Griechisch für Anfänger

Von Thomas Bormann · 11.03.2013
Immer mehr Touristen aus der Türkei reisen nach Griechenland und da besonders auf die griechischen Inseln in der Ägäis. Damit stoßen sie in die Lücke, die die krisengeschüttelten Griechen gelassen haben. Ein Highlight der neuen Liaison: griechisch-türkische Speisekarten.
Die Fähre mit dem Namen "Turyol IV" hat 250 Passagiere und sechs Autos an Bord. Das Schiff ist vor eineinhalb Stunden im türkischen Städtchen Ayvalik gestartet und legt nun im Hafen von Mytilini an, dem Hauptort der Insel Lesbos.

Von seinem Bürofenster aus im Rathaus Mytilinis kann Bürgermeister Dimitris Vounatsos Tag für Tag beobachten, wie Hunderte Besucher aus der Türkei auf seine Insel kommen:

"Wir mögen sie", sagt der Bürgermeister:

"Es sind ehrliche Leute; fast alle aus der städtischen Mittelschicht: Ärzte, Anwälte, Handwerker, Händler. Sie kommen her, besuchen unsere Museen - und sie gehen einkaufen. Sie kaufen Markenware, Schmuck, Kleidung, Schuhe - und sehr, sehr viel Ouzo."

Bei so viel Gastfreundschaft fühlen sich die Besucher aus dem Nachbarland wohl:

"Wir stammen selbst von der Ägäis-Küste, aus Dikili. Die Insel Lesbos liegt genau gegenüber. Von Dikili aus sehen wir Lesbos, wir sehen sogar die Autos, die dort fahren, so nah ist das. Deswegen hat diese Insel hier für uns einen besonderen Stellenwert."

Hier kommen sich die Türkei und Griechenland geografisch sehr nahe; an der engsten Stelle ist die Insel nur fünfeinhalb Kilometer vom türkischen Festland entfernt.

Trotzdem: Über mehrere Generationen hinweg war die Grenze praktisch dicht. Die jeweils andere Seite galt als Feindesland. Auch heute noch ist das griechisch-türkische Verhältnis von Misstrauen geprägt, vom Konflikt um die geteilte Mittelmeer-Insel Zypern; vom Streit um Bodenschätze in den Tiefen der Ägäis.

Vieles trennt Griechen und Türken. Aber vieles verbindet sie auch. Eine Touristin aus Istanbul sagt: Sie fühlt sich fast wie zu Hause hier auf Lesbos:

"Die Menschen hier sind uns ähnlich, sie sind genauso temperamentvoll wie wir."

Ihre Freundin nickt und sagt über die Einwohner von Lesbos:

"Ja, sie sind sehr freundlich. Einige sprechen sogar Türkisch. Gestern Abend in der Taverne zum Beispiel: Da wurden griechische Lieder gespielt mit Bouzuki und Gitarre. Und als die Musiker merkten, dass wir Türken sind, sangen sie halb auf Griechisch, halb auf Türkisch. Die Melodien beider Länder sind eh gleich. Wir haben dort einen wunderschönen Abend verbracht."

Gemeinsame Melodien, gemeinsame Tänze, gemeinsame Traditionen. Diese Gemeinsamkeiten haben ihre Wurzeln in der langen osmanischen Herrschaft auf der Insel - 450 Jahre lang gehörte Lesbos zum Osmanischen Reich, oder, wie es heute noch in manchen Prospekten auf der Insel heißt: 450 Jahre lang litt Lesbos unter türkischer Sklaverei.

Erst vor 100 Jahren, im Herbst 1912, wurden die osmanischen Besatzer vertrieben; Lesbos kam zu Griechenland.

Zehn Jahre später, 1922, wuchs die Zahl der Einwohner auf der Insel sprunghaft an. Denn nach dem türkisch-griechischen Krieg hatten die beiden verfeindeten Nachbarländer einen "Bevölkerungsaustausch" vereinbart, ein verharmlosender Begriff für massenhafte Vertreibung und Flucht. Eineinhalb Millionen Griechen mussten ihre Heimat auf dem anatolischen Festland verlassen und flüchteten nach Griechenland, viele von ihnen fanden auf Lesbos ein neues Zuhause.

Schlimme Zeiten waren das damals, sagt ein Hotelbesitzer auf Lesbos, der heute Zimmer in einer alten osmanischen Villa vermietet:

"Vor vielen Jahren, vor 1922, haben hier auf der Insel auch viele türkische Familien gewohnt. Aber nach dem Bevölkerungsaustausch 1922 sind die alle in die Türkei gegangen. Deren Enkel oder Großenkel kommen jetzt her und schauen sich die Häuser ihrer Vorfahren an."

So holen die Besucher aus der Türkei das nach, was die Einwohner von Lesbos schon vor Jahren gemacht hatten:

"Aber Sie dürfen nicht vergessen: Früher sind die Griechen in die Türkei gereist: Manche wollten die Häuser ihrer Vorfahren anschauen; andere wollten einkaufen, weil dort früher alles sehr billig war, jetzt ist es dort gleich teuer."

