Hans Christian Andersen

"Aber darunter − ein trauriges Herz"

Christian Andersens Märchenpark in Shanghai
Andersens Märchenpark in Shanghai © picture alliance / dpa / Zhong Yang
Von Markus Metz und Georg Seeßlen · 02.12.2016
Die Kunstmärchen von Hans Christian Andersen sind Revolten gegen die Pädagogik seiner Zeit, aber auch gegen Anpassung und Entfremdung. Sie sind dicht und atmosphärisch erzählt - anders als die harten, holzschnittartigen Volksmärchen der Gebrüder Grimm.
"Nun seht, jetzt geht es los. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als zu Beginn. Denn es war ein böser Zauberer, es war einer der allerschlimmsten, es war der leibhaftige Teufel. Eines Tages war er in der köstlichsten Laune, denn er hatte einen Spiegel vollendet, der die Eigenschaft besaß, alles Gute und Schöne, das sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschrumpfen zu lassen, während das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, recht deutlich hervortrat und noch schlimmer wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen darin wie gekochter Spinat aus, und die besten Menschen wurden hässlich oder standen ohne Körper auf dem Kopf."
So beginnt eines der berühmtesten Märchen des Hans Christian Andersen, "Die Schneekönigin" – und schon der erste Absatz enthält fast alles, was seine Kunst ausmacht: den Trick, uns zu Komplizen der Erzählung zu machen, die Verbindung von mündlicher und literarischer Sprache, das Verschwinden und Wiederauftauchen, den satirischen Grundgedanken der Verzerrung. Natürlich: die Spannung und den Schauder. Und das Bereiten der Bühne für den Auftritt der Helden.

Die Märchen wimmeln von Symbolik

"In der großen Stadt, in der es so viele Häuser und Menschen gibt, dass nicht alle Leute hinreichenden Platz für ein Gärtchen haben, und wo sich deshalb die meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, da waren doch zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, hatten einander aber ebenso lieb, als ob sie es wären. Ihre Eltern wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft. Sie bewohnten zwei Dachkammern, da, wo das Dach des einen Nachbarhauses das des anderen berührte und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlanglief. Dort hinaus blickte aus jedem Hause ein Fenster. Man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, um von dem einen Fenster zum anderen zu gelangen"
Die Schneekönigin aus Eis kann man am 01.12.2016 in Elstal (Brandenburg) in der Eisfigurenausstellung sehen. Am 3.12. öffnet die "2. Berliner Eiszeit" im Karls Erlebnishof. 22 Künstler aus 12 Ländern gestalteten rund 80 Figuren zum Thema "Helden der Kindheit". Foto: Bernd Sett... •Fotograf: •Bernd Settnik
Die Schneekönigin von Andersen wird nicht nur in Film und Theater, sondern auch in der Eiswelt im brandenburgischen Elstal verewigt. Bis es taut. © picture alliance/dpa/Bernd Settnik
Das klingt nach einer richtigen Idylle: geschwisterliche Zuneigung, elterliche Geborgenheit, Dachkammer mit Kräutergärtlein. Kopenhagen, Ende des 18. Jahrhunderts – oder in der ewigen Märchenzeit, wie man es nimmt. Wenn man nur nicht ahnen würde, dass die Wasserrinne einen anderen Graben, einen inneren Bruch widerspiegelt.
Natürlich geht diese Geschichte nicht so beschaulich weiter, schließlich erfahren wir bald mehr vom grässlichen Spiegel des Zauberers. Beim Versuch, auch Gott und seine Engel in der satirischen Verzerrung zu sehen, ist der Spiegel in Billionen Stücke zerbrochen. Jetzt sind die Splitter über die ganze Erde verstreut.
Eine schreckliche Vision – und ein sehr langer Weg zu einem glücklichen Ende, den wir als Leser vor uns haben. Auch Hans Christian Andersen versuchte, sein eigenes Leben im milden Licht eines glücklich ausgegangenen Märchens darzustellen.

