Gesellschaftliche Verunsicherung

Wir haben zu lange nicht hingehört

Ein unbekannter Street-Art-Künstler hat auf einer Mauer an einem besetzten Haus in Berlin im Bezirk Mitte dieses Bild geschaffen, das seine Meinung zu den Hartz IV Gesetzen drastisch wiedergibt, aufgenommen am 17.05.2014.
In zweiter Generation "Hartz IV" - ist das eine Perspektive? © picture alliance / Wolfram Steinberg
Von Klaus-Dieter Kottnik · 30.06.2016
Woher kommt die Verunsicherung angesichts der Veränderungen in unserer Gesellschaft? Wird sie herbeigeschrieben oder herbeigeredet? Nein, meint Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik. Sie ist einfach da. Denn für immer mehr Menschen gerate die Welt aus den Fugen.
Dreißig Jahre ist es her, seit ich das letzte Mal ein beliebtes Ausflugsziel meiner schwäbischen Heimat besucht habe: den Uracher Wasserfall. Eine lange Schlange bewegte sich auf den Rastplatz zu: junge Familien, einzelne Gruppen, Paare, auffallend viele junge Menschen.
Selten waren noch Leute mit karierten Hemden und Kniebundhosen zu sehen, der typischen Kleidung ortsansässiger Wanderer. Ich hörte auch kaum Schwäbisch, eher portugiesische, polnische, englische, arabische, türkische Laute. Kopftücher konnte man vor dreißig Jahren auf diesem Höhenzug nicht sehen.
Es war eine heitere Festtagsstimmung, dennoch fremdelte ich. Natürlich ist mir als Städter in Berlin buntes Miteinander alltäglich. Doch erst an diesem einst urschwäbischen Ort meiner Jugend merkte ich deutlich, dass sich unser Land verändert hat. Ich musste mich erst daran gewöhnen, weil ich den Ort anders in Erinnerung hatte.

Verunsicherung macht Menschen aggressiv

Seither versuche ich, mich in Menschen einzufühlen, die sich schwer tun mit dem Wandel in unserer Gesellschaft. Mir fällt auf einmal auf, wie oft ich verunsicherten Menschen begegne. Bisher habe ich solche Gefühle nicht zugelassen und versuchte schnell darüber hinwegzugehen. Die allgemeine Verunsicherung folgt mir sogar in mein engstes Umfeld.
Ich weiß nicht, wo sie herkommt. Wird sie herbeigeschrieben oder herbeigeredet? Sie ist einfach da. Und sie nimmt zu. Ich jedoch kann nicht mehr so reagieren, wie es meine bisherige Lebenserfahrung nahelegt: dass es schon irgendwie gut gehen werde, denn es sei bisher immer gut gegangen. Vielmehr lasse ich mittlerweile zu, dass mir Menschen aggressiv begegnen.
In zweiter Generation von "Hartz IV" zu leben, ist das eine Perspektive für Kinder? Oder macht Hoffnungslosigkeit nicht zu Recht wütend? Hochqualifiziert, und doch nur Aussicht auf eine befristete Stelle. Mehrere hundert Bewerbungen auf eine Ausschreibung. Leider gehört man nicht zu denen, die ein Bekannter empfiehlt.
Und dann ist da noch die latente Angst der Älteren, man könnte auf der Straße und in der Bahn an Leib und Leben gefährdet werden. Es gibt immer mehr Menschen, für die ist die Welt aus den Fugen gerät, wie nicht nur unser Außenminister sagt.

Etablierte haben Hoffnungslosigkeit nicht wahrhaben wollen

Ich beginne zu verstehen, dass sich solche Verunsicherung Luft machen will. Auch wenn mir nicht gefällt, wie sie es tut. Auch wenn ich mich ärgere, dass christliche Kreuze mitgetragen werden, wo rassistische Parolen zu hören sind. Vor allem können wir nicht so tun, als ob es das alles nicht gäbe.
Meine Sorge ist: Wir haben zu lange nicht hingehört, wir haben runtergespielt, weggehört oder abgewiegelt, all wir Etablierten, wir Kirchen, Parteien, Vereine, Organisationen. Wir müssen zuweilen selber zugeben, dass wir Verunsicherung spüren. Daher sollten wir nicht das, was wir in uns selber merken, bei anderen bekämpfen.
Ich habe mich übrigens am Uracher Wasserfall an einen Tisch mit jungen Polen gesetzt. Kein Deutscher war bei ihnen, obwohl es noch Platz gab, denn sie sprachen Polnisch miteinander. Mir erzählten sie begeistert über ihre guten Erfahrungen an verschiedenen Orten in Deutschland. Das gute Gespräch half mir, mein Fremdeln zu überwinden. Heute erinnere ich mich an einen tollen Ausflug mit ungeahnten Erkenntnissen.

Solidarität vermag Spaltungen hinter sich lassen

Ich wünsche mir, dass wir zulassen, wahrnehmen, erspüren, was hinter Äußerungen steckt, die uns begegnen, und dass wir uns auch auf Befremdliches einlassen. Das ist anstrengend. Auch für glaubende Menschen, die die Welt in Gottes Hand wissen, gilt das. Hinhören, aushalten und ehrlich miteinander reden, schließlich gemeinsam nach Lösungen suchen.
So könnte die Welt wieder in ihre Fugen zurückkehren, weil sie zu sehen, wie sie ist, uns dann vielleicht weniger verunsichert. Das könnte gelingen, indem wir Spaltungen hinter uns lassen und wieder auf Solidarität besinnen.

Klaus-Dieter Kottnik, geboren 1952 in Stuttgart, arbeitet in Berlin als Prediger, Mediator und Coach. Er berät die Polnische Diakonie und ist Mitglied verschiedener Kuratorien. Von 2007 bis 2010 war er Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland und in dieser Zeit auch Vizepräsident von "Eurodiakonia". Zuvor leitete er als Vorstandsvorsitzender die "Diakonie Stetten" bei Stuttgart und war Vorsitzender des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe.

© Diakonisches Werk der EKD
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