Historiker Kocka: Merkel handelt aus der Situation heraus - wie Bismarck

Moderation: Birgit Kolkmann · 22.11.2007
Der Berliner Historiker Jürgen Kocka hat Bundeskanzlerin Merkel zur Halbzeit der Regierung ein gutes Zeugnis ausgestellt. Er habe "nicht viel zu kritisieren", sagte Kocka. Der Publizist und Fernsehproduzent Friedrich Küppersbusch warf Merkel vor, keine Linie zu verfolgen: "Frau Merkel schuldet uns die Ansage, in welche Richtung es weiter gehen soll."
Birgit Kolkmann: Es ist Halbzeit in Berlin, Halbzeit in der Großen Koalition, und in Teil zwei der Legislaturperiode dürfte es wahrscheinlich weniger harmonisch oder sagen wir konsensorientiert zugehen, wie in den vergangenen zwei Jahren. Zufällig markiert der Rücktritt von Franz Müntefering als Arbeitsminister und Vizekanzler nicht nur den Übergang von der ersten in die zweite Halbzeit. Er ist auch eine Zäsur, denn die beiden Architekten der Großen Koalition, Merkel und Müntefering, sind jetzt nicht mehr das Team auf der Brücke und nett ist der Umgang nun auch nicht mehr, seit zeitgleich die Kanzlerin Münterferings Mindestlohn in der Postbranche abgeschossen hat. Folgt jetzt nur noch Wahlkampf, kleinliches Hickhack? Wir haben den Berliner Historiker Jürgen Kocka und den Kölner Publizisten und Fernsehproduzenten Friedrich Küppersbusch zu einem Gespräch über diese Frage eingeladen und zwar gemeinsam, schönen guten Morgen an Sie beide.

Jürgen Kocka: Guten Morgen

Friedrich Küppersbusch: Ja, guten Morgen zusammen, hallo.

Kolkmann: Der letzte war jetzt Friedrich Küppersbusch, fangen wir mit Ihnen gleich an. Müntefering hat gesagt, wenn 2009 dann das Ganze vorbei ist, dann wird man sagen, "da kannste echt nicht meckern". Die Bilanz wird so schlecht nicht sein. Hätten Sie trotzdem was zu meckern?

Küppersbusch: Bis heute wenig, ich finde, dass sich mit Herrn Müntefering und Frau Merkel die beiden Bremer Stadtmoderatoren "etwas Besseres als den Tod finden wir überall" zusammengefunden haben. Eine Frau Merkel, die den Deutschen und vor allen Dingen auch ihrer eigenen Partei es noch behutsam beibringen wollte und wohl auch musste, dass eine Frau Bundeskanzlerin sein kann und ein Müntefering, der ein habitueller bester zweiter Mann der Welt ist und sogar für Frau Merkel, glaube ich, ein besserer zweiter Mann war, als viele, die sie in ihrer eigenen Partei hätte finden können. Wenn man 2009 Herrn Müntefering noch mal fragt, und ihm die These vorlegt, das ist jetzt sehr spekulativ und mehrere Konjunktive ineinander, der Professor hat das studiert und kann das gleich in Ordnung bringen, was ich hier sage, wenn man ihn dann fragt, na, willst Du es noch mal beurteilen, glaube ich, dass er sagen wird, "ohne Eitelkeit, als ich ging hatten wir den besten Teil hinter uns".

Kolkmann: Professor Jürgen Kocka, würden Sie auch sagen, man kann im Moment noch nicht meckern, aber vielleicht 2009 dann doch?

Kocka: Also ich denke auch, dass man nicht sehr viel kritisieren kann. Frau Merkel war in den letzten zwei Jahren sicher besser, als die meisten vor zwei Jahren annahmen. Ich finde, dass sie keine größeren Fehler gemacht hat, und wenn man sich überlegt, dass wir in einem politischen System leben, das überhaupt nur kleine Schritte erlaubt, es sei denn, wir sind in der Katastrophe, und wenn man sich überlegt, dass unser Wahlvolk auch im Großen und Ganzen gegen große Experimente und gegen zu viel Veränderung ist, und wenn man sich überlegt, dass das eine Große Koalition mit viel Unterschieden war, dann ist eigentlich relativ viel rausgekommen in den zwei Jahren, und vermutlich werden die nächsten zwei Jahre schlechter.

Kolkmann: Sammelt denn nun eigentlich Angela Merkel die Früchte ein, die Schröder ausgesät hat?

Küppersbusch: Ja, weil...

Kolkmann: Dann brauchen wir Angela Merkel ja eigentlich gar nicht.