Andersens Leben - auch eine Art Märchen

"Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich. Wäre mir als Knabe, als ich arm und allein in die Welt hinaus ging, eine mächtige Fee begegnet, und hätte gesagt: Wähle deine Laufbahn und dein Ziel, und dann, je nach deiner Geistesentwicklung und wie es der Vernunft gemäß in dieser Welt sein muss, beschütze und führe ich dich!" – mein Schicksal hätte nicht glücklicher, klüger und besser geleitet werden können. Meine Lebensgeschichte wird der Welt sagen, was sie mir sagt: Es gibt einen liebevollen Gott, der Alles zum Besten führt."
Nein, alles zum Besten fügte sich dann wohl doch nicht in Hans Christian Andersens Leben. Er wurde geboren als Sohn einer alkoholkranken Mutter und eines armen Schuhmachers, der trotz seiner miserablen wirtschaftlichen Lage allerlei Träume und Pläne im Kopf hatte. Nach dem Tod des Vaters kam er allein und mittellos nach Kopenhagen. Er wollte unbedingt zum Theater, fand hier und da Gönner, aber keinen wirklichen Erfolg. Was vielleicht auch mit seiner schlaksigen Gestalt und einem Äußeren zu tun hatte, das ihn nicht gerade für die Rolle des jugendlichen Liebhabers geeignet erscheinen ließ. Eine Ersatzfamilie fand er auch und handelte sich dabei weitere emotionale Verwirrungen ein.
Man kann sich darüber streiten, ob Andersen hetero-, bi- oder homosexuell war. Aber eines ist sicher: Dass er unglücklich war. Ständig zurückgewiesen, gekränkt, aber auch wieder unfähig zu offener Erklärung.
Ursula Mayr:
"Andersen war ja sehr kränklich – wobei sich medizinisch jetzt nicht so sehr viel dabei finden ließ – und eigentlich meistens in einem Zustand, wo man lieber die häusliche Sphäre zu Erholung schätzt."
– Ursula Mayr, Psychoanalytikerin
Was blieb, war einerseits die Phantasie. Und andererseits, als er endlich zu ein wenig Ansehen und Geld gekommen war, das Reisen. Vor allen Dingen zog es ihn in den Süden, nach Italien vor allem.

"Die Reiselust in der Psychotherapie lässt sich grundsätzlich in zwei Faktoren einteilen: Das eine ist ein Weg von, das andere ist ein Hin zu. Das ist ein Fluchtreflex weg von etwas, das man als sehr belastend empfindet. Bei Andersen war das sicher dieses sehr ärmliche Milieu, in dem er aufgewachsen ist, das ihm wenig narzisstische Gratifikationen geboten hat. Dieses gesamte ärmliche, einfache Milieu wollte er ganz sicher verlassen und wollte, weil es daheim nicht ging, in der Ferne seine Anerkennung finden. Also weg von dem Demütigenden und hin zu dem, was es sich für sein Leben erträumt hat und auch erreicht hat."
Zitat:
"Des Abends, als der kleine Kay zu Hause und halb ausgezogen war, kletterte er auf die Stühle am Fenster und guckte zu dem kleinen Loche heraus. Ein paar Schneeflocken fielen draußen, und eine derselben, die allergrößte, blieb auf dem Rande des einen Blumenkastens hängen. Die Schneeflocke wuchs und wuchs, bis sie sich zuletzt in eine vollständige Frau verwandelte, in den feinsten weißen Flor gehüllt, der wie von Millionen sternartiger Flocken zusammengesetzt war. Sie war schön und fein, aber von Eis, doch war sie lebendig. Die Augen funkelten wie zwei helle Sterne, aber unstet rollten sie umher ohne Ruh und Rast. Sie nickte nach dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle hinunter. Da war es, als flöge ein großer Vogel draußen an dem Fenster vorüber."
Ein magischer Moment in der an magischen Momenten gewiss reichen literarischen Welt von Hans Christian Andersen. Ein wundersames Ineinander von Fluchttraum und Lebensangst, von Sehnsucht und Grauen. Eben das, was noch heutige Leserinnen und Leser in den Bann ziehen kann.