Und jetzt steckt Griechenland tief in der Krise. Auch auf Lesbos ist die Zahl der Arbeitslosen hoch. Jeder fünfte hat keine Arbeit; kaum jemand auf der Insel kann sich eine Auslandsreise leisten.

In der Türkei hingegen ist von Wirtschaftskrise nichts zu spüren, im Gegenteil: Der Wohlstand wächst; immer mehr Türken möchten etwas von der Welt sehen und fangen mit einer Reise ins Nachbarland an.

Maria Andrianaku von der Touristeninformation auf Lesbos findet das ganz prima:

"Es ist gut für beide Seiten. Nicht nur, weil das die Wirtschaft ankurbelt, sondern auch weil sich die Menschen näherkommen, sich treffen."

Indirim, steht auf großen Plakaten in den Schaufenstern der Einkaufsstraße von Mytilini. "Indirim" ist türkisch und heißt "Preisnachlass". Hier wird auf türkischer Sprache gute Ware zu günstigem Preis angeboten. Die Ladenbesitzer haben sich auf die Gäste aus dem Nachbarland eingestellt, auch die Gastwirte.

Speisekarten sind fast durchweg in griechischer und türkischer Sprache gedruckt, erst als dritte Sprache findet der Gast in manchen Restaurants Englisch, selten auch Deutsch, aber Türkisch ist mittlerweile überall zu sehen auf Lesbos.

"Ja, das ist genauso wie in der Türkei. Dort haben die Läden in den Küstenorten oft griechische Plakate. Es ist eben schön, wenn Du etwas in Deiner eigenen Sprache siehst."

Sagt Maria Andrianaku von der Touristeninformation. Bei ihr im Pavillon gibt es natürlich auch Prospekte über die Insel in türkischer Sprache.

Dimitris Vounatsos, der Insel-Bürgermeister, möchte den Besuchern aus dem Nachbarland den Weg nach Lesbos noch stärker erleichtern:

"Wir wollen zwei neue Fährhäfen für Besucher aus der Türkei öffnen: Einen in Molivos im Norden und einen in meiner Heimatstadt Plomari im Süden. Wir wollen, dass die Regierung schnell darüber entscheidet, damit die Besucher uns auch dort besuchen können und nicht nur in Mytilini."

Bürgermeister Vounatsos hatte im vergangenen Sommer seine Amtskollegen von 15 Städten der türkischen Küste bei sich zu Gast im Rathaus. Vounatsos möchte, dass die Gemeinden über die griechisch-türkische Staatsgrenze hinweg zusammenarbeiten, nicht nur im Tourismus, auch im Umweltschutz, bei der Fischerei oder bei der Nutzung von Windenergie. Dimitris Vounatsos hat viele Pläne zusammen mit seinen türkischen Kollegen und findet dafür große Worte:

"Das ist die neue Politik, die wir hier auf der Insel eingeführt haben: eine Politik des Friedens, der Freundschaft und der Kooperation der beiden Völker, und zwar ohne jeden Schatten: sauber, ehrlich, konkret."

Und er fügt noch einen ganz praktischen Nutzen für seine Insel hinzu:

"Und natürlich, jetzt in der schwierigen Zeit der Krise, brauchen wir jede Geldquelle. Da ist das Geld, das von der anderen Küste kommt, besonders willkommen."

Doch bevor türkischen Touristen diese neue Politik des Friedens und der Freundschaft auf Lesbos genießen können, müssen sie ein bürokratisches Hindernis überwinden:

Wir müssen uns erst Mal ein Visum besorgen, sagt dieser Besucher aus Istanbul. Ein Visum: Das heißt den Pass und persönliche Dokumente einreichen beim Büro für griechische Visa in Istanbul oder in Izmir, 80 Euro Gebühren bezahlen pro Person, Formulare ausfüllen, Verdienstbescheinigungen vorlegen und warten, ob der Visum-Antrag genehmigt wird, ob der Konsularbeamte tatsächlich das Visum in den Pass klebt. Ja, das ist schon lästig, meint Güngür aus Izmir, der in Hildesheim aufgewachsen ist. Ohne Visum geht’s leider nicht:

"Sonst dürfen wir nicht, weil, wir sind nicht EU, das ist ja das einzige Problem für die Türken, aber naja, irgendwie kriegen wir das schon hin."

Mit dem Visum, das die Reise nach Lesbos ermöglicht, könnte der junge Mann gleich bis Hildesheim weiterreisen. Denn Griechenland gehört zum Schengen-Raum. Türken, die Griechenland besuchen wollen – und sei es auch nur für einen Tagesausflug nach Lesbos, brauchen ein Schengen-Visum, das dann auch für den gesamten Schengen-Raum gilt, also fast für ganz Europa. Aber das Schengen-Visum ist nicht leicht zu bekommen und es ist teuer - das schreckt viele Türken von einem Ausflug auf die griechischen Inseln ab.

