Graphic Novel

Zyklopen und splitternackte Sirenen

"Die Sirenen" von Ernst Stückelberg in der Ausstellung "Homer - Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst" im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim
"Die Sirenen" von Ernst Stückelberg im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim © picture alliance / dpa / Foto: Ronald Wittek
Von Tabea Grzeszyk  · 14.05.2014
"Die Enzyklopädie der Frühen Erde" basiert auf einer Kurzgeschichte. Isabel Greenberg mixt darin antike Legenden mit Episoden aus dem Alten Testament zu einem magischen Märchen.
2011 gewann Isabel Greenberg den "Graphic Short Story Prize“ für ihre Kurzgeschichte "Love in a Very Cold Climate“. Zwei Jahre später erscheint die Geschichte in langer Form als Graphic Novel - zugleich auf Englisch und Deutsch: "Die Enzyklopädie der Frühen Erde“ heißt sie und erzählt die Geschichte einer unmögliche Liebe, die die Autorin leichtfüßig mit der Kulturgeschichte des Abendlandes vermischt. Erfolgreich, schon kurz nach Erscheinen, wurde das Buch zu einer der fünf wichtigsten Graphic Novels des Jahres gekürt.
"Als der Nordler und die Südlerin in den eisigen Gewässern des Südpols in ihren Kanus aneinander vorbeipaddelten, wussten beide im ersten Augenblick, dass sie Seelenverwandte waren.“ Fast schon kitschig eröffnet Isabel Greenberg die Rahmenhandlung ihrer märchenhaften Geschichte über Liebe, Grenzen und Hoffnung. Die Kanuten wollen heiraten, doch das Magnetfeld spielt verrückt und die beiden können sich nicht berühren.
Liebesgeschichte mit Strahlkraft
Sie heiraten trotzdem und lassen sich fortan alles Mögliche einfallen, um ihre erzwungene Distanz zu überwinden: Sie werfen sich Papierfetzen zu, die sie mit Küssen bedecken. Tauschen jeden Morgen die Bettseite, um die Wärme des anderen zu spüren. Und sie erzählen sich gegenseitig Geschichten. Geschickt eröffnet Isabel Greenberg so einen ganzen Reigen von Nebenhandlungen, die der zunächst simplen Liebesgeschichte ihre Strahlkraft gibt.
Denn der Nordler hat bereits eine fantastische Reise hinter sich, bevor er auf seine Frau trifft. Drei Schwestern entdeckten ihn als Findelkind und konnten sich nicht einigen, wer ihn großziehen darf. Sie baten einen Schamanen, die Seele des Kindes zu teilen, doch ein Teil der Seele des Kindes entwischte! Und so muss sich der Nordler - großgeworden - auf die Suche nach eben diesem verlorenen Seelenteil machen.
Frei nach Homers "Odyssee“ lässt ihn die Autorin dabei zahlreiche Abenteuer bestehen: Er besiegt einen einäugigen Zyklopen und zieht an splitternackten Sirenen vorbei. Im fernen Britanitarka zitiert ein Brudermord die Geschichte von Kain und Abel und der Nordler wird Zeuge, wie ein alternativer Turm zu Babel gebaut wird und die Menschen ihre gemeinsame Sprache verlieren. Schließlich verschluckt ihn wie einst Jona ein Wal und bringt ihn zum Südpol, wo er die Südlerin trifft, die sein entwischtes Seelenstück gefunden hat. Und während die beiden Liebenden sich finden, streitet zugleich der Gott "Vogelmann“ mit seinen beiden Kindern, ob der Nordler wirklich ein Happy End verdient hat.
Hommage an die Kunst des Geschichtenerzählens
Die "Enzyklopädie der Alten Erde“ mixt antike Legenden mit Episoden aus dem Alten Testament zu einem magischen Märchen. Die Illustratorin Isabel Greenberg führt mit liebevollen Bildern, die an alte Holzschnitt-Grafiken erinnern, durch ihre verschlungene Geschichte. Dabei kommt sie mit einer reduzierten Farbpalette aus; die meisten Illustrationen sind schwarz-weiß, die nur ab und an mit leuchtenden Gelb-, Rot- oder Blauflächen ergänzt werden. Auf den ersten Blick erinnert diese Graphic Novel durch die einfache Sprache und den in Schreibschrift gehaltenen Text an ein Kinderbuch. Doch durch die Vielzahl an Referenzen wird schnell klar: "Die Enzyklopädie der Frühen Erde“ ist eine gelungene Hommage an die große Kunst des Geschichtenerzählens.

Isabel Greenberg: Die Enzyklopädie der Frühen Erde
Katharina Dittes (Übersetzerin)
Insel Verlag, Berlin 2013
176 Seiten, 28,00 Euro