Geschichte als Emanzipationsbewegung

Von Maike Albath · 20.05.2005
Er war ein kämpferischer Vertreter demokratischer Ideale und schrieb Bücher, die zu den meistgelesenen und meistdiskutierten Werken seiner Zeit gehörten: Georg Gottfried Gervinus, geboren am 20. Mai 1805 in Darmstadt. Der Begründer der wissenschaftlichen Literaturgeschichte ist aus dem öffentlichen Gedächtnis fast verschwunden. Dabei ist sein Schicksal exemplarisch für Deutschland und die deutsche Geschichte.
Darmstadt, 1818. Der Gymnasiast Georg Gottfried Gervinus langweilt sich in der Schule und entdeckt in den Regalen einer Leihbibliothek die Werke Homers. Odysseus, das ist ein Held nach seinem Geschmack! Von seinem Vater, einem Napoleonverehrer und Betreiber einer Weinwirtschaft zu Bürgerstolz und geistiger Unabhängigkeit erzogen, verfasst der 14jährige kurzerhand einen Epos von mehreren Tausend Hexametern und beschließt, sein Leben der Literatur zu widmen. Doch nach einem niederschmetternden Intermezzo als Buchhändlerlehrling wird er erst einmal Verkäufer in einer Tuchhandlung.

"Diese Jahre haben mir Eigenschaften gegeben, die mir kaum auf einem anderen Wege zuteil geworden wären. Natürliches Benehmen, Unverschrobenheit der Denkweise, gesunde Sinne, einfache von aller Kleinmeisterei entfernte Betrachtung der Dinge, kurz, eben diese Menschenkenntnis, die sich hier spielend erlernt und ungesucht ergibt, hätte mir die Schule und Universität nicht angeeignet."

Aber sein Bildungshunger hält an, und Gervinus studiert Philologie. Nach der Veröffentlichung des ersten Bandes seiner methodisch bahnbrechenden Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen wird er 1836 als Professor nach Göttingen berufen. Es ist der erste große Versuch, Literatur nicht isoliert zu behandeln, sondern mit sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Strömungen in Zusammenhang zu bringen. Mit seinen Freunden Jacob und Wilhelm Grimm und anderen Kollegen protestiert Gervinus 1837 gegen den Staatsstreich des Königs von Hannover, der nach seiner Krönung die Verfassung außer Kraft gesetzt hatte.

"In einem Lande, wo sich Immoralität und brutale Gewalttat auf den Thron setzt und selbst nur die Maske des Rechtes nicht vorzunehmen für nötig achtet, in einem solchen Lande ist weder für einen Mann von Gewissen noch für einen Mann der Wissenschaft eine heimliche Stätte."

Die "Göttinger Sieben", wie die aufrechten Professoren genannt werden, müssen ihren Dienst quittieren, und Gervinus wird des Landes verwiesen. Seiner Produktivität tut das keinen Abbruch. Er tritt eine Honorarprofessur in Heidelberg an, macht als Chefredakteur der neu gegründeten Deutschen Zeitung von sich reden, wird zu einem führenden Kopf der Revolution von 1848 und zieht als Abgeordneter in die Frankfurter Paulskirche ein. Von den Taktiken der Vertreter Preußens ernüchtert, gibt Gervinus schon im Juli sein Mandat für die Nationalversammlung zurück. Eine wissenschaftliche Analyse der Verhältnisse scheint ihm notwendig. Im Mai 1851 lässt er Jacob Grimm wissen:

"Ich gehe mit dem kecken Gedanken um, die Geschichte der neusten Zeit von 1815 ab zu schreiben; die Masse des Stoffs zu bewältigen und die politische Orthopädie auf die Menschen wirken zu lassen, das sind hier Schwierigkeiten, die sich mit Ihren lexikographischen vielleicht vergleichen lassen. Indessen habe ich mich einmal in den Gedanken vertieft, und wenn mein Kopf mir nicht den Dienst versagt, will ich in Gottes Namen dran."

Die Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts wird Gervinus’ wichtigstes Werk - er begreift Geschichte als eine universale, von den Völkern getragene Emanzipationsbewegung, die die staatlichen Institutionen schrittweise verändert oder zerbricht. Wieder handelt er sich Ärger ein: 1853 bezichtigt ihn das badische Hofgericht des Hochverrats und entzieht ihm die Lehrbefugnis. Jacob Grimm:

"Wir sind erstaunt und erschrocken. Nach Ihrer schönen, rührenden Rede, die auch die Blinden hätte sehen machen müssen, nach dem ganzen öffentlichen Gang der Verhandlung war ich nur auf Ihre Freisprechung gefasst. Niemals ist ein Unschuldigerer verurteilt worden, von allem, was man Ihnen zur Last legt, ist nichts, das Geringste nicht in Ihrem Buch oder in Ihnen. Was wird nun geschehen?"

Nach etlichen juristischen Haarspaltereien verzichtet der Staatsanwalt schließlich auf die Verfolgung der Strafsache. Verbittert über die deutschen Verhältnisse widmet sich Gervinus einer Studie über Händel. Den Rückhalt im gebildeten Bürgertum verliert der liberale Gelehrte während des innerdeutschen Staatenkrieges 1866, als er Bismarck scharf kritisiert, hellsichtig den nationalen Machtstaat verurteilt, auf der Notwendigkeit der Demokratisierung beharrt und dann mitten im Siegestaumel von 1870 die Katastrophe prognostiziert. Im Jahr darauf stirbt Gervinus. Der deutsche Sonderweg war längst beschritten.