Günter Morsch: "Diese Ort sind Orte der Wahrheit"

Günter Morsch im Gespräch mit Andreas Müller · 13.08.2010
Anfang der Woche wurden bei einem Brand in der KZ-Gedenkstätte Majdanek 10.000 Häftlings-Schuhe zerstört. Ein unersetzbarer Verlust, sagt Günter Morsch. Diese Orte müssten erhalten bleiben, um zu zeigen, was wirklich geschehen ist.
Andreas Müller: Berge von Haaren, Tausende Schuhe, Brillengestelle, Zahnprothesen – die Überbleibsel von Menschen, ermordet von Nazischergen im KZ. Es ist ein grausiger Anblick, und das soll auch so sein – für Besucher von KZ-Gedenkstätten. Es sind einerseits authentische Erinnerungsstücke, andererseits aber auch allein durch ihre schiere Masse erschreckende Mahnmale, die bedroht sind, weil die Orte, an denen sie aufbewahrt werden, teilweise marode sind – in der KZ-Gedenkstätte Majdanek brannte am Anfang der Woche eine Baracke und mit ihr verbrannten 10.000 Schuhe damaliger Häftlinge – und weil die Artefakte selbst verfallen.

Wie geht man damit um? Soll man sie restaurieren, erhalten oder gar ersetzen? Ich begrüße jetzt Professor Günter Morsch, er ist der Leiter der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen und Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Schönen guten Tag!

Günter Morsch: Guten Tag, Herr Müller!

Müller: Warum sind diese originalen Gegenstände und Überbleibsel so wichtig für das Erinnern? Der Direktor der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Avner Shalev, sagte am Dienstag, die Zerstörung dieser unersetzlichen Erinnerungsstücke ist ein herber Verlust für die für Europäer und Juden historisch ungemein wertvolle Gedenkstätte.

Morsch: Da kann man Herrn Shalev nur zustimmen. Es ist natürlich so, dass diese Relikte vor allen Dingen eins sind, sie sind Corpus Delicti, das heißt Beweise dessen, was dort geschehen ist, und sie vermitteln natürlich auch gerade mit dem beginnenden Ende der Zeitzeugenschaft das Geschehen doch sehr viel unmittelbarer, als dies andere Medien vermögen. Von daher ist es wirklich ein unersetzbarer Verlust.

Müller: Aber warum müssen diese Dinge denn nun unbedingt echt sein, das ist ja fast schon, als erhöhe das den, ich sag mal, Kitzel des Grauens für Besucher dort?

Morsch: Die eine Frage ist, ob man die so präsentieren soll, darüber können wir gleich noch mal reden, aber Ihre Frage direkt: Diese Ort sind Orte der Wahrheit. Das klingt ein wenig pathetisch, ist aber durchaus ernst gemeint. Schauen Sie, die ganze Medienüberflutung, mit der wir es zu tun haben, mit der junge Menschen auch kämpfen müssen – im Internet und im Fernsehen, wo auch immer –, in der Fiktionen gezeigt werden der Vergangenheit, da ist es ganz wichtig, dass es Orte der Wahrheit gibt, die wirklich tatsächlich echt sind.

Das heißt, hier kann man hingehen und man weiß, hier ist es geschehen, und was ich sehe, ist nicht eine Reinszenierung, sondern es ist ein Relikt. Das heißt, wir weigern uns schon seit vielen Jahren – seit etwa 15 Jahren gibt es diesen Common Sense in den Gedenkstätten –, dass nichts reinszeniert wird. Wenn etwas verfällt, dann soll es als solches erhalten werden, aber nicht reinszeniert werden, um diesen authentischen Wahrheitscharakter nicht zu verfälschen.

Müller: Wie werden diese Objekte – Schuhe, Kleidung, Koffer, aber ja auch menschliche Überreste wie Haare oder Zähne – denn gelagert überhaupt?

Morsch: Ja, das ist tatsächlich umstritten. Ich denke mir, das ist das Ergebnis einer Zeit gewesen, einer gewissen Schau auch der Zeitgenossen auf diese Überlieferungen. Heute, denke ich mir, macht dieses wenigen Sinn. Ich glaube, es macht Sinn, wirklich diese Gegenstände konservatorisch aufzubewahren, nach den entsprechenden Regeln, und man sollte drüber nachdenken, ob man die menschlichen Relikte nicht bestattet.

Das haben wir hier getan in Sachsenhausen. Wir haben beim Bau der unterschiedlichen Einrichtungen – wir haben viele Gebäude saniert, dort haben wir menschliche Überreste gefunden und wir haben sie dann unter Beteiligung aller Religionsgemeinschaften bestattet.

