Hedonistischer Orient

Moderation: Barbara Wahlster · 02.08.2007
"Keine Angst vor dicken Wälzern - warum man auch schwergewichtige Klassiker heute lesen sollte" heißt eine neue Reihe auf Deutschlandradio Kultur. Der Schriftsteller Ingo Schulze, zurzeit zu Gast in der Villa Massimo in Rom, empfiehlt die orientalische Märchensammlung "1001 Nacht". Mit klassischen Elementen der Spannung verkörpere sie für ihn die Urform des Erzählens. Man könne sich darin in ein Universum einspinnen.
Barbara Wahlster: Alf Laila wa Laila – tausendundeine Nacht - so lange erzählt Scheherazade, so lange spricht sie um ihr Leben und hält den König hin oder fesselt ihn und lenkt ihn ab von seiner blutrünstigen Gewohnheit, die Frauen der Nacht am nächsten Morgen von seinem Wesir umbringen zu lassen. Ein klassischer Riesenwälzer. Ingo Schulze ist noch dabei, mit diesen 1001 Nächten beschäftigt, er ist für uns am Telefon, in Rom, in der Villa Massimo. Guten Tag!

Ingo Schulze: Guten Tag!

Wahlster: Lesen Sie tatsächlich Episode für Episode? Es gibt ja ganz zweifellos auch so etwas wie Wiederholungseffekte.

Schulze: Ja und nein, aber wir lesen tatsächlich Episode um Episode, das heißt, von der ersten Seite an bis zur allerletzten, und zwar immer abends im Bett vor dem Einschlafen, das ist ganz schön. Das ist eigentlich das ideale Buch für so eine Bettlektüre.

Wahlster: Bettlektüre laut oder leise?

Schulze: Natürlich laut, also, einer muss immer vorlesen und da das Buch so schwer ist, bleibt es meistens an mir hängen.

Wahlster: Das heißt, Sie holen die Erzählungen zurück ins ursprüngliche, mündliche Setting, in die gesprochene Version, und das ist etwas ganz anderes als ein Hörbuch, nehme ich an?

Schulze: Ja, also, Hörbuch ist ja immer ganz schön, aber eigentlich, wenn ich die Wahl zwischen Lesen und Hörbuch habe, dann geht es doch immer nur doch fürs Lesen aus, aber im Auto höre ich sehr viel Hörbuch. Aber hier ist es, so ein Text, dieses laut Vorlesen, das macht man ja sonst kaum noch und irgendwie war das klar als wir sagten, wir müssen das Buch jetzt endlich mal lesen und man kennt es, aber so wirklich – zumindest ging es mir so – man kennt immer mal ein paar Episoden, aber doch das Ganze halt nicht. Und das ist halt sehr schön, wenn man da zusammen ist und sich das vorliest.

Wahlster: Wie entsteht die Spannung, die den König immer weiter zuhören lässt? Wie macht Scheherazade das?

Schulze: Tja, das ist ja eigentlich so wirklich die große Kunst, von der man auch lernen kann. Sie macht das eigentlich so, wie das heute in den Fernsehserien manchmal ist, sie hört immer dort auf, an der Stelle, an der es gerade am spannendsten ist, dann heißt es immer, dann erreichte der Morgen Scheherazade und sie hörte auf zu erzählen. Und dann seufzt die Schwester und sagt, na ja, ach, wie schön ist deine Geschichte, und sie sagt dann immer, ja, verglichen mit dem, was ich euch morgen Abend erzählen werde, wenn ich dann noch am Leben bin, ist das gar nichts. Das ist noch sehr viel spannender. Und ich glaube schon, dass Erzählung, überhaupt Literatur, schon mit Spannung zu tun hat. Es muss nicht immer die Spannung der Handlung sein, aber hier ist es ja doch sehr, weil es doch um Fabeln, um Geschichten, um Erzählung geht, ist es schon so, dass man wissen will, wie geht denn das jetzt weiter oder was hat er jetzt damit gemeint.

Wahlster: Und Sie lesen dann auch weiter und hören nicht auf wie Scheherazade?

Schulze: Doch, sonst hätte man das ja, also, die schlafen ja dann auch irgendwie beziehungsweise die müssen tagsüber schlafen, aber es ist manchmal schwer, aufzuhören. Und manchmal merkt man, dass man plötzlich alleine ist. Also, weil der andere eingeschlafen ist.

