Gesellschaft ohne Moral und Verantwortung

Von Rolf Schneider · 03.02.2013
Die Reichsten und Ärmsten in Deutschland tragen gleichermaßen nichts zum Erhalt des Staates bei - so lautet die zentrale These des "Stern"-Autors Walter Wüllenweber in seinem aktuellen Buch. Beide Randgruppen zeichne vor allem eines aus: Sie seien schlichtweg asozial.
In Deutschland gibt es Superreiche und Unterprivilegierte. Der Publizist Walter Wüllenweber verwendet dafür die Begriffe Oberschicht und Unterschicht. Beide verbinde, sagt er, dass sie außerhalb der Mehrheitsgesellschaft stünden und zu deren wirtschaftlichem Erhalt wenig bis gar nichts beitrügen. Die Unterschicht lebe von den für sie aufgebrachten Sozialleistungen, die Oberschicht von gnädigen Gesetzen und staatlichen Rettungsaktionen im Krisenfall. Beide Schichten reproduzierten sich aus sich selbst. Beide beschäftigten Helfer: die Oberschicht Manager und Vermögensverwalter, die Unterschicht eine umfängliche Hilfsindustrie.

Wüllenweber untersucht das. Er verwendet dabei jene Mischung aus Essay und Reportage, die als Nachrichtengeschichte, ursprünglich ein US-Import, hierzulande ein fester Bestandteil des journalistischen Gewerbes wurde, gepflegt auch vom Magazin "Stern", dessen Autor Wüllenweber ist. Nachrichtengeschichten lassen sich kaum auf Buchlänge dehnen, woran schon Rudolf Augstein scheiterte. Bei Wüllenweber verhält es sich ähnlich.

Hinzu kommt: Er ist kein begnadeter Schreiber, und mit seinem sozialwissenschaftlichen Instrumentarium steht es nicht zum besten. Ziemlich lückenhaft zeigt er sich auch in Sachen Geschichte.

Wüllenweber zeigt historische Wissenslücken
"In der alten Klassengesellschaft war die Oberschicht eine treibende Kraft in allen Bereichen, auch in der Kultur. Heute nicht mehr. Modetrends werden im Getto gesetzt."

Die Behauptung ist Blödsinn. Kulturelle Innovationen entstanden immer auch, manchmal bevorzugt, im Dunstkreis der gesellschaftlichen Opposition. Kulturelle Förderung durch Mitglieder der Oberschicht, als Bauherren, Auftraggeber, Sammler oder Mäzene, gab es früher so gut wie jetzt.

"Die Millionäre flüchten in ihre Parallelwelt und meiden den Kontakt mit den Nichtreichen."

Wann, bitte sehr, wäre das je anders gewesen? Es finden sich immer ein paar Ausnahmen, sozial gestimmte Sonderlinge, und auch die gab es zu allen Zeiten.

"Die Oberschicht (...) ist keine Führungsschicht, keine Leitschicht (...) Aus der Funktionselite hat sie sich zurückgezogen. Politische (...) Impulse gehen von ihr nicht aus."

Wieder ist zu sagen, dass sich das im gesamten bürgerlichen Zeitalter niemals anders verhielt. Auch heute noch sitzen ein paar wirtschaftlich Mächtige in hohen politischen Ämtern. Dass, wie Wüllenweber meint, früher die wirtschaftlich mächtigen Schultern die Last des Staates trugen, gilt schon seit den Tagen der absoluten Monarchie nicht mehr. Otto von Bismarck wurde nicht Politiker, weil er reich war, sondern wurde reich, weil er Politiker war. Die gesamte Betrachtung der Oberschicht fällt in Wüllenwebers Buch vergleichsweise mager aus:

"Weder Journalisten noch Wissenschaftlern ist es in den vergangenen Jahren gelungen, einen wirklichen Einblick in das Innenleben der Welt der deutschen Vermögenden zu gewinnen."