Ausnahmen gibt es nur für ganz bestimmte, privilegierte Bevölkerungsgruppen:

"Im Jahr 2010 hatte die griechische Regierung beschlossen, die visumfreie Einreise von den so genannten grünen Reisepässen aus der Türkei zu erlauben. Der türkische Staat gibt nämlich für höhere staatliche Beamte diesen besonderen Reisepass aus."

Sagt Viktor Maligoudis, der griechische Konsul in Istanbul.

"Das hat den Tourismus in Griechenland, insbesondere in den Inseln im Osten, also auch in Nordgriechenland, einen Aufschwung gegeben: 180 Prozent mehr Einreisen aus der Türkei im Vergleich zu früheren Jahren."

Viktor Maligoudis spricht so gut Deutsch, weil er in Thessaloniki auf die deutsche Schule ging und in Heidelberg studierte.

Weder Konsul Maligoudis noch die griechische Regierung können allein über Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger entscheiden. Nein, alle Länder des Schengen-Raums müssen zustimmen, also auch Deutschland – und gerade die deutsche Regierung hält an der Visumpflicht für türkische Staatsbürger fest.

Immerhin, probeweise gab es im vergangenen Sommer ein erleichtertes Verfahren. Das Visum kostete zwar immer noch 60 Euro pro Person, aber die Gäste aus der Türkei bekamen es direkt an der Grenze, im Hafen. Viktor Maligoudis:

"Seit Juni bis September 2012 konnten Türken in fünf griechischen Inseln einreisen und dort direkt an der Stelle ein Visum bekommen. Das waren Rhodos, Kos, Samos, Chios und Lesbos. Das ganze Verfahren ist gut abgelaufen und wird jetzt zusammen mit den zuständigen EU-Behörden im Detail evaluiert. Und wir hoffen natürlich, dass es nächstes Jahr wiederholt werden kann."

Aber auch jetzt im Frühjahr – ohne Visum-Erleichterung - reisen viele Besucher aus der Türkei nach Lesbos; viele von ihnen haben ein Dauervisum im Pass. Es berechtigt für beliebig viele Einreisen und gilt für ein Jahr oder noch länger. Vor allem an Wochenenden ist die Fähre voll. Manche Touristen aus der Türkei haben schon viele griechische Inseln gesehen:

"Vor drei Jahren haben wir eine richtige Insel-Tour gemacht: Patmos, Santorini, Mykonos, Rhodos, Kreta ... fünf Tage lang von Insel zu Insel. Das hat viel Spaß gemacht."

Reise-Erfahrungen auf griechischen Inseln hat auch diese junge Frau aus Izmir. Über Lesbos meint sie:

"Aber ehrlich gesagt: Die anderen griechischen Inseln haben mir besser gefallen. Rhodos, Kos oder Chios. Da ist es schöner, da gefällt es mir besser, aber: Hier ist es auch gut. Das Essen schmeckt, die Preise sind nicht so hoch, es ist gut!"

Dimitris Vounatsos, der quirlige Insel-Bürgermeister von Lesbos, freut sich über jeden Besucher. Er selbst war allerdings noch nie drüben auf dem türkischen Festland. Warum nicht? Die Antwort überrascht:

"Die türkische Regierung hat im Jahr 1993 erklärt, dass ich und ein Abgeordneter aus England und vier weitere Politiker "Persona non grata" sind, also unerwünschte Personen, die gefährlich für die Türkei sind."

Dimitris Vounatsos war damals Parlamentsabgeordneter der sozialistischen PASOK-Fraktion in Athen gewesen und hatte öffentlich den Anführer der kurdischen Arbeiter-Partei PKK, Abdullah Öcalan, unterstützt. Denn, so sagt Vounatsos noch heute: Ich will, dass jedes Volk in Freiheit leben kann, auch die Kurden. Die PKK gilt in der Türkei (wie auch in der EU) als Terror-Organisation, und so galt der damalige Abgeordnete Dimitris Vounatsos aus Sicht der türkischen Behörden als Unterstützer einer Terror-Organisation, der in der Türkei unerwünscht ist.

Vounatsos legt den Kopf zur Seite und zieht die Augenbrauen hoch. So ist das nun mal, sagt er, aber er wolle eh nicht weg. Er sei hochzufrieden auf seiner Insel Lesbos, die Insel des Lichts, wie er sagt:

"Wir haben hier 320 Tage Sonnenschein im Jahr - und eine wunderschöne Natur."

Mit 11 Millionen Olivenbäumen, die sich über die Hügel der Insel ziehen; da kann wunderbar entlangwandern auf ausgeschilderten Wegen.

Wenn abends die Fähre Richtung Türkei wieder ablegt, herrscht dichtes Gedränge im Hafen. Hinter der Passkontrolle macht praktisch jeder noch einen Schlenker in den kleinen Pavillon, in dem man zollfrei einkaufen kann. Hier gibt es die Spezialitäten der Insel etwas günstiger. Bürgermeister Vounatsos zählt auf, was man unbedingt kaufen muss:

"Nehmen Sie Ouzo von der Insel mit! Und unser gutes Olivenöl, auch unsere Kekse. Und kommen Sie bald wieder in unsere Tavernen, unsere Museen. Wir werden Sie mit Freude begrüßen!"
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