Göttliches Ballspiel

Vorgestellt von Arno Orzessek · 19.02.2006
Dass Fußball für zahllose Menschen rund um den Globus ein hohes Kulturgut ist, ist unbestritten. Der Publizist Jürg Altwegg geht in seinem Buch "Ein Tor, in Gottes Namen!" noch einen Schritt weiter: Der Kampf ums Leder ist wie "Kunst, Literatur und Philosophie eine Gattung an sich mit Wurzeln in der Welt der Götter".
Während seines Aufenthalts in London 1994 hat Osama Bin Laden regelmäßig Spiele des Traditionsklubs Arsenal besucht und für seine Söhne Fußballdevotionalien gekauft. Mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich 1998 entwickelte Bin Laden Pläne zur Erschießung der englischen Kicker David Beckham, Michael Owen und Alan Shearer vor den Augen des Publikums in der Arena und an den Fernsehapparaten der Welt.

Mit der lakonischen Erwähnung dieser Umstände, die durch die Bin-Laden-Biographen Adam Robinson und Yossef Bodansky bekannt wurden, eröffnet der Publizist Jürg Altwegg sein Werk "Ein Tor, in Gottes Namen!". Der Fußball wird mit der ersten Zeile in die menschliche Tragödie eingeschrieben. Er wird als Umschlagplatz für gute und böse Imaginationen ausgezeichnet, als ein Weltmedium, das jeder versteht.

Deshalb erwägt Altwegg gar nicht erst, ob die Aufzählung im Untertitel seines Buches – "Über Fußball, Politik und Religion" – eine Reihe ungleicher Glieder sei. Nein, Fußball ist unser Leben, unsere Kultur, unsere Geschichte – oder, wie Altwegg behauptet: "Fußball ... spielen die Menschen seit der Vertreibung aus dem Paradies." Und damit beginnt eine kulturhistorische Tour d’Horizont, die das aztekische Ballspiel, den italienischen Calcio und das englische "Soule" berührt – bis sich Mitte des 19. Jahrhunderts der moderne Fußball ausprägt. Es kommt, so Altwegg, zur "Revanche der Füße über den Kopf":

"Die Emanzipation der Füße geht so weit, daß sie zum Zentralorgan der Intelligenz werden: aus den menschlichen Instrumenten für das Gehen, Laufen, Springen entstanden eher unnatürliche Schleuderwerkzeuge für die Fortbewegung des Balles – mit einem absoluten Tabu, wie es der Gründungsakt jeglicher Gesellschaft voraussetzt. Außer vom Torwart im eigenen Strafraum und beim Einwurf dürfen die Hände nicht gebraucht werden."

Es sind Erkenntnisse des niederländischen Verhaltensforschers Frederik Buytendijk, die Altwegg hier paraphrasiert – ohne Buytendijk den Ruhm der Erkenntnis streitig zu machen. Altwegg suggeriert nicht, selbständig Fußballforschung betrieben zu haben. Er hat einfach die guten Bücher gelesen – Buytendijks Klassiker "Das Fußballspiel" von 1953, Theo Stemmlers "Kleine Geschichte des Fußballs", Christian Eichlers "Lexikon der Fußballmythen" und viele mehr. Er gibt seine Lektürefrüchte im Stile eines Essayisten weiter und hält sich von Das-Leben-ist-ein-Pokalspiel-Metaphorik fern.

Altweggs 250-Seiten-Werk ist eine kurze, indessen unbefriedigende Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften seit 1930 eingegliedert. Die sachlichen und mythischen Gehalte der Fußballturniere sind schon zu groß geworden sind, als dass man auf die Schnelle die Summe aus ihnen ziehen könnte. Überhaupt knirscht es im mittleren Teil des Buches. Man befürchtet, es werde sich als bloßer Diskursparasit der WM 2006 erweisen. Einige Regeländerungen etwa bürstet Altwegg ab, ohne der Analyse ein einziges Wort zu widmen:

"Das Silver und das Golden Goal... widersprechen dem Wesen des Fußballs und stifteten eine gefährliche Verwirrung. Joseph S. Blatter [der Fifa-Präsident] machte auch schon mal den Vorschlag, wie im Eishockey das Unentschieden abzuschaffen – reine Blasphemie: Fußball ist kein K. o. -Sport."