Also ich wäre dafür, dass die menschlichen Relikte bestattet werden, und ich wäre dafür, dass das, was noch erhalten ist an Schuhen und desgleichen mehr, dass dies unter konservatorisch sicheren Bedingungen gelagert wird. Das heißt, man wird dann tatsächlich auf solche Inszenierungen wie Schuhberge möglicherweise verzichten müssen. Ich verstehe sehr, dass das den letzten Überlebenden sehr weh tut, wenn wir dies tun, aber es ist in ihrem Sinne, in dem Sinne der Erhaltung der Erinnerung.

Müller: Was wird denn getan konservatorisch, um diese Dinge vor dem Verfall zu bewahren, also wenn wir jetzt mal über Kleidung, Dokumente, die Koffer et cetera sprechen?

Morsch: Nun, in den Gedenkstätten hat seit der deutschen Einheit in Deutschland ein Wandel stattgefunden, den ich immer mit einem Paradigmenwechsel verglichen habe, weil er wirklich ziemlich grundlegend ist. Und zwar haben wir uns in zeithistorische Museen verwandelt, und das bedeutet, dass wir tatsächlich Sammlungen betreiben, dass wir konservatorische Regeln beachten, dass wir etwas tun, was vor 1989 durchaus nicht üblich war.

Und genau das müssen wir jetzt auch tun. Wir haben hier in Sachsenhausen, aber auch in Ravensbrück, das ja auch zur Stiftung gehört, große Depots, in denen die Gegenstände entsprechend den konservatorischen Bedingungen gelagert werden, also Textilien in einer bestimmten Weise, Schuhe zum Beispiel, Ledersachen werden teilweise sogar eingefroren, um sie zu erhalten, was auch immer.

Das sind eigentlich Dinge, die die Museen schon seit vielen Hundert Jahren machen und von daher zwar immer wieder modernisieren, aber eine große Tradition und Erfahrung haben, und davon müssen wir lernen.

Müller: Sie kennen ja nun die Gedenkstätte in Majdanek sehr gut, es ist ja sicherlich auch eine Frage der Kosten, es hieß ja, dass eine marode Stromleitung womöglich schuld sein könnte an diesem Brand dieser Baracke. Was kostet das eigentlich und ist man in Lublin in der Lage, das überhaupt aufzubringen?

Morsch: Also genau weiß ich natürlich mit dem Haushalt von Lublin nicht Bescheid, aber ich muss wirklich sagen, in Lublin ist eine der eindrucksvollsten Gedenkstätten, wenn nicht die eindrucksvollste. Es ist ja so, dass kurz nach der Befreiung, also zwei Tage schon danach, ist das ganze Lager unter Denkmalschutz gelegt worden und damit weitestgehend erhalten.

Das ist anders als hier in Deutschland – ob Dachau, ob Buchenwald, Bergen-Belsen oder Sachsenhausen –, überall haben viele Menschen viele Relikte beseitigt. Das ist in Lublin nicht so, von daher ist das wirklich ein einzigartiger Ort in seinem Erhaltungszustand.

Ich glaube schon, dass die Kollegen damit überfordert sind. Ich würde dafür plädieren, dass wir gerade, auch wir Deutschen uns an der Erhaltung dieser Orte in Polen beteiligen – ich glaube, das ist auch eine Pflicht für uns –, und ich weiß, dass dies zum Beispiel für Auschwitz auf jeden Fall schon geschieht. Und wenn man mich fragen würde, würde ich dafür plädieren, dass wir dies auch für Majdanek tun.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Günter Morsch, er ist der Leiter der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen und Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. 1992 brannte in der Gedenkstätte Sachsenhausen die sogenannte jüdische Baracke, das war Ergebnis eines rechtsradikalen Anschlages. Wie ist man denn damals mit den Zerstörungen umgegangen?

Morsch: Nun, damals hat es tatsächlich diese grundlegende Debatte noch gegeben, das heißt, es gab durchaus Menschen, die dafür plädiert haben, die Baracke eins zu eins wiederaufzubauen. Es gab ein antifaschistisches Zimmererkollektiv, wie es sich nannte, das war bereit, in ehrenamtlicher Arbeit das zu tun, was ja auch ein besonderer Wert ist. Dann gab es eine sehr, sehr ausführliche Debatte unter den Gedenkstätten – mit Experten, mit dem Landeskonservator und vielen anderen, gerade auch den Kollegen aus Polen, die ja, was konservatorische Maßnahmen anbelangt, für uns immer Vorbild sind. Und das Ergebnis war genau das, was ich Ihnen zu Anfang gesagt habe, nämlich dass man sich geweigert hat, Dinge nachzubauen, weil dies Orte der Wahrheit sind.