Es ist passiert: Man liest sich fest

Mit elf, zwölf Jahren hat man "Hänsel und Gretel", "Peterchens Mondfahrt" und Winnetous Tod hinter sich und ist daher auch, was literarische Tränendrückerei anbelangt, genügend abgehärtet. Man hat Harry Potters Schicksal als Waisenjunge bei einer schrecklichen Pflegefamilie mit durchlitten und den Tod von Batmans jugendlichem Sidekick Robin. So leicht wird man nicht mehr erschüttert, meint man. Da bekommt man eine Ausgabe von Andersens Märchen in die Hände, liest sich in der Schneekönigin fest. Und dann ist es passiert. Wie dem kleinen Kay geht es einem, man bekommt einen winzigen Splitter ins Auge, vom bösen Spiegel, der die Welt verzerrt oder sie zeigt, wie sie wirklich ist.
"Kay und Gerda saßen und sahen sich das Bilderbuch mit den vielen Tieren und Vögeln an, da war es – die Uhr auf dem großen Kirchturme schlug gerade fünf – dass Kay sagte: "Au! Es ging mir wie ein Stich durch das Herz! Und jetzt ist mir etwas in Auge geflogen! Das kleine Mädchen fasste ihn um den Hals; er blinzelte mit den Augen: Nein, es war durchaus nichts zu sehen."
Später, wenn man Hans Christian Andersens Märchen noch einmal liest, nun mit einem literarischen Interesse vielleicht, fällt einem nicht nur auf, wie großartig sie geschrieben sind. Wie dieser Autor mit seinem rhythmischen Parlando den Leser ergreift und wie er, nie ein Wort zu viel, doch seelenvoll und atmosphärisch erzählt; ganz anders als es die holzschnittharten Volksmärchen der Brüder Grimm beispielsweise tun. Bei den Grimms darf man fasziniert auf eine grausame und ziemlich suggestive Welt sehen, deren Symbole einen noch in die Erwachsenen-Träume verfolgen. Bei Hans Christian Andersen aber ist man mitten drin.
"‘Ich denke, es ist fort!‘", sagte er. Aber fort war es nicht. Es war gerade einer von diesen Glassplittern, die von dem Spiegel abgesprungen waren, dem Zauberspiegel, wir entsinnen uns desselben wohl noch, der bewirkte, dass alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und hässlich wurde, und jeder Fehler an einer Sache sich sofort bemerkbar machte. Der arme Kay, ihm war ein solches Splitterchen auch gerade in das Herz eingedrungen. Das sollte nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun tat es zwar nicht mehr wehe, aber da war es."

