe die Nase rümpft, ja. Wenn man schon etwas hat, dann hat man wenigstens ein ordentliches Modell da zuhause zu stehen, was aber kapitalistisch nicht möglich ist, weil eine Massenproduktion, die auf Massenabsatz setzt, muss sich am kleinen Geldbeutel orientieren."
Schlussendlich bestritt der ehemalige Kommunist Plumpe, dass der Kapitalismus überhaupt ein System sei − und dass er kein System ist, ist wiederum sein unschlagbarer historischer Vorteil und gibt ihm bei allen Härten auch eine menschenfreundliche, demokratische Dimension:
"Der Kapitalismus ist das Aggregat von unendlich vielen Einzelhandlungen, die dann irgendwann auf der institutionellen Ebene ein bestimmtes Gerüst bekommen. Über Privateigentum, über Geld, über vor allen Dingen Zivilrecht."
Allen aber, die weiterhin mit kommunistischen Ideen sympathisieren, sprach Werner Plumpe eine entscheidende Eigenschaft ab: den Realitätssinn:
"Was also bleibt vom Kommunismus? Es bleibt sein Anlass, nämlich die Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem. Und es bleibt die Hoffnung, dass es anders sein könnte. Wie das Anders-Sein konkret aussehen könnte, interessiert dabei nicht, weil es die Utopie zerstören würde. Der Erlösungsgedanke genügt."
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