Küppersbusch: Ja, doch, also ich glaube, Angela Merkel brauchte vor allen Dingen eine Konstellation, die sie von ihren eigenen Unsicherheiten, von ihrer doch sehr naturwissenschaftlichen Herangehensweise an Politik zurückgeholt hat. Sie hat sich da Rat geholt von Merz, von Initiative neue Markwirtschaft, also von bezahlten Lobbyisten, von Kirchhof, sie hat die Geißlers, die Blüms, zumindest tatenlos zugeschaut, wie die in ihrer Partei abgemetzelt wurden, obwohl diese sozusagen in der CDU aufbewahrte Adenauersche Zentrumspartei immer für also mindestens immer 25 Prozent Wählerstimmen in Deutschland gut waren. Das ist ihr alles passiert und nun, das größte Glück, was ihr passiert ist, ist, dass sie für die der CDU/CSU amputierte soziale Fraktion eine domestizierte Sozialdemokratie geschenkt bekommen hat. Das wird auf die Dauer nicht gut gehen, denn spätestens, wenn nicht der beste zweite Mann der Welt, Müntefering, da die Geschicke leitet, sondern einer, der Kalif werden will, an Stelle des Kalifen wie Beck, drankommt, dann will der sich profilieren, und das sind die Unruhen, die wir jetzt plötzlich haben.

Kolkmann: Herr Küppersbusch, Sie haben ja eben diese eine These genannt, dass Frau Merkel sich doch ziemlich fest in der Hand von Lobbyisten befindet. Was ja auch die Tatsache unterstreicht, dass der Mindestlohn für Postler dann doch letztlich von ihr abgeschossen wurde. Auf der anderen Seite wird ihr vorgeworfen, sie habe den Linksruck in der CDU zu verantworten. Wo bewegt sich denn da die Wahrheit? In der Mitte?

Küppersbusch: Nö, ich denke, dass das Redehölzchen am familiären Stammtisch vom Papa auf die Mama gegangen ist. Also es ist noch kein Linksruck, wenn eine der sogenannten großen Volksparteien einen Perspektivwechsel im Umgang mit Familie, die eben nicht nur in der Ehe existiert, im Umgang mit Kindern, mit Erziehung, die nicht nur von trauten, christlichen Eltern vorgenommen wird, also wenn einfach die CDU oder die Union gesellschaftliche Realität, wie sie längst herrscht, wahrnimmt. Frau Merkel schuldet uns eigentlich noch die Ansage, wofür sie steht. Sie hat jetzt mit dieser ersten halben Legislatur klar gemacht, dass sie für diese neoliberale Linie, die sie im Wahlkampf noch hochgehalten hat, nicht steht, dass sie die wie eine glühend heiße Kartoffel loslässt, wenn sie merkt, dass sie eine beinahe sicher geglaubte Wahl mit diesen Thesen noch verlieren kann. Und nun ist ein Vakuum da, in das Atome, Einsprengsel, Mosaiksteinchen gehören, die sie gerade aufgezählt haben, die aber bei weitem noch nicht eine Linie Merkel ergeben. Mein Verdacht ist, das muss ich schon sagen, dass Herr Kohl, einer der erfolgreichsten Bundeskanzler und Parteivorsitzenden der Geschichte der Bundesrepublik war, indem er sich niemals wirklich zu einer Kohlschen Linie bekannt hat und dass Frau Merkel auch darin seine gelehrige Schülerin ist. Vielleicht nutzt sie die Gelegenheit uns noch ihre Idee vorzustellen, aber Herr Kocka, wenn ich Sie richtig verstehe, glauben Sie da auch nicht dran, denn jetzt hat ja im Grunde der Wahlkampf schon angefangen.

Kocka: Na ja, sagen wir mal, Frau Merkel ist sicherlich nicht unbedingt die Stärkste auf dem Gebiet der Formulierung großer, visionärer Zielsetzungen, aber sollte man ihr das wirklich vorwerfen? Gehört es nicht zum auch letztlich historischen Erfolg einer Leitungsperson an dieser Stelle, dass sie die Chancen der jeweiligen Situation nutzt, dass sie moderiert, dass sie Fehler vermeidet, dass sie auch im einzelnen Fall ihr persönliches Gewicht in die Waagschale wirft, wie beispielsweise Frau Merkel das in der Europapolitik oder in der Klimapolitik getan hat und tut, dass sie aber im Übrigen, ja, Chancen auslotet und klug ein bisschen weiterentwickelt. Wer das schafft, schafft schon eine ganze Menge. Und selbst wenn das bedeutet, auf die großen Zukunftsentwürfe zu verzichten.

Kolkmann: Handelt sie da, Herr Professor Jürgen Kocka, ein bisschen aus der Situation heraus, so wie es auch schon Bismarck gemacht hat?