Als Märchen getarnte Parabeln

Man kann diese Märchen nicht ohne weiteres nacherzählen, man muss sie lesen oder vorlesen, Wort für Wort. Denn es handelt sich um Literatur. Genauer, um moderne Literatur. Denn zum Ärger der literarischen Traditionalisten seiner Zeit führte Andersen in seinen als Märchen getarnten Parabeln ein Element des Subjektiven ein, des authentischen Sprechens, wie es später erklärte Bewunderer wie Thomas Mann oder Franz Kafka weiter entwickelten.
Heinrich Detering:
"Die Ablehnung, die Andersen vor allem in Dänemark zunächst erfuhr, ist zuerst wohl eine Zurückweisung durch die Bildungskultur. Das hat mit dem betont mündlichen, betont volkstümlichen, oft auch betont ungrammatischen, unkorrekteren Ausdruck seiner Märchen zu tun".
– Heinrich Detering, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen und H. C. Andersen-Übersetzer.
"Es hat auch damit zu tun, dass er selbst nicht aus dieser Bildungskultur kam, sondern von ganz unten, aus dem, wie wir vielleicht sagen könnten, Subproletariat der zweitgrößten dänischen Stadt und dass er daraus aber kein Hehl machte."
Ein Schwan spiegelt sich am 05.04.2016 auf dem Wasser des Weißensees bei Füssen (Bayern).
Das hässliche Entlein, das um soziale Anerkennung kämpft und diese erst findet, als es zum Schwan wird: Hans-Christian Andersen erzählt in dem Märchen von seinem eigenen Kampf um Anerkennung.© dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand
Zitat:
"Ich will hinfliegen zu ihnen, den königlichen Vögeln, und sie werden mich totbeißen, weil ich, der ich so hässlich bin, mich ihnen zu nähern wage. Aber meinetwegen! Besser von ihnen getötet, als von den Enten gezwackt, von den Hühnern gepickt, von der Hühnermagd gestoßen zu werden und im Winter alles mögliche Weh über sich ergehen zu lassen!" Und es flog auf das Wasser und schwamm den prächtigen Schwänen entgegen, die mit gesträubten Federn auf dasselbe losschossen."
Heinrich Detering:
"Diese eigenartige Ambivalenz zwischen betontem biedermeierlichem Happy End auf der einen Seite und dem oft drastischen Scheitern der Andersen-Figuren, der Melancholie seiner Texte auf der anderen Seite, die lässt sich oft durch ein- und denselben Text verfolgen: Zum Beispiel das Märchen vom hässlichen kleinen Entlein, das ja überdeutlich auch autobiografische Züge trägt, ist wie die Mehrzahl von Andersens Märchen eine Stigmatisierungsgeschichte. Hier wird von einer Figur erzählt, die anders ist als die Mehrzahl, die auf irgend eine Weise sichtbar markiert ist in ihrer Andersheit und darunter leidet, die einerseits stolz auf ihr Selbstsein empfindet, andererseits Scham darüber, von den anderen ausgelacht zu werden."
Zitat:
"'Tötet mich nur!' sagte das arme Tier und neigte sein Haupt gegen den Wasserspiegel und erwartete den Tod – aber was sah es in dem klaren Wasser? Es sah unter sich sein eigenes Bild, aber es war nicht mehr ein plumper, schwarzgrauer Vogel, hässlich und Abscheu erweckend, es war selbst ein Schwan. Es tut nichts in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!"
Ein Satz, der so tut, als sei er die klassische "Moral von der Geschichte" aus einem Märchen. Aber je mehr man über ihn nachdenkt, desto ambivalenter wird er. Geht es da um Charakter gegen Umwelt? Oder um Herkunft gegen Erfahrung? Um die ewige Sehnsucht der Kinder, in Wahrheit jemand ganz anderes zu sein? Oder um die wundersame Transformation durch Selbsterkenntnis? So vieles ist dem Werk von Hans Christian Andersen zu entnehmen. Eindeutigkeit gehört nicht dazu.
Ursula Mayr
"Ein häufiges Motiv bei Andersen sind die Wandlungssymbole. Wandlungs- und Verwandlungssymbole."
– Psychoanalytikerin Ursula Mayr.

