Gisela von Wysocki: "Wiesengrund"

Mit Adorno unter der Bettdecke

Die Füße einer Frau ragen unter einer Bettdecke hervor
Die Füße einer Frau ragen unter einer Bettdecke hervor © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Von Helmut Böttiger · 07.12.2016
In dem Roman "Wiesengrund" – benannt nach dem jüdischen Familiennamen von Theodor W. Adorno – verliebt sich die Schülerin Hanna in die Radiostimme des Philosophen. Später studiert sie bei ihm und zeigt Adorno in seiner Unnahbarkeit und Schutzlosigkeit. Ein aufregender Bildungsroman von Gisela von Wysock.
Die Salzburger Schülerin Hanna hört im Bett Radio, und weil ihr Vater das verbietet, geschieht es heimlich unter der Bettdecke. Die Stimme des Nachtstudio-Redners ist daher von vornherein mit einem erotisch-intellektuellen Knistern verbunden. Ein unwiderstehlicher Sog geht von dieser Stimme aus. Sie hat eine scharf akzentuierte Diktion, die einen in immer höhere geistige Regionen zu führen scheint, und beschrieben ist das alles in einer raffinierten, mädchenhaft-koketten, aber auch sinnlich-assoziativen Sprache.
Mit der Zeit merkt Hanna, dass der schwer verständliche Name ihres Lieblingsexperten um Mitternacht "Wiesengrund" lautet. Bei dem Vortragenden handelt es sich also um Theodor W. Adorno, der seinen ursprünglichen, jüdischen Familiennamen "Wiesengrund" später hinter einem W. versteckte. Hanna ist mit der Stimme Adornos im Bett: Es geht um die Lust am Denken, um das Erregende der Sprache, um lange rhythmische Satzperioden als musikalisches Ereignis.
Was dieses versteckte "Wiesengrund" zum Ausdruck bringt, ist das Thema des Romans: das geheime, verborgene Gesicht Adornos hinter seiner öffentlichen Souveränität, das Abgründige und nicht nur das Wiesengründige. Die weibliche Ich-Erzählerin studiert nach ihrem Abitur selbstverständlich in Frankfurt bei Adorno, und sie zeigt ihn in seiner Unnahbarkeit, in seiner Schutzlosigkeit, in seinen Mechanismen, seiner Rolle gerecht zu werden. Ihn "undercover" zu hören, zwischen den Kissen daheim, mit ihm "unter einer Decke gesteckt" zu haben, und ihn jetzt im öffentlichen Hörsaal zu sehen: Das ist ein beträchtlicher Unterschied.

Das karge, kaputte Nachkriegs-Frankfurt

Die Szenen mit ihm in seiner Sprechstunde, im Fahrstuhl nach der Vorlesung, vor dem Schaufenster einer Zoohandlung oder bei einem Abendessen in einem steifen bürgerlichen Hotelrestaurant sind zwar von einer verborgenen Komik, zeigen aber auch die Sensibilität des Philosophen und tun seiner faszinierenden Ausstrahlung keinen Abbruch. Zentral ist eine wesentliche Erfahrung: "Begreifen durch Nichtbegreifen". Völlig schlüssig führt dieser Roman vor, dass dadurch die Möglichkeit eines selbständigen Denkens erst aufscheint.
Der Roman ist in einer hochartistischen, charakteristischen Tonlage geschrieben, mit einer beschwingten Selbstironie, die der Faszination durch den großen Professor zu begegnen versucht, und mit einer genauen Beobachtungsgabe, was die Zeitumstände anbelangt. Der Vater, der seiner Tochter das Radiohören verbietet, ist nebenan als Astronom mit seinen verschiedenen Teleskopen und Forschungsaufzeichnungen beschäftigt. Was ihm die Sterne sind, ist für seine Tochter Hanna der Mann im Radio. Adorno ist ein einsamer Fixstern, während Hannas Vater naturwissenschaftlich exakt und vergeblich versucht, "Hand an die Unvergänglichkeit der Sterne zu legen".
Beiläufig entsteht auch ein Bild des kargen, kaputten Frankfurt. Die Stadt ist noch vom Krieg gezeichnet. Man merkt in dem 50er-Jahre-Haus, in dem die Ich-Erzählerin ein Zimmer gefunden hat, und an den Mietnachbarn das Spießige dieser Zeit, die ungeheure Macht der Verdrängung. Registriert werden zugleich die ersten Regungen der Studentenrevolte von 1968, ebenfalls mit einem etwas spöttischen, ungläubigen Ton, der die eigene Verstrickung in die damaligen Diskurse auf ästhetische Weise vollendet. Einmal findet die Ich-Erzählerin Hanna selbst einen Begriff für das, was hier erzählt wird: Es ist eine tolle, intensive "Liebesgeschichte ohne Hand und Haut", ein aufregender und ironischer Bildungsroman.

Gisela von Wysocki: Wiesengrund
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
264 Seiten, 20,00 Euro

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