Kocka: Genau, auch Bismarck hatte schon Ziele. Die hat Frau Merkel auch, aber die werden nicht plakativ vorangestellt, um dann sich an ihrer Realisierung messen zu lassen, sondern Politik ist eben dann doch sehr stark abwarten können und im richtigen Augenblick was tun, aber nicht so viel, um nichts zu verderben, jedenfalls ist das so in unserem sehr demokratischen und gleichzeitig sehr konservativen Land. Das Wahlvolk gilt derzeit als links. Ich verstehe das ja nicht so richtig. Die meisten sind gegen große Veränderungen, sind eher für Sicherheit als für Neues, sind natürlich gegen allzu große Ungleichheit und gegen zuviel Stress. Dieses Wahlvolk nicht zu verprellen muss natürlich ein Ziel von jemanden sein, der Politik leiten will, und dem gleicht sich die Kanzlerin ganz schön an.

Kolkmann: Das klingt ein bisschen so, als sei sie eine ganz realistische, pragmatische Politikerin, Herr Küppersbusch, das Ganze vielleicht auch eine Art liebe, nette Tante, hinter der sich aber ein knallharter Machtmensch verbirgt?

Küppersbusch: Es gibt diese Metapher der Trümmerfrau, die auf Angela Merkel angewandt wurde, als sie angefangen mit ihrem offenen Briefen in der "FAZ" ’99/2000 sich von Kohl verabschiedete. Da war die CDU mit Parteispendenaffären, mit Lügen und Heuchelein über jüdische Vermächtnisse völlig im Eimer. Da gab es hier, das glaubt man ja schon nicht mehr sieben Jahre danach, Debatten drüber, ob es sie so zerschmeißen wird, wie die Democrazia Cristiana, die Mafia in Italien. Und da war Angela Merkel die Trümmerfrau. Und in meiner Überzeugung bleibt, wir haben sozusagen in der "Christiansen"-Republik jetzt lange Jahre die Frage jeden Sonntagabend in der Sozialstunde "Sozialkunde für alle" gestellt, "Was können wir denn bloß machen?", und jetzt ist das Expertenstühlchen rausgeräumt, auf dem die neoliberalen Wanderprediger saßen und dann sagten, ja Frau Christiansen, wir können auf Lohn verzichten und wir können versuchen, lustige Koreaner mit blonden Haaren zu werden, und jetzt ist die Betroffenencouch reingeräumt und statt "Was können wir denn bloß machen", fragt jetzt Frau Will: "Was haben wir denn da gemacht?" Also, jetzt ist doch der Reformprozess schon stark zum Erlahmen gekommen, und Frau Merkel schuldet uns die Ansage, in welche Richtung es eigentlich weitergehen soll. Noch mal: Ich glaube auch im Wahlkampf, oder wenn jetzt die Wahlkämpfe losgehen, nicht mehr daran, dass die sich noch irgendwo wehtut, und sie ist ja eine nach gerade souveräne Ablehnerin der Medien, also wenn Sie auf Bismarck rauswollen, der ist ja dann auch immer gerne mal für ein halbes Jahr verschwunden aus seinen ostelbischen Latifundien, wenn er meinte, es gibt jetzt nicht so dringend was zu tun für ihn, und das macht Merkel auch mit ihrem nach gerade autistischen Beraterkreis ist sie sehr schwer zu erreichen und fährt damit gut. Willst du gelten, mach die selten. Es ist auch ein Abschied von dieser "Quatschi-Quatschi"-Republik in Berlin

Kolkmann: Sagt der Fernsehproduzent Friedrich Küppersbusch. Herr Professor Kocka...

Kocka: Ich denke, wir sollten den Vergleich Merkel/Bismarck nicht überstrapazieren. Ich meine, dafür haben wir eigentlich noch zu wenig von Frau Merkel bisher kennengelernt und bekommen, und Bismarck war natürlich ein Mann der außerordentlich harten Machtausübung, ja des riskanten Riskierens in bestimmten Situationen. Beides ist bei Frau Merkel nicht zu sehen, und es war eine ganz andere Zeit als heute. Aber ich meine, erinnern wir uns doch dran, wie skeptisch die meisten vor zwei Jahren gegenüber dem Können und der Durchsetzungskraft von Frau Merkel waren und wie wenig diese Befürchtungen realisiert sind, und denken wir auch ein bisschen an die äußere Politik. Ich finde, dass diese Regierung in der Europapolitik eigentlich Kräftiges geleistet hat, auch mehr als vor zwei Jahren zu erwarten war. Ich finde bemerkenswert, wie sie sich klimapolitisch engagiert, obwohl ich nicht glaube, dass sie da wirklich am Ende reüssieren wird, aber vor allen Dingen hat sie ja auch verhindert, dass sich die Deutschen ihrer Neigung hingeben, sich aus der internationalen Verantwortung wieder ein Stück weit zurückzuziehen und das Ganze mit Augenmaß, eigentlich doch nicht schlecht, übrigens zusammen mit Steinmeier, nicht gegen ihn.