Das Anrührende bei Andersen

"Das sieht man zum Beispiel beim standhaften Zinnsoldaten, dann bei dem Entlein: Da ist ja ein großes Happy End angelegt in dem Entlein, das wird ein schöner Schwan. Was für mich sehr wichtig ist bei Andersen, das ist das Anrührende. Das finde ich in anderen Volksmärchen nicht, Andersen war immer mein Lieblingsmärchenautor schon als Kind, weil der hat es geschafft, dass ich zu heulen anfing. Das schafft man mit den Volksmärchen nicht, da sind die zu hölzern."
Zitat:
"Die Schneekönigin küsste Kay noch einmal, und dann hatte er die kleine Gerda und die Großmutter und alle daheim vergessen. ‚Nun bekommst du keine Küsse mehr!‘, sagte sie. ‚Denn sonst küsse ich dich tot!‘ Kay betrachtete sie, sie war schön, ein klügeres, anmutigeres Antlitz konnte er sich nicht vorstellen. Jetzt kam sie ihm nicht wie ein Gebilde aus Eis vor wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte. In seinen Augen war sie ein vollkommenes Wesen. Er fühlte durchaus keine Furcht vor ihr, erzählte ihr, dass er im Kopfe rechnen könnte und sogar mit Brüchen, er wüsste die Quadratmeilen und die Einwohnerzahl des Landes und sie lächelte zu allem. Da schien es ihm, als wäre, was er wüsste, doch noch nicht hinlänglich, und er schaute empor zu dem großen, großen Luftraum, und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf zu der schwarzen Wolke, und der Sturm sauste und brauste, als sänge er alte Lieder."
Wie so viele von Andersens Märchen lassen sich auch in der "Schneekönigin" die Symbole von Naturgewalt und individueller Wandlung in direktem Bezug zu Andersens Biographie deuten: als therapeutisches Schreiben, als magische Heilung eines Familiendramas, dessen innere Nachwirkungen auch durch Flucht und Reise nicht zu überwinden waren.

Ursula Mayr:
"Der Vater war ihm sehr zugewandt, hat mit ihm gespielt, hat mit ihm gelesen, war ein geistig reger Vater – ein Stückchen Idealisierung muss man natürlich abziehen. Und der zog in die napoleonischen Kriege, um ein bisschen Geld zu verdienen – die Familie war sehr arm – und kam zurück und war psychisch zerrüttet, hieß es, verrückt, geistig gestört. Das heißt, der Junge, der war damals auch erst neun, der musste einen völlig anderen Vater jetzt internalisieren und verkraften und damit zurechtkommen, dass er eigentlich zwei Väter hat. Bei der Mutter war es ähnlich, die war schwere Alkoholikerin, und eine Mutter, die nüchtern ist, und eine Mutter, die alkoholisiert ist oder schläft und nicht erweckbar ist, ist eine ganz andere Gestalt. Das heißt, er wusste eigentlich nie, wie er mit seiner Mutter dran ist. Und diese Wandlungssymbole sind, denke ich, in sehr vielen Märchen verarbeitet. Und vor allem bei der Schneekönigin sehe ich einfach diese in der Schneekönigin selbst als verwandelte Mutter, die vereist ist, die erstarrt ist, depressiv ist."
Der dänische Dicher Hans-Christian Andersen.
Hans-Christian Andersen© picture alliance/dpa/Bifab
Es steckt viel Traurigkeit, viel Tod in den Andersen-Geschichten von der Schneekönigin, von der Meerjungfrau, vom Mädchen mit den Schwefelhölzern oder von Hans Tolpatsch. Aber auch eine gehörige Portion Wut.
Zitat:
"‘Das gefällt mir!‘ sagte die Königstochter. ‚Du kannst aber antworten! Und du kannst reden, und dich will ich zum Mann! Aber weißt du, dass jedes Wort, das wir sagen und gesagt haben, aufgeschrieben wird und morgen in die Zeitung kommt! An jedem Fenster siehst du drei Schreiber stehen und einen alten Amtmann, und der Amtmann ist am schlimmsten, weil er nichts versteht!‘ Und das sagte sie nun, um ihm bange zu machen. Und alle Schreiber wieherten und klatschten einen Tintenfleck aufs Parkett. ‚Das ist eine feine Herrschaft!‘ sagte Hans Tolpatsch. ‚Da muss ich dem Amtmann gleich das Beste geben!‘ und dann drehte er seine Taschen um und warf ihm den Matsch ins Gesicht."
Wo beides herkommt, die Trauer und der Zorn, das erfährt man ebenfalls aus Andersens Biographie. Kaum ein Schriftsteller ist ja so aus seiner Biographie heraus erklärt, durchleuchtet und dann auch wieder missverstanden worden wie Hans Christian Andersen.

