Geschichten von gewöhnlichen Menschen

Den Alltag sammeln

Eine Frau sitzt auf einem Sofa, im Hintergrund ist ein Hund zu sehen
Total langweilig oder sehr spannend? Alltag: Eine Frau sitzt auf einem Sofa, im Hintergrund ist ein Hund zu sehen. © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Von Stefan Mesch · 16.12.2015
Künstler, Journalisten oder Verlage sammeln Alltagsgeschichten gewöhnlicher Menschen und machen daraus Bücher, Radiosendungen oder Internet-Portale. Woher kommt die neue Lust an solchen Geschichten? Wir fragen den Literaturkritiker Stefan Mesch.
2003 eröffnete Studs Terkel, US-Journalist und Oral-History-Pionier, eine schalldichte Kabine im Grand Central Terminal in Manhattan: NPR, das öffentliche Radio, lud Passanten ein, sich gegenseitig ihre Geschichte zu erzählen – paarweise, in einem pädagogisch-künstlerisch-journalstischen Audio-Projekt: "StoryCorps".
Gewöhnliche Menschen berichten aus ihrem Alltag. Ihre Ängste und Widerstände, ihre Versäumnisse und Leidenschaften, mitunter sehr private Geschichten – die über das Private hinaus wachsen, indem sie exemplarisch Größeres erzählen. Über die USA. Über Lebensläufe. Und über Zuhören, Nachfragen und Empathie.
2015 braucht StoryCorps keine eigenen Kabinen mehr: Wir tragen meist einen eigenen Audio-Recorder mit uns herum, können alle Fragen und Antworten speichern, archivieren – im Smartphone. Um Alltagskultur und Gegenwart festzuhalten, um Menschen von der Straße eine Chance zu geben, sich zu äußern... braucht es keine Radiosender oder journalistische Großprojekte mehr:
Manchmal bleibt es banal
Twitter und Facebook, Blogs und Youtube, Straßenfotografie und anonyme Netz-Beichtstühle, Websites wie Reddit und Instagram geben Menschen alle Möglichkeiten, sich zu zeigen. Ihren Körper. Ihre Geschichten. Intimes und Alltägliches.
Erzähler, Medien, Reporter haben diesen "Rohstoff Geschichten" für sich entdeckt. Mit wachsender Begeisterung (und sinkendem Aufwand) stellen sie ihrerseits in eigenen Projekten Stimmen und Geschichten aus der Masse zusammen. Oft entstehen gelungene, aufregende Archive. Manchmal bleibt es platt oder banal.
Auf Postsecret.com werden (oft sehr kreative) Postkarten gezeigt, auf denen Menschen hässliche Geheimnisse jeder Größenordnung verraten.
Eine 15-Jährige sammelt auf einer Webseite die Chatnachrichten und SMS von Menschen, die sich plötzlich getrennt haben, verschwunden oder verstorben sind.
Auf Youtube erzählen Vlogger aus ihrem Leben. Als die Modebloggerin Fräulein Chaos erzählt, wie sie jahrelang in der Schule gemobbt wurde, hören 160.000 Menschen zu.
Der Schweizer Künstler Mats Staub hat Menschen aller Altersgruppen eingeladen, die 10 wichtigsten Ereignisse ihres Lebens aufzuschreiben und präsentiert diese Listen als Ausstellung, Buch und Website.
Die Schriftstellerin und Technik-Journalistin Kathrin Passig führt Protokoll, wenn ihre Geräte und technische Veränderungen im Alltag begegnen: die erste Telefonkarte, das letzte Fax. Ihre Seite wuchs zu einem gigantischen Archiv an: Menschen berichten, wo Technik ihren Alltag verändert. Im ganz Kleinen. Und im fantastisch Großen.
Die Menschen von New York
Der Straßenfotograf Brandon Stanton wollte 10.000 New Yorker auf der Straße portraitieren, begann bald, auch kurze Interviews und Statements zu sammeln... und ist heute vor allem für diese Wort-Bild-Kombinationen berühmt, die von 15 Millionen Menschen gelesen werden, meist auf Facebook. Sein Buch "Humans of New York: Die besten Stories" erschien im Oktober auch auf Deutsch.
Immer wieder aber haben die Fotografierten keine Lust, sich von Brendon Stanton auf kurze, inspirierende Statements reduzieren zu lassen. Portraitierte antworten u.a. "Das wird mir zu persönlich.", "Sie werden das, was ich sage, falsch darstellen.", "Über mich werden Sie gar nichts erfahren.", "Diese Erfahrungen waren so bedeutungsvoll für mich, dass ich nicht möchte, dass Sie davon nur ein paar gekürzte Aussagen wiedergeben." In der New York Times erschien ein kritischer Artikel über "Humans of New York" und leicht konsumierbare persönliche Geschichten in der New York Times.
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