Geschlossene Gesellschaft

Von Anne Boschan und Tibor Hegewisch · 03.04.2010
Die Männer der JVA Tegel halten den Gründonnerstag-Gottesdienst in eigener Regie ab. Er wird bereits am Mittwoch gefeiert. Denn Gründonnerstag ist ein Feiertag, das heißt viele Wärter haben frei. Für die Gefangenen bedeutet das: langer Riegel. Die Zellen bleiben länger geschlossen.
Justizvollzugsanstalt Tegel, Mittwoch morgen, neun Uhr. Ein riesiger Baukomplex mit roten Ziegelsteinen, Deutschlands größtes Gefängnis. Ungefähr 1.600 Männer sind hier inhaftiert. Eine isolierte Stadt in der Millionenstadt Berlin. Mittendrin ein Gotteshaus, mit zwei Kirchtürmen, einer Kapelle, einer Sakristei und einer Gemeinde.

Dabrowski: "Wir sind hier Pfarramt und bieten auch all das an was ein Pfarramt draußen in dieser Stadt anbieten würde. Jeden Sonntag ein Gottesdienst, wir haben einen Kirchenchor, wir haben Bibelgruppen, wir haben Einzelgespräche, ich verheirate auch Menschen hier. Also das ist erstmal so die ganz normale Palette, die auch ein Pfarramt draußen bringen könnte und dazu kommt noch die besondere Situation, dass ja unsere Gemeinde verschlossen ist, wir müssen die Gefangenen rausschließen","

sagt Rainer Dabrowski. Der kleine kräftige Mann ist Pfarrer und sitzt in seinem winzigen Büro in der JVA. Vor seiner Tür sammeln sich bereits die Mitglieder des Kirchenchors. Ein Mann fehlt noch. Der wird gerade ausgeschlossen, sprich: aus der Zelle abgeholt. Die Gefangenen sind je nach Delikt, in unterschiedlichen Häusern untergebracht.

Pfarrer Dabrowski ist 55 Jahre alt und seit über 20 Jahren Seelsorger, Freund, Berater, Sozialarbeiter und Gesprächspartner in Personalunion. Für alle Inhaftierten - ohne Ausnahme.

""Das sind Männer, die für wenige Jahre oder sehr viel Jahre bis hin zu lebenslänglichen Gefangenen, verschlossen sind. Die haben also ihre Freiheit abgegeben und erleben hier ein Stück Freiheit, was wir ihnen anbieten."

Ein Stück Freiheit ist der Gang in die Kirche, zum Gottesdienst oder zum Kirchenchor – nicht nur zu Ostern. Hauptsache raus aus der Zelle.

"Ich sage jetzt nicht, dass die Gefangenen meiner guten Predigten wegen kommen, sondern jeder nimmt ein Stück für sich mit, was ich nicht zu zensieren habe. Der eine das Orgelspiel, der andere möchte beten, der andere will eine Kerze entzünden und zur Ruhe kommen, der andere ne Predigt hören."

"Ich geh jetzt mal gucken, ob da schon einer am Gitter ist (greift zum Schlüssel). Ach da sind sie doch schon."

Die Chormitglieder sind jetzt vollständig. 20 Männer unterschiedlichen Alters. Der Trupp setzt sich in Bewegung. Pfarrer Dabrowski geht voran in Richtung Kirche. Durch lange Flure mit Zellen rechts und links, eine Eisentreppe hinunter, dann die schmale Kirchentreppe hinauf, durch die kleine Küsterei, über den Altar in die Kirche. Hinter der Gruppe läuft ein Wärter in blauer Jacke. Auf seinem Rücken steht "Justiz", in der Hand hält er ein riesengroßes Schlüsselbund.

Alexander, zierlich, 35 Jahre alt, sitzt wegen Betrug. Im Vergleich zu anderen Häftlingen ist er sehr kurz in der JVA Tegel, nur ein Jahr, sagt er. Er spielt Orgel und hat diesen Gottesdienst mit vorbereitet und Lieder einstudiert.

"Es ist Zeitvertreib und es macht mir Spaß, weil wo kriegt man auch schon mal die Möglichkeit, überhaupt eine Kirchenorgel spielen zu dürfen. Also es macht mir schon Spaß. Und, man ist dadurch auch ein Stück frei."

Alexander setzt sich an die Orgel. Die Männer des Chors stellen sich in zwei Reihen auf den Altarstufen im Halbkreis auf und warten. Warten auf die Gemeinde der JVA Tegel zum Gründonnerstagsgottesdienst. Dieter ist auch Mitglied im Chor. Der kräftige Mann mit schwerer schwarzumrandeter Brille steht in der ersten Reihe.

Dieter: "Ich bin Bass-Bariton und hab Gesang studiert. Ich bin manchmal etwas zu laut im Chor, weil man es als Solist nicht gewohnt ist mit einem Chor zu singen, da muss man sich ein bisschen reduzieren, aber ansonsten macht es Spaß."

Der Chor setzt sich aus Profis und absoluten Anfänger zusammen, wie in anderen Kirchengemeinden auch. Für Pfarrer Dabrowski ist klar, sein Gottesdienst unterscheidet sich sowieso kaum von dem anderer Gemeinden.

"Von der Gemeinde unterscheidet er sich schon und auch von den Geräuschen, die die vielen Schlüssel machen erst recht, aber es gibt keinen Gottesdienst für Gefangene in abgespeckter Version oder in Miniversion, es ist ein richtiger Gottesdienst, wie draußen, und die Gefangenen empfinden dies auch so."

Die Kirche füllt sich langsam. Wie in einem Theater sind die Bankreihen nach hinten erhöht. Neben dem Altar steht geschrieben: "Wen Jesus befreit, der ist wirklich frei."

Die Gefangenen werden in Gruppen, nach Häusern geordnet, in die Kirche gebracht. Langsam steigen sie die Treppen der Kirchbänke hinunter. Die meisten nehmen in den hinteren Reihen platz. Es bilden sich Grüppchen. Die Männer begrüßen sich mit Handschlag, Küsschen oder einem leisen Hallo quer über die Bank. Es wird getuschelt. Ausschließlich zum Gottesdienst kommen die Häftlinge aus allen Häusern zusammen. Der Gottesdienst ist auch Austausch- und Informationsbörse.

Ungefähr 100 Männer haben auf den Bänken Platz genommen, der Ostergottesdienst der JVA Tegel beginnt. Dieter auf den Altarstufen singt voller Inbrunst mit freudigem Lächeln, andere Chormitglieder stehen fast stumm da, eher meditativ, einige summen vor sich hin und verstecken sich hinter dem Vordermann. Die Gemeinde hört genau zu, die Gespräche verstummen.

Nach Predigt, "Vater unser", dem Glaubensbekenntnis und gemeinsamen Liedern lädt Pfarrer Dabrowski zum Abendmahl. Ein normaler Gottesdienst mit normalem Ablauf eben. Nur die Gemeinde verhält sich manchmal doch anders.

Dabrowski: "Die Gefangenen sind spontaner, also wenn es langweilig wird, dann gähnt auch mal einer ganz laut und wenn es mal toll in ihren Augen ist, dann ist auch mal spontaner Applaus, also man hat sofort ein Feedback bei diesen Männern."

Zum Ostersonntagsgottesdienst werden sich die Männer wieder treffen. Zum Singen und Beten, zur Unterhaltung und zum Informationsaustausch.