Historiker: Einige zerstörte Kirchen sind nicht mehr zu retten

Ekkehart Rotter im Gespräch mit Katrin Heise · 09.04.2009
Bei dem Erdbeben in den Abruzzen sind zahlreiche Kulturgüter zerstört worden, darunter zahlreiche kleine romanische Kirchen, aber auch Berühmtheiten wie die Kirche Santa Maria di Collegio am Rande von L'Aquila. Bei einigen Kirchen sei wahrscheinlich nicht mehr viel zu retten, glaubt der Historiker Ekkehart Rotter.
Katrin Heise: L'Aquila bedeutet "der Adler". Der Adler der Abruzzen - so wird die Provinzhauptstadt der Bergregion Abruzzen genannt, ein Name, der sich vom deutschen Kaiseradler ableitet. Kaiser Friedrich II. ließ diese Stadt 1230 erbauen. Eine lebendige, umtriebige Studentenstadt war L'Aquila noch am vergangenen Wochenende, jetzt liegt sie in Trümmern. Für die Opfer des Erdbebens hat Ministerpräsident Silvio Berlusconi für morgen Staatstrauer angeordnet.

Einer, der das Bergland im Herzen Italiens mit all seinen Dörfern und Städten kennt, ist der Mittelalterhistoriker an der Akademie der Wissenschaft in Mainz, Ekkehart Rotter. Er ist Verfasser zahlreicher Kunstreiseführer zu Italien, darunter auch einer zur Region Abruzzen. Herr Rotter, ich grüße Sie!

Ekkehart Rotter: Guten Morgen!

Heise: Was geht in Ihnen vor seit der Nachricht über das Erdbeben?

Rotter: Ja, das ist schwer zu beschreiben. Ich bin sehr bestürzt, bin auch sehr schmerzlich berührt, zunächst mal angesichts der Not der Menschen, ich kenne ja auch etliche. Letzten Sommer erst war ich zwei Wochen in den Abruzzen. Ich habe wunderschöne Stunden auf der Piazza erlebt, die heute also sehr geschädigt ist. Man sorgt sich um die Menschen, die man vor einem knappen Jahr hat weinen sehen, aber wegen des Ausscheidens der Italiener aus der Fußball-Europameisterschaft. Und da sieht man, wie schnell sich diese Dinge relativieren, wenn man sportliche Ereignisse oder auch das heutige furchtbare Elend zusammensetzt. Die Gegend ist natürlich an viel Elend gewöhnt, das muss man sagen. Es gibt kaum ein Jahrzehnt, in dem L'Aquila oder die Abruzzen nicht von einem entsetzlichen Erdbeben heimgesucht wurden.

Heise: Was macht den Reiz dieser Gegend für Sie aus?

Rotter: Ja, das ist das Zusammenspiel von Natur, von einer sehr alten kirchlichen spirituellen Prägung der Gemeinden, der Dörfer. Wir haben ja vielleicht noch Gelegenheit, einiges anzusprechen. Und es ist immer wieder dieses Verzahnen einer grandiosen Bergwelt mit diesen kleinen Dörfchen und Städtchen. Wir haben eine Bergwelt, die bis an die 3000 reicht. Der höchste Berg, der Corno Grande, der ist so hoch wie die Zugspitze genau, trägt sehr viel Schnee bis in den Sommer hinein, bis in den Juni hinein. Und das ist einfach ein grandioses Erlebnis, wenn man auch von der Höhe herab über diese weiten Ebenen schaut.

Heise: Italien ist ja, kann man ja fast sagen, ein einziges Museum, so sagte auch gerade der italienische Kulturminister. Da fallen den Italienern bei Kulturgütern wahrscheinlich nicht gerade die Abruzzen ein. Aber wie würden Sie eigentlich den kulturellen Rang dieser Dörfer, dieser Städte dort einordnen?

Rotter: Na ja, ich kann das ein bisschen relativieren. Also unter Fachkennern gibt es schon Highlights, die man zum Beispiel in Florenz oder in Rom eben nicht hat. Es ist diese frühe Epoche, die ich vorhin angesprochen habe. Es ist ja auch ein franziskanisches Land, Umbrien liegt daneben mit dem heiligen Franziskus von Assisi. Und es gibt zum Beispiel gar nicht weit weg von L'Aquila, etwa 30 Kilometer südöstlich Bominaco mit zwei wunderbaren Kirchen, die sogar noch an Karl den Großen erinnern, also nicht aus der Zeit, aber aus dem 12., 11., 13. Jahrhundert. Und die Abtei San Clementa a Casauria, das wird schon aufgesucht und das ist auch sehr sehenswert, und die Menschen sind vor allen Dingen sehr, ja, innerlich auch spirituell eingenommen von diesen wunderbaren romanischen, sakralen Räumen. Also so ganz ohne Bedeutung ist es nicht.