Andersen lieferte selbst Material zur Legendenbildung

Daran ist er vor allem selber schuld. In seinen großen autobiographischen Legenden, in seinen Romanen und auch in seinen Märchen hat er dazu reichlich Material geliefert. Denn er erzählt darin vom Einzelnen, der aus dem sozialen Elend erlöst werden kann, der sich mit Hilfe der Vorsehung selber erlöst, weil – wie es im Selbstportrait des Dichters als hässliche Ente heißt – wer in einem Schwanenei gelegen ist, alle schmerzlichen Erfahrungen überwindet. Diese Wandlung macht man bis zu einem gewissen Grad beim Lesen und Wiederlesen der Märchen selber mit. In all den Gefahren, den Grausamkeiten, der Todesnähe ersteht das Glück, unzweifelhaft man selber, eine autonome Person zu sein oder zu werden.
Das war zu den damaligen Zeiten skandalös und utopisch genug. Dazu kommt die doppelte Perspektive: Die Erzählung für Erwachsene, die sich nach der Unschuld der Kindheit zurücksehnen, und die Erzählung für Kinder, die erahnen, dass es einen Zustand der Unschuld nicht gibt.
Heinrich Detering:
"Nach dem ersten Erfolgen, die ihn völlig überrascht haben, schreibt er, er schreibe nicht nur für Kinder im engen Sinne dieses Lebensalters, sondern eigentlich für zwei Rezipientengruppen gleichzeitig, nämlich für Kinder, denen Erwachsene über die Schulter schauen, und auch die sollen etwas zum Nachdenken haben’ – so drückt er sich aus."
– Literaturwissenschaftler Heinrich Detering.
"Überhaupt muss man sagen dass das Wort Kind bei ihm zunehmend zu einer Metapher wird nicht für ein Lebensalter, sondern für eine bestimmte Haltung zum Leben, für eine Offenheit, eine Neugier, die sich in allen Lebensaltern finden lässt. Es ist ganz deutlich, dass je länger, desto mehr Andersen Märchen sich vielleicht auch an Kinder, also kleine Leute richten, aber vor allen Dingen doch an Erwachsene, die satirische Anspielungen, Schärfen, Doppeldeutigkeiten, auch erotische Komplexe wahrnehmen können. Und dass manchmal Andersen die Adressierung an Kinder vielleicht auch als eine Art Vorwand gebraucht, als Camouflage-Technik, um Dinge schreiben zu können, die auf andere Weise sehr anstößig gewesen wären. Er stellt sich auf raffinierte Weise naiv."
Zitat: "‘Ich kann mich selbst sehen, ich kann mich selbst sehen!‘ plauderte die Narzisse. ‚Oh, oh, wie ich dufte! Oben in dem Dachkämmerlein steht halb angekleidet eine kleine Tänzerin; bald steht sie auf einem Beine, bald auf beiden, die ganze Welt stößt sie mit Füßen fort, aber es ist nichts als Blendwerk. Sie gießt Wasser aus der Teekanne auf ein Stückchen Zeug, das sie hält: Es ist ihr Schnürleibchen! Ja, ja, Reinlichkeit ist das halbe Leben! Das weiße Kleid, das dort am Haken hängt, ist auch in der Teekanne gewaschen und auf dem Dache getrocknet. Wenn sie es anzieht, bindet sie das safrangelbe Tuch um den Hals, dann scheint das Kleid weißer. Hoch das Bein! Sieh, wie sie sich auf einem Stiele bläht! Ich kann mich selbst sehen! Ich kann mich selbst sehen!‘ - ‚Das ist mir ganz gleichgültig!‘ sagte Gerda. ‚Das ist wohl keine passende Erzählung für mich!‘ Und dann lief sie bis an den Rand des Gartens."
Nicht die seltsamen traumhaften Erzählungen der Blumen mit ihren wilden Phantasien helfen der kleinen Gerda weiter, sondern der eigene Entschluss, die Türe des Zaubergartens zu öffnen und das Reich der nicht wirklich bösen Hexe zu verlassen, die vielleicht einfach nur jemanden zum Zuhören braucht, vielleicht aber doch auch verborgene andere Interessen an dem hübschen Mädchen hat. Gerda jedenfalls verlässt diesen Garten der Märchen mit einer ziemlich klaren Erkenntnis.
"Oh, wie grau und schwer es in der weiten Welt doch ist!"
Andersens tiefe Verletzung entstammte nicht nur einem persönlichen Leid, sondern auch dem sozialen Elend des Milieus, in dem er aufgewachsen war. Dieses Milieu war von der rapiden Verelendung des kleinen Handwerks geprägt, das noch konsequenter als der Bauernstand von den sozialen Umbauprozessen abgekoppelt wurde. Und dieser Stand war nicht in der Lage, sich zum Widerständigen, gar Revolutionären zu bilden; die Sehnsucht ging stattdessen zurück in eine vermeintlich bessere Vergangenheit, hin zu Religion, Mythos und Traum. Andersens Familie lässt sich beschreiben als die Beziehung von Menschen, die auf sehr verschiedene Weise über der Ausweglosigkeit der Situation den Verstand zu verlieren drohten. Die Klasse, zu der sie gehörte, hatte keinen Platz mehr, nicht einmal unten; sie sollte gefälligst einfach verschwinden.