Das heißt, wir haben an dieser Stelle, wo der Flügel der ehemaligen jüdischen Baracken 39 und 38 abgebrannt war, dort haben wir einen Neubau errichtet, der zwar die Kubatur der alten Baracke aufnimmt, aber mit anderen Materialien, in dem Fall Cortenstahl, tatsächlich deutlich macht: Wir wollen hier nicht so tun, als sei nichts geschehen, und wir wollen nicht wirklich etwas vortäuschen, was nicht ist. Und in diesen Neubau haben wir dann das Museum für die Geschichte der jüdischen Häftlinge in Sachsenhausen untergebracht.

Also ich habe seitdem nur sehr viel Anerkennung und Lob dafür erfahren, dass wir das so getan haben und nicht der großen Versuchung – und es war eine Versuchung – nachgegeben haben, die Baracke nachzubauen.

Müller: Sie haben vorhin gesagt, dass die authentischen Gegenstände so wichtig sind, weil wir eben uns an Orten der Wahrheit befinden, und es sind eben Dokumente einer ganz bestimmten grauenvollen Zeit, ganz bestimmter grauenvoller Taten.

Diese Gegenstände machen ja auch für junge Menschen das sicherlich alles greifbarer, allerdings gibt es ja auch, man weiß von enttäuschten Reaktionen von Schulklassen, die dann in eine KZ-Gedenkstätte kommen und enttäuscht sind, weil sie keine Gaskammern zum Beispiel besichtigen können. Es ist so ein Trend zur Eventisierung, zum Erlebenwollen von Grauen. Braucht man nicht dann noch mehr Abstraktion, letztlich weg von Schuh, Koffer und dem Mantel?

Morsch: Ob das die Reaktion darauf ist, wage ich zu bezweifeln, aber was richtig ist, ist das, was Sie beschreiben. Es gibt Enttäuschungsreaktionen, das kommt aber auch davon, dass wir uns in einer Zeit des Wandels befinden, dass wir sozusagen die Zeitzeugenschaft eben verlieren und von daher das Bedürfnis danach, etwas tatsächlich authentisch zu erleben, wächst. Wir müssen klarmachen, schon in den Schulen, wir machen das eigentlich im Vorfeld, dass sie eine Gedenkstätte betreten und kein KZ.

Wobei, was ja ganz entscheidend ist: Selbst wenn alles in einem KZ da wäre, würde es nichts aussagen, denn das KZ waren ja nicht die Baracken, das KZ war die Schläge, war der Gestank, war das Schreien, war das Gequältsein – das macht das KZ. Anders als beim Kölner Dom zum Beispiel können Sie aus der Betrachtung einer Baracke nicht die Geschichte dieser Baracke erschließen.

Das heißt, was wir damals daraus gefolgert haben, ist: Wir wollen an diesen authentischen Orten dann auch Ausstellungen haben, die die Gegenstände, die wir zeigen, kontextualisieren, in einen historischen Zusammenhang stellen und erklären. Und nur so ist dies, glaube ich, möglich, und, glaube ich, das ist schon der richtige Weg. Dabei müssen wir aber – ganz wichtig – auf die Relikte setzen, auf die Artefakte setzen, denn sie transportieren sehr viel mehr Anschaulichkeit, als wir dies mit unseren Methoden der Ausstellung könnten.

Müller: Was glauben Sie, werden die Gedenkstätten in 50 Jahren noch so bestehen wie heute oder werden sie trotz allen konservatorischen Einsatzes verfallen?

Morsch: Also am konservatorischen Einsatz kann es nicht liegen. Wir haben zum Beispiel hier eine Baracke, das ist wahrscheinlich die älteste, von 1936 ist die noch, zwei große, riesige Baracken oder Revierbaracken. Als wir die vor fünf, sechs Jahren restauriert haben, mussten wir zwei oder drei Hölzer an Türen auswechseln, ansonsten haben wir die wirklich eins zu eins so übernehmen können, restaurieren können, ohne sie zu verfälschen.

Wir haben lange inzwischen in der Restaurierungserfahrung der vergangenen Jahre genug Kenntnisse gesammelt, damit wir dieses wirklich bewahren können. Das heißt, es liegt nicht am Wissen darüber, wie man etwas bewahrt, das ist zu bewahren, es liegt am Wollen der Gesellschaft, ob sie es will. Und da muss ich Ihnen sagen, bin ich mir selber nicht so sicher, ob in 50 Jahren man das noch will. Das sei anderen Generationen anheimgestellt.

Müller: Sagt Professor Günter Morsch, der Leiter der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen, und er ist Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Haben Sie vielen Dank!

Morsch: Danke Ihnen!