Kolkmann: Sie hat ja durchaus auch Charme in die Politik gebracht nach dem Basta-Kanzler und man muss ja auch sagen, immerhin ist die CDU inzwischen jetzt auch der Meinung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, das war ja davor ein Tabu. Was man nicht mehr hört, das sind so große Worte wie Nachhaltigkeit, gutes Regieren, das hat ja Schröder auch mit seinen Regierungskonferenzen, mit seinem Rat für Nachhaltigkeit einführen wollen. Also die tolle Schrödersche Politik, die auch in 20 Jahren noch wirkt. Das waren große Worte. Was ist denn daraus geworden?

Küppersbusch: Die Frau Merkel beherrscht eine eigentlich eher buddhistische Praxis, nämlich am Fluss zu sitzen und zu warten, bis die Leichen ihrer Gegner vorbeischwimmen. Und sagen Sie mir, wenn wir jetzt plötzlich eine Angela Merkel haben, mit dieser Geschichte, auch mit den Erfolgen, die zumindest man ihr nicht streitig machen kann, sie war da, als die Erfolge eintrafen, wer auch immer dann, was der Wähler, die Wählerin meinen mag, wer dran Schuld sein mag. Sie wird den Kanzlerbonus haben, und in der SPD tut sich ja nun wieder eine Quadriga hervor, nicht, der Vizekanzler, das ist der Außenminister, der sozusagen qua Amtes populär ist, eigentlich müsste der antreten. Offenbar tut er aber es nicht, denn er hat ja noch einen Parteivorsitzenden, der seine Ansprüche angemeldet hat. Dann gibt es das wichtigste Ressort, wo es um die Arbeitslosigkeit geht, da sitzen nun ein bereits einmal in der eigenen Partei Gescheiterter mit Olaf Scholz, also die nächste Kanzlerkandidatin der Union kennen wir, und wir wissen, dass sie einen Amtsbonus hat, und wir wissen, dass zumindest die Begeisterung in ihrer eigenen Partei und ihrer eigenen Wählerschaft der Frau Merkel aufs Maximale gestiegen ist und gestiegen sein wird, wann immer diese Legislatur zu Ende ist. Als Müntefering sagte, er ging, habe ich zum ersten Mal gedacht, jetzt werden viele in der Union auf die Umfragen gucken und sagen, na, müssen wir den Quatsch denn noch bis zu Ende machen, wartet nicht wirklich jetzt schon der Liebhaber Westerwelle sehr lange auf uns.

Kolkmann: Professor Jürgen Kocka, was sagen Sie dazu? Der Liebhaber Westerwelle für Frau Merkel?

Kocka: Also die Mehrheitsverhältnisse sind wie sind, wie sie wären, wenn jetzt gewählt würde, kann niemand sagen. Im Grunde ist die Politik, die unter der Leitung und Verantwortung von Frau Merkel da in den letzten beiden Jahren betrieben worden ist, eine Politik, die sehr stark von der sozialdemokratischen Handschrift mitgeprägt worden ist, Frischleute wie Müntefering und Steinmeier, und ich meine den Finanzminister und andere, die SPD findet es schwer daraus Kapital zu schlagen, mit diesem Pfund zu wuchern. Ich finde das schade, sie sollte sich das zugute rechnen und dann...

Kolkmann: Wir es später in den Geschichtsbüchern anders stehen?

Kocka: Also, ich denke, dass zukünftige Historiker – also das kann man ja nicht so richtig vorauswissen – aber dass die diese Anstrengung, den Langzeittrend zu stemmen und etwas mehr für die Zukunftsfähigkeit des Landes zu tun, sehr positiv anerkennen wollen und eigentlich sollte man auch mehr wieder von größeren Begriffen wie Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit sprechen, denn auf diesem Gebiet ist in den letzten zwei Jahren trotz der von mir betonten Erfolge nicht genug passiert. Weiterhin im internationalen Vergleich geben wir sehr viel mehr für den Konsum in der Gegenwart als für Investitionen in die Zukunft aus. Da bleibt ungeheuer viel zu tun und der relativ positive Rückblick auf die letzten zwei Jahre sollte uns nicht zu einer Selbstzufriedenheit in der Gegenwart führen und wer weiß, wie die Konjunktur in einem Jahr aussieht.

Kolkmann: Halbzeit. Halbzeit in Berlin, Halbzeit in der Großen Koalition. Das war unser Gespräch mit dem Berliner Historiker Jürgen Kocka und dem Publizisten und Fernsehproduzenten Friedrich Küppersbusch. Ich danke Ihnen beiden.

Kocka: Bitteschön.

Küppersbusch: Gerne.