Getrübte Hoffnung

Thomas Schlingmann und Peter Mosser im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.04.2010
Die Leiter zweier Opfer-Beratungsstellen kritisieren die Tagung gegen Kindsmissbrauch in München. "Die Zielsetzung, Prävention zu machen, ohne dass Präventionsfachleute am Runden Tisch sind, das ist wohl kaum möglich", sagt Thomas Schlingmann vom Verein Tauwetter.
Liane von Billerbeck: In diesen Minuten tagt er zum ersten Mal, der Runde Tisch gegen Kindsmissbrauch, der eingerichtet worden ist nach dem Bekanntwerden zahlreicher Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Er steht unter der Ägide von gleich drei Bundesministerien, denen für Familie, Bildung und Justiz. Beauftragte ist die einstige Ministerin Christine Bergmann. Am Runden Tisch werden etwa 60 Teilnehmer Platz nehmen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Städtetag und Sportbund, ein Kinderpsychiater und kibs, die Kinder- und Jugend-Informationsberatungsstelle aus München, deren Arbeit sich an Jungen und junge Männer bis 21 wendet. Peter Mosser von kibs ist aus München zugeschaltet, nicht am Tisch vertreten ist dagegen die Organisation Tauwetter aus Berlin. Sie hilft älteren Betroffen. Denn viele, die solche Gewalterfahrungen machen mussten, brauchen Jahrzehnte, um sich zu offenbaren. Auch Thomas Schlingmann von Tauwetter ist jetzt bei uns zu Gast. Herzlich willkommen an Sie beide.

Herr Schlingmann, wie kommt es, dass zum Runden Tisch zwar Ihr Münchener Kollege geladen ist, der Jungen und jungen Männern hilft, nicht aber Ihre Organisation Tauwetter, die diejenigen berät, die die Debatten über sexualisierte Gewalt ins Rollen gebracht haben, die erwachsenen Männer?

Thomas Schlingmann: Das ist etwas, worüber ich mich auch wundere. Es ist mir nicht klar, warum keine Organisation da ist, die mit erwachsenen Männern arbeitet. Ich habe so ein bisschen den Verdacht, dass die Opfer im Moment wieder verschwinden, dass wir uns über die Opfer unterhalten, aber nicht mit den Betroffenen. Und das ist etwas, was viele Betroffene fatal an den Missbrauch erinnert, weil auch damals ist über sie verfügt worden und es ist nicht mit ihnen gesprochen worden, ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche haben nicht gezählt, und jetzt werden sie wieder nicht gefragt.

von Billerbeck: Herr Mosser, Ihre Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle kibs hilft Jungen und jungen Männern im Alter bis 21, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden. Sie haben eine Studie veröffentlicht unter dem Titel "Wege aus der Dunkelheit". Gibt es seitdem auch eine größere Aufgeschlossenheit für das Thema sexueller Missbrauch, seit diese Fälle so stark in der Öffentlichkeit sind?

Peter Mosser: Also ich würde es nicht als größere Aufgeschlossenheit bezeichnen, ich würde sagen, es gibt zumindest einmal einen Diskurs über das Thema sexuellen Missbrauch, aber was eindeutig wieder zu sehen ist, ist, dass in diesem Diskurs das Geschlecht der Opfer nur unzureichend thematisiert wird. Also eigentlich befinden wir uns in einer Situation, wo es zu einem Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung sexuellen Missbrauchs insgesamt gehen müsste, dass man einfach den Blick jetzt auch auf männliche Opfer sexualisierter Gewalt wendet, um auch die spezifischen Bedürfnislagen dieser Betroffenen wahrzunehmen. Und das ist eigentlich das, was bisher fehlt in der Diskussion.

von Billerbeck: Liegt das daran, dass Männer als Opfer etwas sind, das man in der Öffentlichkeit immer noch nicht gerne sieht?

