Helmpflicht

Der Utilitarismus des Alexander Dobrindt

Ein Plakat informiert in Münster über Kopfverletzungen bei Radunfällen.
Ein Plakat informiert in Münster über Kopfverletzungen. Der Fahrradfahrer mit Helm geht schon auf Nummer Sicher. © dpa / picture alliance / Friso Gentsch
Von Svenja Flaßpöhler · 22.06.2014
Der volkswirtschaftliche Schaden einer Helmpflicht für Fahrradfahrer wäre erheblich größer als ihr Nutzen. Das ist das Hauptargument von Verkehrsminister Dobrindt (CSU) − die Anwendung einer umstrittenen Moralkonzeption, des Utilitarismus.
Es wird keine Helmpflicht für Radfahrer geben. Das bekräftigte Verkehrsminister Alexander Dobrindt im Anschluss an das Urteil des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe nochmals. Die Bürger und Medien des Landes atmeten erleichtert auf. Doch auch wenn wir dem Minister im Resultat zustimmen: Es lohnt sich, sein Hauptargument gegen eine Helmpflicht einmal näher anzusehen.
Dobrindts Argument lautet: Eine Helmpflicht würde zu einem Rückgang der Fahrradfahrer und zu einer verstärkten Nutzung des Autos führen. Ein solcher Effekt, so Dobrindt wörtlich, könne "nicht Sinn und Zweck der Initiative sein". Tatsächlich sind nur wenige Radfahrer bereit, einen Helm zu tragen. Als in Australien die Helmpflicht Anfang der 1990er-Jahre eingeführt wurde, sank die Zahl der Radler um fast ein Drittel.
Hinter Dobrindts Argument steckt bei genauerem Hinsehen eine kühle Kalkulation, deren empirisches Material jüngst eine Studie aus Münster geliefert hat. Natürlich, ein Helm kann Menschenleben retten. Doch wenn viele Radler wieder aufs Auto umsteigen, vermehren sich durch den Wegfall der sportlichen Betätigung die Herz-Kreislauferkrankungen, was das Gesundheitssystem teuer zu stehen kommt. Darüber hinaus ist die Umweltbelastung größer. Auch müssten viele Menschen erst einmal einen Helm anschaffen, was wiederum Geld kostet.
Ein Leben ist 1,6 Millionen Euro wert
Die Summe, die die Helmpflicht einbrächte, indem sie Menschen vor schweren oder tödlichen Unfällen bewahrt, kann die Kosten bei weitem nicht aufwiegen: Laut WHO wird der statistische Wert eines Lebens in Westeuropa mit 1,6 Millionen Euro taxiert. Das ist rein rechnerisch betrachtet nichts gegen die 315 Millionen Euro, die Deutsche insgesamt für die Anschaffung der Helme ausgäben. Summa summarum würde eine Helmpflicht, so das Ergebnis der Studie, einen gesamtgesellschaftlichen Verlust von 278 Millionen Euro verursachen.
Der volkswirtschaftliche Schaden der Helmpflicht ist also erheblich größer als ihr Nutzen.
Eine solche Kosten-Nutzen-Abwägung ist das zentrale Merkmal des Utilitarismus − einer hochumstrittenen Moralkonzeption, wie sie unter anderem vom australischen Philosophen Peter Singer vertreten wird. Der Utilitarismus geht nicht davon aus, dass das Leben ein Wert an sich ist. Vielmehr erklärt er das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl der Betroffenen zum obersten Handlungsziel. Gut ist, was der Maximierung des so verstandenen Gesamtnutzens dient.
Das Glück der größtmöglichen Zahl
Aus utilitaristischer Sicht wäre folglich nicht nur zu rechtfertigen, sondern sogar zwingend erforderlich, den Verlust eines Menschenlebens in Kauf zu nehmen, wenn dies dem Glück der größtmöglichen Zahl dient. Bewertet wird eine Handlung rein nach ihren Folgen − zum Beispiel, um auf unseren Fall zurückzukommen, nach dem finanziellen Nutzen beziehungsweise Schaden, den eine Helmpflicht verursachen würde.
Wer sich utilitaristischer Rechenspiele bedient, verdinglicht, entwürdigt das menschliche Leben. Das heißt nicht, dass Dobrindts Ablehnung der Helmpflicht an sich falsch wäre. Nur hätte der Verkehrsminister sich besser auf eine andere philosophische Tradition berufen − nämlich die des Liberalismus. "Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist." So fasst die Philosophin Judith Shklar die Kernidee des Liberalismus zusammen.
Diese Freiheit ist es, die wir verteidigen, wenn wir weiterhin unbehelmt durch die Großstädte radeln. Das Risiko freilich hat jeder einzelne selbst zu tragen. Auf dem Spiel steht mein Leben. Nicht mehr und nicht weniger.
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