Wahlster: Man kann das Buch, Sie haben es ja eben schon gesagt, Sie haben die Fabeln erwähnt, man kann das Buch als Märchensammlung sehen, als fantastische Literatur, als Fundgrube für wundersame Begebenheiten, als Reisebuch, Gleichnissammlung, es steckt unendlich viel drin. Welche Aspekte und Motive haben es Ihnen besonders angetan?

Schulze: Na ja, wenn man sein Geld mit Erzählen verdient, dann ist es natürlich wirklich auch so, dass man hier auf etwas trifft, wo man sagt, das ist für mich ja wie so eine Urform des Erzählens. Also, man erzählt ja immer nur dann, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Und hier ist es so der größtmögliche Zwischenfall, dass jemand eigentlich in seinem Leben bedroht ist. Es ist ja nicht so, dass nur Scheherazade erzählt, um am Leben zu bleiben, sie hat sich freiwillig darauf eingelassen, aber es sind ja auch oftmals die Personen, die da auftauchen, die sagen, ich erzähl dir das jetzt und vielleicht komm ich dann dadurch frei. Dass man hier miteinander so umgeht, dass man statt sozusagen logischer Argumente oder irgendwelche anderen Dinge auszutauschen, sagt man, ich erzähle jetzt etwas. Und es ist sozusagen eine Welt, die sich durch Erzählungen verständigt. Das ist, finde ich, schon mal sehr bemerkenswert und in aller Regel gelingt das dann auch. Und manchmal ist es so, dass jemand dann doch getötet wird, aber nur, weil er vielleicht die falsche Geschichte erzählt hat, weil er gesagt hat, also, nee, danach wird dann noch das und das passieren, wenn ich getötet werde. Also, das ist schon für mich sehr faszinierend, auch wie das ineinander verschachtelt ist. Es ist so vielfach gebrochen, obwohl es eigentlich also wirklich ganz einfache, schön zu lesende Erzählungen sind, gibt es einerseits Konstellationen, von denen man sagt, ja, das ist wirklich ganz modern, also, dass die Figuren in Situationen kommen, wo sie nicht mehr wissen, habe ich das jetzt geträumt oder ist das Realität? Und es ist so geschildert, dass man denen das auch abnimmt, wobei man vorher die ganze Zeit gar nicht wusste, warum passieren jetzt all diese merkwürdigen Dinge und in dem Moment kapiert man, ach so, der soll denken, das ist vielleicht ein Traum. Und dann merkt man halt, es ist gar nicht Scheherazade die oberste Instanz, sondern da taucht immer zwischendurch wieder auf, es ist, der Erzähler sagt, oder, da wird immer noch so jemand genannt, der da etwas erzählt. Dann ist es Scheherazade, dann ist es irgendjemand, der wieder erzählt, dass ihm berichtet wurde und so weiter. Also, das finde ich, man spinnt sich da ein in so ein Universum, man vergisst natürlich auch sofort wieder etwas, aber wenn man dann zurückschlägt, es gibt doch so ein paar Dinge, die bleiben ganz leuchtend bei einem stehen.

Wahlster: Machen den Ruhm des Buches denn nicht eigentlich die erotischen Stellen aus?

Schulze: Och, eigentlich muss ich sagen, also, ich bin jetzt auf Seite ungefähr 340, nee, finde ich nicht. Also, zumindest die Ausgabe, die ich hab, und die geht ja auf diese älteste, uns verfügbare Handschrift zurück, ist es nicht das Erotische. Man merkt aber natürlich, es ist eine ungeheure Freiheit darin, was auch damit wahrscheinlich zu tun hat, dass da so unendlich viele Schichten übereinander liegen, also, dass man irgendwo noch das Indische merkt, das Persische, dass dann das Arabische kommt, das ist dann natürlich dann sogar auch wieder mit Europäischem angereichert wurde und es ist dieser Mix. Natürlich ist es da, da Erotik, aber es ist einfach auch überhaupt dieses Hedonistische, was das hat. Also, wie gelebt wird, wie gegessen wird, wie getrunken wird, wie man feiert und da ist das Erotische natürlich auch immer mit dabei, aber, ich glaube, wenn man das jetzt, unter, ja, erotisch-voyeuristisch liest, das bringt nicht so viel.

Wahlster: Haben Sie denn eine Erklärung für die unendliche Erfolgsgeschichte von "1001 Nacht" bei Schriftstellern, Musikern, Künstlern, gerade im Westen seit dem 18. Jahrhundert? Die Faszination für so einen glücklichen, verspielten, wie Sie es genannt haben, hedonistischen Orient scheint ja heute so unendlich weit entfernt.