Harte Erziehung durch die Gesellschaft

Der junge Andersen verschwand – nach Kopenhagen. Da es zwar mit seinen Karriereträumen nichts wurde, er aber doch immer wieder Gönner und Freunde fand, erlebte Andersen die Stadt zugleich als Befreiung und als neues Gefängnis. Denn immer wieder musste er "Erziehungsprozesse” durchlaufen. Die Gesellschaft der aufgeklärten Stadt verlangte von dem so sonderbaren wie auch gewinnenden Ankömmling für jede noch so kleine Zuwendung das Recht, ihm durch Disziplin, Bildung und Sitte den rechten Weg zu weisen.
"Wie ein wilder Vogel, der in einen Käfig gesteckt ist."
… fühlte er sich – und die Metapher wird beständig wieder aufscheinen, in den Märchen wie auch in seinen "realistischen” Romanen. Ebenso wie das sadistische Spiel der Zurichtung, durch das sich Andersen offensichtlich weitere psychische Schäden holte. Hypochondrie und manische Empfindlichkeit gegenüber Kritik und Zurückweisung machten aus ihm den Bürger, der auch in dieser Klasse nicht zu Hause war.
Heinrich Detering: "Wenn man ein Drama liest, auf das er relativ stolz war und das es auch noch zu einem gewissen Nachleben gebracht hat wie "Der Mulatte", ein antikoloniales Drama, dann stellt man fest, dass er ganze Szenen und Repliken aus Shakespeare und aus Schiller und von Goethe übernimmt, neu kombiniert, mit eigenen Einfällen zusammenbringt."
In Theaterstücken wie zum Beispiel "Der Mulatte" hat Andersen seinen Status als Paria unter den Mächtigen beschrieben. In die Schilderung von Dankbarkeit und Fremdheit mischen sich da auch wenig schmeichelhafte Beobachtungen. Aber absurderweise findet er nicht einmal in seiner Dichtung eine wirkliche Identität.
"Man könnte aus Andersons 156 Märchen und Geschichten allein schon eine ziemlich umfangreiche Literaturgeschichte über mehrere Jahrhunderte rekonstruieren. Das Bemerkenswerte ist, dass er selbst in seiner Programmschrift ‚Die Muse des neuen Jahrhunderts‘ von 1859 eine Kunst der Collage aus unterschiedlichsten weltliterarischen Quellen geradezu programmatisch proklamiert. Er fordert von einer kommenden Kunst, sie möge – und das ist jetzt wörtlich aus Andersen Schrift zitiert – sie möge …"
"...alle Traditionen kurz und klein schlagen und die Trümmer neu zusammensetzen."

