"Hass und Revanche, diese Gefühle habe ich niemals gefühlt"

Yaël Armanet und Jule Ott im Gespräch mit Frank Meyer · 22.09.2011
Die Israelin Yaël Armanet hat ihren Mann bei einem Attentat verloren. Im Dokumentarfilm "Nach der Stille" trifft sie die Eltern des Selbstmordattentäters. An die Zukunft habe sie dabei gedacht, sagt Armanet, und hat der Mutter die Hand gereicht.
Frank Meyer: Morgen wird Präsident Mahmud Abbas bei den Vereinten Nationen den Antrag auf Vollmitgliedschaft für einen unabhängigen Palästinenserstaat vorlegen. Eine ganz ungewöhnliche Geschichte aus dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erzählt der Film "Nach der Stille", der ab heute in unseren Kinos zu sehen ist. Die Israelin Yaël Armanet trifft in diesem Film die Eltern des Selbstmordattentäters, der ihren Ehemann Dov getötet hat. Yaël Armanet ist jetzt für uns in einem Studio in Tübingen, zusammen mit Jule Ott, die diesen Film gedreht hat mit ihrer Partnerin Stephanie Bürger. Herzlich Willkommen an Sie beide!

Jule Ott: Danke schön!

Yaël Armanet: Danke schön!

Meyer: Frau Armanet, wie ist denn überhaupt diese Idee entstanden, dass Sie die Familie des Attentäters, die Familie von Shadi Tobassi kennenlernen?

Armanet: Ich sage immer, dass es ein ganz Zufall war. Ich habe überhaupt nicht gedacht an diese Meinung, einen Film zu machen und dieses Treffen und diesen Schritt nach Dschenin in dieser Weise zu machen. Aber das war in der Meinung von meinem Mann, der hat immer gesagt, wir sind Feinde, aber wir müssen zusammen sprechen.

Meyer: Sie erzählen in dem Film auch, Frau Armanet, dass Sie am Anfang den Namen dieses Attentäters nicht aussprechen konnten, dass er für Sie am Anfang nur der Terrorist war. Aber als dann diese Idee aufkam, die Familie zu treffen, mussten Sie da nicht ganz viel Hass oder Wut oder Zorn zumindest in sich selbst überwinden, um sich das vorstellen zu können, diese Familie kennenzulernen?

Armanet: Wissen Sie, ich sage auch in dem Film und ich denke, dass ich hatte niemals Hass. Vielleicht hätte es das nicht geholfen, aber das fühlte ich nicht. Ich denke, das kommt auch von meinem Charakter und auch von meiner Erziehung, meiner katholischen Erziehung auch. Ich war katholisch und ich bin Jüdin geworden, aber ich muss trotzdem sagen, das war sehr schwer. Aber Hass und Revanche, diese Gefühle habe ich niemals gefühlt.

Meyer: Jule Ott, Sie haben mehrere Monate in Dschenin verbracht bei der Arbeit an diesem Film, also der Stadt, in der Shadi Tobassis Familie lebt, die Familie des Attentäters. Wie hat diese Familie denn reagiert auf Ihren Vorschlag eines Zusammentreffens mit Yaël Armanet?

Ott: Wir direkt haben ja der Familie den Vorschlag so gar nicht gemacht. Da haben wir probiert, uns doch auch irgendwie zurücknehmen. Was unsere Arbeit erst mal war, war wirklich, ja, die Familie kennenzulernen, und das war ein langer Prozess eigentlich. Über drei Monate hinweg waren wir nur im Westjordanland und haben langsam Kontakt aufgebaut zu den Tobassis und auch probiert, eben langsam Vertrauen herzustellen. Weil es war natürlich ... Plötzlich kommt, nachdem der Sohn vor acht Jahren gestorben ist, ein Filmteam an und sagt, wir machen jetzt einen Film über Ihren verstorbenen Sohn, und wühlen alles wieder auf.

Man merkte auch, dass die Familie noch sehr unter Schock stand und auch Angst hatte, auf was lassen wir uns da ein. Und dann ist es aber letztlich so gelaufen, diesen Vorschlag, es gibt ein Treffen zwischen Yaël und der Familie Tobassi, den hat Yaël auch selber gemacht. Also es gab einen Tag vielleicht, etwa nach vier, fünf Monaten Drehzeit, an dem Yaël angerufen hat den Vater Tobassi und gesagt hat: Ich würde Sie gerne kennenlernen, ich bin die Frau aus Haifa, die ihren Mann bei dem Attentat verloren hat.