Schulze: Ach, ich merke halt, eine Erklärung wäre für mich schon darin, dass ich selbst das sehr gerne lese. Das ist damals, das ist ja jetzt gut 300 Jahre her, dass es zum ersten Mal in eine europäische Sprache, ins Französische, übersetzt wurde, dass es damals sicherlich einfach auch so eine Sehnsucht befriedigte, also auch als eine Projektionsfläche diente für Dinge, die gerade so in das Blickfeld gerieten, über die man aber in aller Regel noch nicht allzu viel wusste. Und es ist ja auch ganz interessant, dass es dann offensichtlich auch gerade von Westeuropa her noch mal angereichert wurde und eigentlich erst als Re-Import in der arabischen Welt dann auch dort zu diesem hohen Stellenwert kam, den es heute hat. Denn damals, es war mal im 17. oder in noch früheren Jahrhunderten hat man das in der arabischen Welt nicht sehr hoch geschätzt. Das waren halt so volkstümliche Erzählungen, das war das, was vielleicht auch der Erzähler da auf dem Markt erzählt, aber das hatte für die nichts mit Literatur zu tun. Und eigentlich erst über Europa kam auch diese Wertschätzung in die arabische Welt wieder hinein.

Wahlster: Sie lesen eine Übersetzung von Claudia Ott und anderen, die 2004 bei DTV erschienen ist.

Schulze: Bei Klett.

Wahlster: Bei Klett, Entschuldigung.

Schulze: Bei Beck.

Wahlster: So, jetzt sollten wir es dann irgendwie richtig haben. Die ist viel, viel kürzer auf jeden Fall als diese große, sechsbändige Inselausgabe. Was kennzeichnet diese Neuübersetzung? Was ist da neu reingekommen?

Schulze: Na ja, sie geht, auch wenn ich da jetzt kein Fachmann bin, aber es geht eben auf diesen Franzosen Galland zurück, der zum ersten Mal "1001 Nacht" übersetzt hat, und er hatte eine arabische Handschrift, in der es nur bis zur 282. Nacht ging. Also, auch dieses Buch geht nur bis zur 282. Nacht. Aber es ist die früheste uns verfügbare Handschrift, also, sozusagen von wahrscheinlich irgendwie so um 450, 500 niedergeschrieben. Das heißt aber nicht, dass man jetzt sagen könne, das ist das Maßgebende oder, das sind halt wie im Mythos, wie auch im Märchen, es gibt halt immer so Schichten, wo man nie sagen kann, jetzt ist man an einer bestimmten Stelle, dass man da einen Ursprung hätte, aber hier ist es doch sehr dieses mündliche Erzählen, was mich auch so interessiert. Ich bin jetzt kein Fachmann, dass ich das vergleichen könnte, aber das, was man immer wieder über diese Übersetzung sagte, auch über diese Handschrift, dass es sehr diesen mündlichen Duktus noch hat, den ich beim Vorlesen gerade so faszinierend finde. Und es ist halt in einem sehr guten Deutsch übersetzt, und es ist eben auch erstmalig diese Handschrift übersetzt. Dann stützt sich das eben auf andere Ausgangspunkte. Und was für manche vielleicht auch überraschend sein mag, zumindest war es das für mich, dass auch sehr viel Lyrik in diesen Erzählungen enthalten ist, also, dass an besonderen Stellen, wenn sich der Erzähler oder die Figuren einfach gar nicht mehr anders ausdrücken können, dann sagen sie, das ist doch so wie, oder als hätte der Dichter das für ihn gedichtet, und dann kommen also vier Zeilen oder sechs Zeilen oder acht Zeilen, und das ist schon zum Teil wirklich auch großartige Lyrik.

Wahlster: Ich hoffe, Ihre Begeisterung hat angesteckt, vielen Dank, Ingo Schulze. Der Schriftsteller erzählte uns seine Gründe, warum es sich lohnt, "1001 Nacht" zu lesen, ein Klassiker der Weltliteratur.

Programmtipp: Am kommenden Dienstag, 7. August, um 15.07 Uhr spricht Deutschlandradio Kultur in der Reihe "Keine Angst vor dicken Wälzern - warum man auch heute noch Klassiker in voller Länge lesen sollte" mit der Schriftstellerin Juli Zeh über Dostojewskis "Die Dämonen".
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