Mosser: Das kann man so bezeichnen, und es ist eigentlich das, was jetzt wieder sichtbar ist, dass man die Opfer sozusagen neutralisiert in ihrem Geschlecht. Es ist von Personen die Rede, es ist von Betroffenen die Rede, von Opfern – das sind ja alles Begriffe, die zunächst mal sozusagen das Geschlecht nicht sichtbar machen. Und ja, auch was jetzt den Runden Tisch betrifft, wie der Herr Schlingmann schon angedeutet hat, scheint wenig Sensibilität momentan da zu sein, hier dieses neue Problemfeld, das ja so neu nicht ist, aber wo jetzt die Möglichkeit besteht, das neu erkennen zu können, weiterhin unterrepräsentiert ist.

von Billerbeck: Ist das auch Ihre Erfahrung, Herr Schlingmann, was Herr Mosser eben sagte, dass das Geschlecht eben außen vor bleibt, der Opfer, dass es sich eben um Jungen und Männer handelt?

Schlingmann: Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Wenn wir gefragt werden zum Thema sexueller Missbrauch, werden wir ganz oft gefragt allgemein, und viele reagieren heute immer noch mit Erstaunen, dass Jungen andere Bewältigungsstrategien haben als Mädchen. Es gibt Gründe dafür, warum es so ist, dass Männer sich tendenziell wesentlich später an Beratung wenden als Frauen. Die meisten Männer tun das mit Mitte 30, Ende 30, bei Frauen liegt das Alter oftmals wesentlich niedriger. Dafür gibt es Gründe, dazu gibt es jahrelang schon Papiere, Auseinandersetzungen, Erfahrungen, aber das ist etwas, was meistens nicht gesehen wird.

von Billerbeck: Wenn der Runde Tisch heute das erste Mal tagt, was sind inzwischen Ihre Erfahrungen, Herr Mosser, wie spiegelt sich diese erhöhte Aufmerksamkeit oder dieser Diskurs, wie Sie eben sagten, der stattfindet zum Thema sexueller Missbrauch, sexualisierte Gewalt, in Ihrer Beratungsarbeit wider?

Mosser: Also wir haben, seit dieses Thema an die Öffentlichkeit gekommen ist, natürlich mehr Anfragen, das gar nicht so sehr bezogen ist auf die Institutionen, die jetzt hier zur Frage stehen, sondern wir merken, dass in der Öffentlichkeit mehr hingeschaut wird, dass mehr die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, dass Jungen Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Das heißt, es rufen mehr Mütter an, es rufen mehr Vertreter von Organisationen an, von Schulen auch, von Kindergärten, wo einfach eher in Betracht gezogen wird, dass man den Verdacht äußern könnte, dass ein Junge von sexuellem Missbrauch betroffen sein könnte. Das heißt, es zeigt sich ganz deutlich, dass die Zahl der Anfragen in die Höhe geht, auch von Institutionen. Und es ist ein Trend, den wir natürlich begrüßen, weil das ja genau unser Ziel ist, dass die Opfer auch gesehen werden. Andererseits fehlt es uns an Kapazitäten, um diesen steigenden Bedarf auch zu bewältigen, das heißt, den Betroffenen auch die Hilfe zu geben, die sie benötigen.

von Billerbeck: Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, der hat ja, als beschlossen wurde, den Runden Tisch einzurichten, gesagt, dass es vor allem darum ginge, den bestehenden Hilfsorganisationen, Beratungsstellen ausreichende Finanzausstattung zukommen zu lassen. Also es geht nicht um blinden Aktionismus oder das Einrichten neuer Opferschutzverbände, sondern um die Stärkung der bestehenden. An Sie beide die Frage, Herr Schlingmann vielleicht zuerst, haben Sie ausreichend Geld, um die Männer, die da Opfer von sexueller Gewalt geworden sind als Kinder, als Jugendliche, zu beraten und ihnen zu helfen?