Meyer: Ich frage das auch, Frau Ott, weil der Vater von Shadi Tobassi sagt an einer Stelle in dem Film, die Israelis hätten viel mehr Palästinenser getötet als umgekehrt - da klingt er noch sehr unversöhnlich. Was glauben Sie denn, was hat ihn letztendlich dazu gebracht, diesem Treffen mit Yaël Armanet zuzustimmen?

Ott: Ich glaube schon, dass die Tobassis auch sehr ... Sie haben sehr darunter gelitten, unter dem, was ihr Sohn auch gemacht hat, und natürlich auch unter dem Verlust ihres Sohnes selber. Dass da auf einmal eine Frau auf der anderen Seite ist, die im Prinzip die Hand reichen möchte, die sagt, ich komme in Frieden, ich möchte Sie kennenlernen. Das war für die Familie auch eine große Erleichterung.

Es gibt diesen einen Moment, an einem Abend, da waren wir dort, wir haben das auch gefilmt und man sieht das auch im Film, da erzählen wir das erste Mal überhaupt, es gibt auf der anderen Seite eine Frau, zu der wir Kontakt haben, die ihren Mann bei dem Attentat verloren hat. Also das wusste die Familie nicht von Anfang an, dass wir mit Yaël auch in Kontakt standen. Und natürlich hat er sich da auch erst erschrocken, aber er war ganz schnell, also innerhalb dieses Gesprächs ist er quasi auch umgekippt und hat gesagt, wenn diese Frau Frieden möchte, dann möchten wir das auch. Und er war sogar derjenige an dem Abend, der vorgeschlagen hat, wenn sie uns anrufen möchte, dann kann sie das gerne tun.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Jule Ott und Yaël Armanet über den Dokumentarfilm "Nach der Stille". Frau Armanet, als Sie dann dort angekommen sind, in Dschenin, in diesem Haus, dem Haus, aus dem Shadi Tobassi Jahre vorher aufgebrochen ist zu diesem Attentat, was war das für ein Augenblick für Sie, für einen Moment dieses Haus zu betreten?

Armanet: Wir haben uns getroffen in dem Appartement, wo Shadi Tobassi, er wollte dort in diesem Appartement mit seiner Frau leben, wenn er verheiratet wäre, und mit seinen Kindern. Aber jetzt wohnen in diesem Appartement die Eltern. Ich war ganz still an diesem Tag, und auch der älteste Sohn vom Dorf. Meine Meinung war, wir machen etwas jetzt nicht in Erinnerung von Dov, meinem Mann, nicht nur für mich, für meine Zukunft, aber besonders für die Zukunft von den Kindern und den Eltern und den Enkeln von den beiden Seiten.

Und was Jule jetzt erzählt hat, ist so wichtig, der Prozess. Der Prozess war bei allen. Wir haben das alles zusammengebaut, und das haben wir bemerkt an diesem Tag. Die Stimmung war so gut. Ich habe überhaupt nicht zu der Mutter gesagt, welches Kind hast du erwachsen. Ich habe sie umarmt und ich habe gesagt, Mutti. Für mich ist sie besonders eine Mutter. Sie hat die Kinder erwachsen und es gibt keine Genetik für Mörder. Und ich denke, dass in diesem Moment, alle haben gut bemerkt, dass die Stimmung von diesem Tag wird ganz gut sein.

Meyer: Das sieht man auch in dem Film - sie liegen sich ja wirklich in den Armen mit der Mutter von Shadi Tobassi, und war das so eine Gemeinsamkeit der Trauer dann auch in diesem Moment, weil sie beide jemanden verloren haben?

Armanet: Wissen Sie, die Frauen in der arabischen Kultur, sie sitzen am Boden. Und dann bin ich gekommen mit Jule, wir sind zusammen in dieses Wohnzimmer gekommen von den Frauen, und ich habe gedacht, ich habe diese 40 Kilometer gemacht, und das ist nicht 40 Kilometer, das ist 4000 Kilometer, und jetzt werde ich nicht sitzen so fern von dieser Frau. Und dann habe ich gedacht, ich muss eine Hand reichen. Und dann habe ich seine Hand genommen, und sie ist geblieben mit ihrer Hand in meiner Hand. Und so haben wir angefangen zu sprechen. Und in einem Augenblick hat der Sohn Tissues gebracht und hat gesagt: Sie können weinen, hier haben Sie - wie sagen Sie ...