Insgesamt mag das zutreffen. Aber ist, was gleichwohl bekannt wurde, denn nicht ausreichend? Das Innenleben der Quelle-Erbin Schickedanz und die Existenzen der Flick-Erben? Wieso erzählt Wüllenweber nicht von Monaco, Kampen auf Sylt oder der Millionärsmesse in Moskau? Das Isolierungsbedürfnis der Superreichen resultiere aus Arroganz, sagt er, nicht aus Angst. Beweis dafür sei, dass die Zahl erpresserischer Entführungen zurückging. Abgesehen davon, dass Angst und Arroganz einander nicht ausschließen, könnte vielleicht sein, der erwähnte Rückgang resultiert aus besserem Selbstschutz, geboren aus nackter Angst?

Für Wüllenweber stellt die eigentliche Oberschicht die Finanzelite, die ihren leistungslosen Profit aus Geldgeschäften bezieht. Das erforderliche Kapital stamme oft aus Erbschaften, manchmal aus Verkäufen. Die Erbschaftssteuern in Deutschland nennt er lächerlich gering. Eine Vermögenssteuer existiere überhaupt nicht mehr. Die Volatilität des Finanzkapitals, nicht bloß hierzulande, sei atemberaubend. Der unverhältnismäßige Abstand der Geldökonomie zur Realwirtschaft wachse immerfort und sei auch Ursache der gegenwärtigen Krise; die politische Gegenwehr erschöpfe sich in folgenlosen Überlegungen, dafür sorgten schon die einschlägigen Lobbyisten. Wüllenweber breitet das alles aus. Er tut dies nicht als erster, aber es kann nicht schaden, immer wieder davon zu hören.

Cover: "Die Asozialen" von Walter Wüllenweber
Cover: "Die Asozialen" von Walter Wüllenweber© Deutsche Verlags Anstalt
Die Unterschicht sei geistig, sozial und sexuell verwahrlost
Bei der Unterschicht wird er dann sehr viel genauer und besser. Hier kann er auf eigene Recherchen zurückgreifen, die er teilweise schon im "Stern" veröffentlichte; die vorgeführten Beispiele sind überzeugend. Konstatiert wird eine weitgehende geistige, soziale und sexuelle Verwahrlosung. Konstatiert wird die Unmöglichkeit des Aus- und Aufstiegs. Überhaupt verstärke sich die soziale Undurchlässigkeit immer mehr. Die Brandt-Ära mit ihrer Bildungsoffensive und der daraus folgenden sozialen Durchmischung sei unwiederbringliche Vergangenheit.

Dabei mangle es der Unterschicht, sagt Wüllenweber, nicht an materieller Zuwendung. Der Unterschicht fehle es vielmehr an Bildung, und die müsse rechtzeitig, nämlich im Kleinkindalter einsetzen und obligat sein. Einen der Gründe dafür, dass die sozialen Verhältnisse sich nicht ändern, sieht er in der aufgeblähten Hilfswirtschaft mit ihren mindestens zwei Millionen Beschäftigten, voran in den Großunternehmen Caritas, Diakonisches Werk und Rotes Kreuz. Schon aus Gründen der Selbsterhaltung sei man dort nicht interessiert, dass die Zahl der zu Betreuenden etwa kleiner würde.

Dies sind Erkenntnisse, denen man zustimmen mag oder nicht. Bedenkenswert sind sie gewiss, und ein wichtiges Problem unserer gesamtgesellschaftlichen Situation betreffen sie allemal. Hätte Wüllenweber mit exakten Zahlen operiert, hätte er seine Begriffe definiert, seinen Text anders strukturiert, seine historischen Lücken geschlossen und von seinem flapsigen Tonfall gelassen, wäre ihm ein aufregendes Buch gelungen.

So aber behauptet er düster:

"Zum Kern der Demokratie gehört es, dass einmal getroffene Entscheidungen stets revidiert werden können. Beim Sozialmarkt und bei den Banken ist das nicht mehr möglich. Sie haben sich durch ihre Größe dem Zugriff entzogen."

Wenn es sich so verhielte, wäre das schlimm. Wir müssen hoffen und uns einsetzen, dass es anders kommt.

Walter Wüllenweber: Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert.
Deutsche Verlags Anstalt, München 2012
256 Seiten, 19,99 Euro; eBook 15,99 Euro


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