Die leidvolle Person im Märchen zertrümmern

Man möchte so etwas vielleicht nicht nur mit der Literatur, sondern auch mit der Welt, mindestens aber mit dem eigenen Leben machen. Nur im Märchen ist es möglich, seine leidvolle Person fachgerecht zu zertrümmern und sie glanzvoll neu zusammen zu setzen. In der Wirklichkeit scheitert es nicht nur an der Liebe, für die es für einen wie Hans Christian Andersen kein akzeptables Objekt gibt, sondern auch an der Kälte der sozialen Klassen. Zeit seines Lebens hat sich Andersen um die Gunst und die Zuneigung der besseren Kreise, des Adels bemüht, und sein Ruhm hat ihm auch die eine oder andere Tür in die Schlösser und Villen geöffnet. Und doch ließ man ihn immer spüren, dass er nie dazugehören, nie wirklich ein Schwan werden würde. Sondern für immer eingeschlossen bleiben würde im Reich seiner ganz persönlichen Schneekönigin, der Literatur.
"Der kleine Kay war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es doch nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer weggeküsst, und sein Herz war so gut wie ein Eisklumpen. Er ging und schleppte einige scharfe, flache Eisstücke herbei, die er auf alle mögliche Weise zusammen legte, um ein gegebenes Muster nachzubilden, geradeso wie wenn wir kleine Holzstückchen zu bestimmten Figuren zusammenpassen, was das chinesische Spiel genannt wird. Kay ging auch und legte Figuren, es waren die allerkunstreichsten, es war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren diese Figuren ganz ausgezeichnet und von der allerhöchsten Wichtigkeit; das bewirkte das Glaskörnchen, das ihm im Auge saß; er legte ganze Figuren, die ein geschriebenes Wort bildeten, aber immer scheiterte er an der Zusammensetzung des Wortes, das er gerade wünschte, des Wortes ‚Ewigkeit‘."
Kay, der Künstler im Eisschloss, kommt beim "Eisspiel des Verstandes” nicht auf das Lösungswort, das ihn befreien könnte. Dass er gerettet wird, verdankt er einzig und allein seiner schwesterlichen Freundin Gerda, die Natur und Gefühl zu bewahren wusste. Durch ihre Tränen wird sein eisiges Herz gerettet, und durch ihre Liebe werden die Eisstücke belebt.
Ein Märchen zwischen Traumspiel und philosophischem Essay, eine Geschichte, die gegen die Entzauberung der Welt protestiert. Oder auch gegen eine Schule, die ein eisiges Gefängnis ist, in dem nur kaltes Wissen vermittelt wird. Die philosophische Metapher war für die Zeitgenossen leicht zu dechiffrieren: Hütet euch vor der Perversion der Aufklärung in kalte, rationalistische Lehre und ebenso vor der seelischen Vereisung des Puritanismus. Ebenso leicht waren die sozialen Metaphern in Andersens Märchen zu erkennen: Der wahre Adel eines Menschen kommt weder von seiner Herkunft noch von seinen Insignien – wie man an "Des Kaisers neuen Kleidern" sieht – sondern aus dem Inneren des Menschen, seiner Empfindsamkeit – wie sich in "Die Prinzessin auf der Erbse" zeigt– und seiner Klugheit – mit der "der kleine Klaus den großen Klaus" überwindet, der Prolet den Grundbesitzer. Andersens Märchen-Geschichten sind nicht nur Revolten gegen die Pädagogik seiner Zeit. Sie lassen sich bis heute subversiv lesen als Revolten gegen Anpassung, seelische Vereisung und Entfremdung.
"Da saßen die beiden, Erwachsene und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer erquickender Sommer."
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