Götz Aly über Antisemitismus

Neid und Hass auf den Erfolg der Juden

Götz Aly, Moderation: Marie Sagenschneider
Götz Aly auf dem blauen Sofa © Deutschlandradio / Stefan Fischer
Moderation: Marie Sagenschneider · 25.03.2017
Der Historiker Götz Aly forscht seit langem zum Antisemitismus. In seinem neuen Buch "Europa gegen die Juden" widmet er sich dem Zeitraum zwischen 1880 und 1945. Er fragt: Warum hat seit 1880 der Antisemitismus in Europa so stark zugenommen, dass er im Holocaust münden konnte?
Ein Historiker sollte nicht zu weit in der Zeit zurückgehen, weil sonst seine Argumentation unplausibel werde, meint Götz Aly auf dem Blauen Sofa. Zugleich nennt er viele Faktoren, warum das Jahr 1880 für den Beginn eines neuen Antisemitismus steht - nämlich für einen Antisemitismus, der nicht mehr christlich, sondern säkular motiviert ist:

"1880 war das Jahr der großen Pogrome in Russland, die die Auswanderung der dortigen Juden in die USA bewirkt haben. Das war die Industrialisierung. Das war die Demokratisierung auch feudaler Staaten in Alt-Europa, also etwa in Deutschland das freie und gleiche Wahlrecht für den Reichstag."

Antisemitismus sei im ausgehenden 19. Jahrhundert mit sozialen und wirtschaftlichen Fragen verknüpft und dadurch "anschlussfähig" für politische Parteien geworden, sagt Aly.

Neid auf die Bildungserfolge der Juden

Aly hält den Antisemitismus für einen "Teil der europäischen Modernisierung und ihrer Krisen" und bringt ihn mit dem erheblichen Bildungsvorsprung der jüdischen Bevölkerung in dieser Zeit in Verbindung.
Ein Beispiel aus der Zeit um 1900:
"In Berlin haben jüdische Jungs und Mädchen zu 65 Prozent einen höheren Schulabschluss (...) gehabt, aber nur fünf Prozent der christlichen Kinder. Und diese Bildungsdifferenz finden sie überall in Osteuropa, es war in Russland genauso."

30 Prozent der Ärzte seien 1933 in Deutschland Juden gewesen - bei einem Bevölkerungsanteil der Glaubensgruppe von einem Prozent. Genauso sei es bei den Rechtsanwälten gewesen. "Das haben sie aber flächendeckend in Europa."
Explosive, völkermörderische Lage
Dagegen sei es für Menschen aus bäuerlichen und handwerklichen Schichten sehr viel schwerer gewesen, höhere Bildung zu erlangen. Das habe den Neid bei denen hervorgerufen, denen der gesellschaftliche Aufstieg nur sehr viel mühsamer gelang. Aly beschreibt das so:
"Jetzt kommen die anderen nach (…), aber es tanzen vor ihnen die geschickten, flinken Juden, denen das offenbar leichter zufliegt, und da wächst der Hass in dieser Situation."

Dass gravierende Differenzen in der Bildungsentwicklung zu einer explosiven, ja völkermörderischen Lage führen können, beobachtet Aly auch beim Völkermord an den Armenien durch die Türken im Jahr 1915 / 1916 oder auch bei der Ermordung der Hutu durch die Tutsi in Ruanda 1994.

Götz Aly: Europa gegen die Juden 1880-1945
S. Fischer, 432 Seiten, 26 Euro

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