Ich kann es vielleicht in die andere Richtung noch etwas modifizieren. Wenn ich auch in den Nachrichten gehört habe, dass L'Aquila eine mittelalterliche Stadt sei, das ist falsch. L'Aquila hat eben sehr viele Erdbeben gehabt, das schlimme Erdbeben zum Beispiel von 1703, bei dem es schon 10.000 Menschen gab. Und wenn man sich heute den Blick auf die zerstörte Stadt anschaut und man weiß, dass, in Anführungszeichen, "250, 300 Tote" sind, und wenn dagegenhält, als es mal 10.000 Tote gab, wie die Stadt da ausgesehen haben muss, dann kann man sich vorstellen, dass von dieser Zeit dann fast kein Stein mehr auf dem Boden blieb, sondern alles neu erbaut wurde. Also L'Aquila ist im Großteil eine Stadt des 18. Jahrhunderts, auch wenn die Kirchengründungen natürlich alle älter sind.

Heise: Wenn ich Sie richtig verstehe, leben aber gerade auch die Menschen mit diesen Kulturgütern und haben sie verinnerlicht?

Rotter: Ja, da muss ich etwas Wasser in den Wein gießen, so leid mir das tut. Und ich bin auch etwas zornig auch ein bisschen über das Pharisäertum, was anlässlich solcher schlimmer Ereignisse immer wieder auftritt. Die Kirchen in Italien haben zum Teil weniger Zuspruch, also die Kirchen als sakrale Räume, weniger Zuspruch als noch bei uns hier. Die meisten Kirchen werden kaum noch beachtet. In den Dörfern sieht man die berühmten drei, vier schwarz gekleideten Weiblein, die noch dem Pfarrer irgendwie dann Gelegenheit geben, überhaupt einen Gottesdienst zu halten. Also wir vermissen da auch eine große Religiosität, die einst diese Landschaft geprägt hat und die heute eben nicht mehr vorhanden ist.

Mit Pharisäertum meinte ich, dass Kirchen immer dann in den Blickpunkt geraten heutzutage, wenn sich schlimme Dinge ereignen, wenn dann wieder gesagt wird, oh Gott, was ist geschehen, warum ist das passiert, dann wendet man sich diesen Dingen zu. Aber aus dem Alltag ist auch da die Religiosität weitgehend schon verschwunden.

Heise: Lassen Sie uns - Sie haben einige Bauwerke schon genannt - lassen Sie uns noch mal ein wenig teilhaben an dem, was an Epochen, was an Herrschern, was an Bauwerken in der Gegend zu finden ist.

Rotter: Also das eine sprach ich an, das ist also südöstlich von L'Aquila. Wenn ich das ganz kurz noch ohne beckmesserisch sein zu wollen, korrigieren darf, es hat nichts mit dem Adler, mit dem Kaiseradler zu tun, der Ortsname ist älter. Das kommt aus dem Lateinischen aquile oder aculum, so taucht es auch im 13. Jahrhundert schon auf, und das meint einfach einen wasserreichen Ort, an dem man dann sich ansiedelte. Also "aqua" steckt eher drin als der Adler "l'aquila". Das ist eine Volksetymologie, die da Namen gebend zum Teil gewirkt hat.

In L'Aquila selbst ist Santa Maria di Collemaggio eine fantastische Kirche, sie birgt ja auch das Grabmal des Papstes Coelestin, 1294 wurde er in dieser Kirche auch geweiht, das ist natürlich ein großes Heiligtum für die ganze Region. Sie steht etwas abseits, hat eines der schönsten Kirchenportale Mittelitaliens aufzuweisen, ist übrigens erst vor kurzem fertig renoviert worden. Da wird man dann wieder anfangen müssen. Und die Meldungen, was die Kirche angeht, sind im Augenblick etwas widersprüchlich, also was den Zerstörungsgrad angeht. Viele Verwechslungen sehe ich auch heute noch in der Presse.

In der Stadt selbst ist San Bernardino natürlich zu nennen. San Bernardino, auch eine Kirche des 15. Jahrhunderts, sie ist geweiht dem heiligen Bernhardin von Siena, einem der bedeutendsten und größten Prediger dieses Jahrhunderts, sein wunderschönes Grabmonument innerhalb der Kirche im rechten Seitenschiff aus dem 16. Jahrhundert.