Schlingmann: Nein, wir sind nicht ausreichend finanziert. Es ist auch bei uns so, dass im Moment die Anfragen sich häufen, und wir schaffen das eigentlich nur, indem wir die Anzahl der Beratungen pro Person reduzieren. Das ist natürlich überhaupt nicht zufriedenstellend. Wir haben in Aussicht gestellt, dass die Finanzierung besser werden soll, wir hoffen, dass das auch wirklich eintritt, aber das müssen wir gucken, wenn der nächste Haushalt beschlossen wird. Ich finde, Herr Hilgers hat insofern recht, als dass es jetzt nicht um Aktionismus geht. Aber es geht nicht nur um finanzielle Ausstattung bestehender Strukturen. Gerade im Bereich Jungen und Männer müssen wir überhaupt erst mal ein flächendeckendes Netz aufbauen. Wir haben solche riesigen Lücken. Ein nicht geringer Teil der Anfragen, die wir im Moment haben, kommen überhaupt nicht aus Berlin, wo wir eigentlich arbeiten, sondern kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Und da muss was geschehen. Weil wie soll ich jemanden beraten, der 200 Kilometer, 400, 500 Kilometer weit weg von mir ist. Da kann ich nur telefonieren und freundliche Mails schreiben, aber Face to Face werden wir uns nie sehen.

von Billerbeck: Seit das Thema sexualisierte Gewalt so in aller Öffentlichkeit diskutiert wird, wie verändert das das Leben der Betroffenen, Herr Schlingmann, was stürzt da auf Sie ein? Wir haben ja hier im Sender auch mehrere Betroffene gehört und deren Reaktionen, wie erleben Sie das, wenn dieses Thema so in aller Öffentlichkeit verhandelt wird?

Schlingmann: Es ist für viele sehr ambivalent. Auf der einen Seite gewinnen sie Mut darüber, dass sie erkennen, sie sind nicht die Einzigen, es gibt andere, denen Ähnliches passiert ist, es gibt Menschen, die sich dazu öffentlich äußern. Die ersten Prominenten sagen, dass ihnen so etwas geschehen ist. Das ist gut und das ist total wichtig, gerade auch für Jugendliche, denen es dadurch erleichtert wird, schneller und zeitnäher darüber zu reden, was ihnen geschehen ist. Auf der anderen Seite ist es so, dass regelmäßig Männer kommen, die im Fernsehen Berichte sehen, die im Radio Berichte hören und die dadurch, ja, ich sag mal fast schon retraumatisiert werden, die so tief in ihrer Erinnerung zurücksacken, dass sie nicht mehr in der Lage sind, sich noch irgendwie daraus zu befreien und dann ganz akut in Krisen sind. Wir haben mehrere Männer gehabt, die durch diese Berichte jetzt gesagt haben, ich habe gedacht, ob ich mich umbringe. Und das sind natürlich Situationen, das ist die Kehrseite dieser ganzen Auseinandersetzung.

von Billerbeck: Peter Mosser von der Kontakt- und Informations- und Beratungsstelle kibs aus München und Thomas Schlingmann von der Berliner Beratungsstelle Tauwetter sind bei uns zu Gast. Es geht um ihre Erwartungen und Forderungen an den heute erstmals tagenden Runden Tisch gegen sexuellen Kindsmissbrauch. Herr Mosser, seit Ende Januar der offene Brief des Direktors des Berliner Canisius-Kollegs über die Vorkommnisse an seiner Schule die Runde machte, da scheint es, da brachen alle Dämme. Trotzdem wird immer vergessen in dieser Diskussion, in der es ja um Internate und Heime vor allem geht, dass der Haupttatort für Kindsmissbrauch ja die Familie ist. Woran liegt das?