Auch das Eingangsmotiv des Buches - Fußball und Bin Laden – kehrt auf diesen Seiten wieder zurück. "Der 11. September hat den Fußball, der keineswegs verloren war, nicht gerettet – aber er hat ihm erneut den Pfad der Tugend gezeigt" – lautet ein Satz Altweggs, für den es keine vernünftige Hermeneutik gibt – und er steht nicht allein.

Im Kapitel "Der Faschismus der Fans" handelt Altwegg von der Gewalt im Fußball, so auch vom Unglück im Brüsseler Heysel-Stadion anlässlich des Europokal-Endspiels 1985 zwischen Juventus Turin und FC Liverpool. Insgesamt haben die Rasen-Extasen in den letzten Jahrzehnten Hunderte von Menschenleben gekostet. Während Altwegg den Blutspuren nachgeht, kommt ihm eine bestürzende Erkenntnis:

"Die Fans, vor allem die fanatischsten, sind keineswegs ... die Perversen, allenfalls die Sektierer des Fußballs ... Der Haß im Stadion ist nicht der Hilfeschrei von erbarmungswürdigen Halbidioten ...: Es ist der Jahrtausende alte Haß auf den anderen, der schon in viel primitiveren Zivilisationen mit Opferritualen für die Götter gezähmt und kaschiert wurde."

Und dennoch, Altwegg glaubt natürlich an das Spiel. Er glaubt, dass der Fußball mehr Gewalt kanalisiere, als er auslöse. Er hat sich vom Vorschuss, den der Hanser Verlag auf "Ein Tor, in Gottes Namen!" zahlte, Karten für das WM-Endspiel in diesem Jahr besorgt und prophezeit: "Wir werden uns fühlen wie im Paradies." Trotz aller Irrungen und Wirrungen atmet für Altwegg im Fußball das Göttliche:

"Fußball ist – wie Kunst, Literatur, Philosophie – eine Gattung an sich mit Wurzeln in der Welt der Götter, denen er seit seinen Anfängen geweiht ist und die in ihm der Menschheit ihren Willen verschlüsselt offenbaren. Er hat als Spektakel die Einheit von Zeit, Raum, Handlung bewahrt und ist dennoch spannender als die griechische Tragödie, bei der man schon vorher weiß, wie sie ausgeht."

Auch hier möchte man zurückfragen: Ist das so? Weiß jemand bei der Erstlektüre, wie Aischylos’ Orestie oder Euripides’ Medea ausgehen? Tatsächlich kennen die Leser deren Plot genauso wenig, wie wir heute den Ausgang des Gruppenspieles Deutschland-Polen kennen.

Glücklicherweise gewinnt Altwegg im letzten Drittel des Buches an Souveränität zurück, etwa, als es um Frankreichs multiethnische Equipe Tricolore geht, Gewinner der WM 1998 und der EM 2000. Auf den 6. Oktober 2001 wurde ein Match zwischen Frankreich und Algerien terminiert, mit dem vierzig Jahre nach Ende des Algerien-Krieges ein Versöhnungssymbol geschaffen werden sollte. Vorher indessen lag der 11. September – und in einem Satz bringt Altwegg das Drama zum Klingen, an dem die Begegnung im Stade de France nun teilhatte:

"In den französischen Vorstädten wird Bin Laden verehrt, er hat Zinedine Zidane als Idol der Jugend verdrängt."

Jürg Altwegg: Ein Tor, in Gottes Namen!
Über Fußball, Politik, Religion
Hanser Verlag, München 2006