Ja, und dann die vielen kleinen wie gesagt romanischen Kirchen, die dann ... In Fossa zum Beispiel, habe ich heute Morgen erst erfahren, dass Fossa mit einem der bedeutendsten Freskenzyklen des 13. Jahrhunderts für ganz Italien wohl sehr bedroht ist. Da neigt sich eine Außenwand und die Dorfbewohner versuchen das gerade mit irgendwelchen Hölzern abzustützen. Also da sind noch schwere Schäden zu erwarten.

Heise: Kulturgüter in den italienischen Abruzzen, unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit dem Mittelalterhistoriker Ekkehart Rotter. Herr Rotter, was kann denn wohl alles wieder hergerichtet werden? Sie beobachten ja auch die Gegend schon seit vielen Jahrzehnten, also jetzt mal im Zusammenhang mit Denkmalschutz, wie er sowieso gepflegt wird.

Rotter: Was da geschehen kann? Also ich sehe für manche Kirchen den endgültigen Abriss eigentlich. Also wenn ich mir in L'Aquila eine Kirche anschaue, also von Domini a Paganica, wo die Kuppel eingestürzt ist, da sehe ich kaum eine Möglichkeit, sie zu retten. Erstens fehlen die Mittel heute überall, das heißt, sie fehlen nicht so, sondern man gibt sie eben für andere Dinge aus. Auch Italien kürzt permanent den Kulturetat auch für diese Kulturgüter, die Monumente.

Und andererseits, es ist kein Bedarf mehr da. Ich habe das ja eingangs angesprochen. Der Bedarf der Kirche als Kirche zur Feier von Liturgien ist nicht mehr vorhanden. Und diese Frage wird man sich in diesem Zusammenhang leider dann stellen. Zum anderen - das will ich jetzt nicht gegen das Leid der Menschen dort im Augenblick setzen -, aber die Bedeutung zum Beispiel einer solchen Kirche ist unter kunsthistorischen Gesichtspunkten wenig relevant.

Heise: Welche Erfahrungen haben Sie eigentlich gemacht auf Ihren Reisen, bei Ihren Recherchen, was den Denkmalschutz und den Erdbebenschutz angeht? Wenn Kirchen denkmalschützerisch aufgearbeitet werden, wird da eigentlich an den Erdbebenschutz tatsächlich auch gedacht?

Rotter: Also die Kirchen werden in der Regel nicht erdbebensicher gebaut, sondern wie gesagt, sie werden als Kirchen gebaut, zur Verehrung, ja, Gottes. Wenn man heute Kirchen restauriert - Sie haben vielleicht San Francesco in Assisi in Erinnerung, als das furchtbare Unglück war -, da versucht man natürlich heute, mit modernen Techniken ranzugehen. Gleichzeitig hat man aber auch festgestellt, dass wenn sie da mit Stahl und Beton hineingehen, man an sich mehr Schaden anrichtet als die Sicherheit, die die alten Holz- und Ziegelbauweisen bieten.

Deswegen - Sie haben es ja auch angesprochen - sind ja diese Kirchen weitgehend auch erhalten geblieben, während die Polizeistation mit einer Betonsäulenkonstruktion und einem Flachdach einfach in sich hineingestürzt ist. Oder was mich also wirklich sehr, sehr, sehr bewegt, ist, dass das Hotel Duca degli Abruzzi, in dem ich sehr oft gewohnt habe, einfach in sich zusammengefallen ist. Das war kein schönes Gebäude, das war aus den 60er, 70er Jahren. Das ist eines von den Gebäuden, an die Sie jetzt denken können. Das ist in sich zusammengefallen, da sind 20 Tote, das ist entsetzlich.

Während bei den alten Kirchen denkmalschützerisch permanent gearbeitet wird, das ist notwendig, aber was die Erdbebensicherheit angeht, da kann man nicht viel machen. Das Zweite ist: Es gibt einfach - und da wird sich der Mensch immer wieder daran erinnern lassen müssen - es gibt eine Kraft der Natur, es gibt diese Erdbeben, die diese Gegend ständig heimsucht und die auch jedes Bauwerk, wenn es denn kräftig genug kommt, jedes Bauwerk an seine Grenzen bringt, was seine Statik angeht. Und daran wird sich der Mensch immer wieder erinnern lassen müssen.