Mosser: Na ja, auch da muss man differenzieren, und auch da ist es wichtig, einfach noch mal genauer hinzuschauen auf das Phänomen sexualisierte Gewalt. Es gibt da ja auch einen Unterschied. Haupttatort Familie, das ist eher etwas, was bei Mädchen der Fall ist. Eine erhöhte Gefährdung bei Mädchen ist, dass sie innerhalb der Familie sexuell missbraucht werden. Bei Jungen ist eigentlich schon seit Längerem bekannt, dass ein erhöhtes Risiko besteht, dass sie im sozialen Nahraum von sexualisierter Gewalt betroffen sein könnten. Sozialer Nahraum heißt eben unter anderem Institutionen, in denen sie untergebracht sind, Nachbarn, Sportvereine und so weiter. Also das ist … neu ist dieses Phänomen nicht, das wusste man eigentlich.

von Billerbeck: Frage zum Schluss an Sie, Herr Mosser, und Sie, Herr Schlingmann: Es gab ja manchmal den Vorwurf, der Runde Tisch würde von der Bundesregierung als so eine Art großes Feigenblatt missbraucht werden, wo wieder viele Menschen sitzen, die lange über ein Thema diskutieren, und am Ende wird dann wenig bei rauskommen. Was erhoffen, was befürchten Sie vom Runden Tisch, Herr Schlingmann?

Schlingmann: Realistisch habe ich geringe Erwartungen an den Runden Tisch. Ich habe mir die Zusammensetzung angeguckt, sehr viele Juristen dazwischen, viele Politiker dazwischen, höchstwahrscheinlich kann man da irgendwelche Gesetze neu zurechtzimmern oder überprüfen. Aber die Zielsetzung, Prävention zu machen, ohne dass Präventionsfachleute am Runden Tisch sind, das ist wohl kaum möglich. Die Zielsetzung, die Opfer einzubeziehen, das ist nicht möglich, solange keine Opfer da sitzen. Eine Zielsetzung, wie Opferberatungsstellen zu fördern, die ist nicht mal mehr benannt.

Ich würde mir wünschen, dass es kein Feigenblatt wird. Das sage ich ganz klar. Ich habe aber die Befürchtung, so wie es angelegt ist, dass es zwar jetzt etwas Aufregung gibt, dass es jetzt auch vielleicht eins, zwei kleinere Veränderungen gibt, aber dass das grundsätzliche Umdenken, was wir brauchen, das grundsätzliche Umdenken, was aufhört, Menschen auf Gegenstände zu reduzieren, Opfer auch immer wieder auf Objekte zu reduzieren, dass das einmal aufhört. Dieses grundsätzliche Umdenken, das sehe ich nicht, dass das mit dem Runden Tisch kommt, auch wenn ich es mir natürlich wünschen würde.

von Billerbeck: Herr Mosser, anders als Herr Schlingmann sitzen Sie für Ihre Beratungsorganisation kibs am Runden Tisch, was erhoffen, was befürchten Sie?

Mosser: Ich sehe mich schon auch als Vertreter der Einrichtungen bundesweit, die mit sexuell missbrauchten Jungen und Männern arbeiten, und werde einfach versuchen, dort die Positionen einzubringen, die wir jetzt auch beschrieben haben. Na ja, zu viel Optimismus ist natürlich auch bei mir nicht vorhanden. Ich arbeite seit elf Jahren in dem Bereich und merke einfach, dass im öffentlichen Diskurs sich sehr wenig verändert hat. Wie gesagt, die aktuellen Aufdeckungen liefern wieder ein Beispiel dafür, dass Männlichkeit und Opfersein schwer zu ertragen sind in der Öffentlichkeit, diese Kombination. Und ich sehe es als Möglichkeit, als Signal, um hier einfach noch mal eine neue Diskursebene zu eröffnen, und denke aber nicht, dass da kurzfristig sich was ändern wird. Aber vielleicht schaffen wir es einfach, ein paar Felder sozusagen zu bereiten, indem wir einfach noch mal Perspektiven eröffnen können, wo bisher kaum jemand hingeschaut hat.

von Billerbeck: Peter Mosser von der Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle kibs aus München und Thomas Schlingmann von der Berliner Beratungsstelle Tauwetter mit ihren Erwartungen und Zweifeln an den heute erstmals tagenden Runden Tisch gegen sexuellen Kindesmissbrauch. Danke an Sie beide!

Schlingmann: Danke Ihnen!

Mosser: Danke!