Meyer: Taschentücher.

Armanet: Ja, Taschentücher. Und da habe ich gesagt, instinktiv, wir sind nicht hier um zu weinen, wir denken an morgen, an die Zukunft, wir möchten nicht mehr weinen, wir haben zu viel geweint, wir haben genug geweint, es ist fertig. Wir fangen an ein neues Blatt. Und dann haben wir alle zusammen gelacht, auch die Frauen, die dort waren, die junge Tochter und die Frauen von den Söhnen. Und dann ist die Frau mit uns nach Dschenin draußen gekommen, und sie wollte überhaupt nicht mit uns draußen gehen. Und wir sind auch Hand bei Hand in Dschenin gegangen, zu Fuß, und alle Leute und alle Nachbarn haben das gesehen.

Meyer: Das ist ein sehr, sehr bewegendes und großes Beispiel, was man mit diesem Film miterlebt. Jule Ott, Sie zeigen aber auch sehr vieles, was auch zu dieser Geschichte gehört, Sie zeigen Aufnahmen vom israelischen Einmarsch in Dschenin im Jahr 2002, bei dem sehr viele Palästinenser getötet wurden. Sie zeigen ein Interview mit einem Anführer der Al-Aqsa-Brigaden, der voller Hass auf die Israelis ist, und Sie zeigen, was besonders interessant ist, ein Gespräch mit ihrer Co-Regisseurin, Manal Abdallah, die sagt: Ihr zeigt hier eine Versöhnungsgeschichte, aber eigentlich ist das der falsche Film, weil er zeigt nur einen winzigen Ausschnitt der ganzen Geschichte, weil der größte Teil ganz anders aussieht und da keine Versöhnung da ist. Was konnten Sie da Ihrer Kollegin entgegenhalten?

Ott: Dass es natürlich trotzdem wichtig ist, so einen Ausschnitt zu zeigen, weil es das auch gibt, und ich glaube, je seltener es das womöglich auch gibt, desto wichtiger ist es, das zu zeigen, denn das sind die Geschichten, die auch irgendwie noch Hoffnung machen und zeigen, es gibt den Wunsch nach Frieden.

Am Anfang konnten wir ihr auch gar nicht so viel entgegenhalten - man sieht eben diesen Prozess, durch den auch wir gegangen sind. Wir können nicht einfach hier so herkommen und denken, wir machen jetzt eine Geschichte über Frieden und das läuft dann einfach so. Eben dass es einfach auch komplizierter ist, als man vielleicht am Anfang so gedacht hat.

Und insofern war sie für uns ein sehr guter Kritiker immer wieder, dass sie auch hinterfragt hat, was macht ihr da eigentlich, denkt mal drüber nach, was zeigt ihr damit, was wollt ihr damit zeigen. Sie hatte oft Angst, die palästinensische Seite zum Beispiel kommt nicht genug zu Wort. Die Familie war am Anfang sehr verschlossen und wollte eigentlich vor der Kamera gar nicht mit uns sprechen. Umso mehr haben wir uns bemüht, wirklich das Vertrauen der Tobassis auch gewinnen.

Meyer: Frau Armanet, im Oktober soll dieser film dann auch in Israel gezeigt werden. Was denken Sie denn, wie dieser Film in Israel aufgenommen wird?

Armanet: Wir hoffen, dass zu dieser Gelegenheit im Oktober auch die Leute, die den Film gern haben, auch die Leute, die gegen den Film sind - und es gibt solche Leute auch in Palästina und auch in Israel. Sie sehen schon in dem Film, auch in der Familie Tobassi und auch der Familie von meinem Mann, es gibt Verwandte und Angehörige, die überhaupt nichts über diesen Schritt hören wollen. Aber ich denke immer, dass wir das machen müssen, und das machen wir. Und ich bin sicher, dass es ein großer Erfolg auch in Israel werden wird - besonders in dieser schweren Periode.

Meyer: Der Dokumentarfilm "Nach der Stille" erst mal bei uns in den Kinos zu sehen ab heute, ein Film von Stephanie Bürger und Jule Ott. Wir haben mit Jule Ott und Yaël Armanet gesprochen. Ich danke Ihnen beiden sehr für das Gespräch!

Ott: Danke schön!

Armanet: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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