Gerechtigkeits-TÜV

Rezensiert von Melanie Ahlemeier · 01.05.2012
Die Hauptthemen des Buches von Wolfgang Kersting - der Markt und die Gerechtigkeitsfrage - sind brandaktuell. Doch wer sich nicht wirklich für Wirtschaftstheorien interessiert, tut sich mit Kerstings Werk schwer - erst recht ohne Fremdwörterlexikon.
Gibt es soziale Gerechtigkeit in einer funktionierenden Marktgesellschaft? Und, falls ja: Wie sieht sie aus? Wolfgang Kersting, Professor im "Unruhestand", treibt all das um.

"Gerechtigkeit ist unvermeidlich geworden". (Seite 13)

... schreibt der bekennende Liberale in seinem neuen Buch. Parteien, Kirchen und Verbände bezichtigt er ...

der "inflationären Gerechtigkeitsrede". (Seite 14)

Und darum versteht er selbst sein Werk auch als ...

"Gerechtigkeits-TÜV". (Seite 14)

Zur TÜV-Prüfung mitgenommen hat der Ex-Professor der Universität Kiel ökonomische Klassiker wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Sie sollen ihm helfen, einen Zukunftsweg, einen - so nennt es Kersting - "dritten Weg" im Sinne von Freiheitsmehrung und Chancengleichheit argumentativ aufzuzeigen. Doch erst einmal leistet Kersting Basisarbeit. Und das klingt so:

"Dass die Wirtschaft einer Ordnung bedürfe, das war die grundlegende Einsicht der ökonomischen Ordnungsdenker. Die Selbstregulationsüberzeugung des Wirtschaftsliberalismus war eine Illusion. Überlässt man den Markt sich selbst, stiftet er nur Unheil. Nicht nur wird die Marktfreiheit durch entstehende ökonomische Machtkonstellationen zerstört; auch wird die gesellschaftliche Umwelt des Marktes vergiftet.

Ein sich selbst überlassener Markt ist wie ein Virus, der die gesamte Gesellschaft ansteckt, das Denken und Handeln der Politik verändert und die Selbstverständigungsmuster der Kultur unterhöhlt. Er ist eine Krankheit, die den ganzen gesellschaftlich-politischen Körper so sehr schwächt, dass er den Angriffen des totalitären und kollektivistischen Gesindels, den Demagogen und Ideologen, den Sophistern der Antibürgerlichkeit und den Reißbrettutopisten der Planwirtschaft immer weniger entgegenzusetzen hat und schließlich in der Diktatur untergeht." (S. 143)


Eines muss man Kersting lassen: Er kann mit Sprache umgehen. Er kann formulieren. Streckenweise ist das knapp 300 Seiten starke Buch gut lesbar, sogar Wortneuschöpfungen finden sich und unterhalten den Leser. So schreibt Kersting:

"Der Markt ist die hohe Schule der Selbstverantwortlichkeit" (S. 20)

– das macht Spaß zu lesen. Ebenfalls gelungen:

"Der Sozialstaat ist kein Ort ethischer Exzellenz, er erzieht nicht zur Moral. Seine Anreizsysteme begünstigen den Egoismus nicht minder als der Markt. Die Menschen betreiben ihre Versorgungskarrieren im Sozialstaat mit der gleichen egozentrischen Konzentration wie ihre Erfolgskarrieren auf dem Markt, nur müssen sie nicht das disziplinierende Selbstverantwortlichkeitspensum ableisten, das der Markt jedem abverlangt." (Seite 20)

Das ist gelungen, doch es reicht nicht, um das Werk zu retten. Denn: Zum Großteil ist es schwere Kost, wirtschaftshistorische Nachhilfe – das kann man, muss man aber nicht mögen. Vor allem aber ist das Buch ein Lehrbuch. Welche Meinung aber hat der Autor? Konkret wird das nur an wenigen Stellen erkennbar.

Es ist ein Lehrbuch im Wissenschaftsduktus – und das ist schade. Wortgewaltig zwar, aber leider auch schrecklich verquartzt geschrieben. Es ist anstrengend zu lesen. Ein Fremdwörterlexikon kann nicht schaden. Wer wird sich dieses Buch freiwillig antun wollen?

Es bietet zu viele philosophische Exkurse. Und manches läuft nur auf Geschwurbel hinaus.

"In seiner Analyse des Wirtschaftsliberalismus setzt Röpke die Akzente ein wenig anders. Obwohl er sich in der Beschreibung der Oberflächengestalt des Wirtschaftsliberalismus wenig von Rüstow unterscheidet, ebenso wie dieser den Wirtschaftsliberalismus für viele pathologische Züge der Moderne haftbar macht, sieht er die Ursachen für diese Fehlentwicklung der Marktwirtschaft, für deren kapitalistische Degeneration nicht in einer theologisch-metaphysischen Unterfütterung des Selbstregulationsdogmas, sondern in der neuzeitlichen Vernunfthybris, in der "rationalistischen Verranntheit" modernen Denkens. Beiden gemeinsam ist die Ausrichtung aufs Absolute und Unbedingte. Gleichgültig, ob sich in der Gleichgewichtsüberzeugung des ökonomischen Liberalismus die Ordnungsvorstellungen der metaphysischen Überlieferung und die Hoffnung auf die providentielle Vernunft Gottes oder die szientistische Hybris des rationalistischen Weltbildes zum Ausdruck bringen, immer wird das Wirtschaftssystem als ein selbstgenügsames, ausschließlich durch die Bewegungen interner Kräfte gesteuertes System betrachtet, dessen Schicksal nicht im Mindesten von systemexternen Voraussetzungen abhängt." (S. 53)

Alles klar? Vorsichtshalber noch dies hier:
"Der Wohlfahrtsstaat ist kein Remedium der Modernisierung, kein Antidot gegen die Vereinzelung. Die von ihm gelieferte Solidarität restituiert nicht das Ethos der kleinen Lebenskreise, den verlorenen Gemeinsinn. Er ist auf den Individualisierungssteppen der Moderne errichtet und vermag die verblichenen Sozialwelten nicht zurückzubringen. Daher ist das modernitätsskeptische Reethisierungsprogramm des Neoliberalismus konsequenterweise immer auch gegen den bürokratischen Wohlfahrtsstaat gerichtet, gegen die Ökonomisierung und Verrechtlichung der gemeinschaftlichen Solidarität." (S. 87)

Wer sich nicht wirklich für Wirtschaftstheorien interessiert, liest hier freiwillig nicht weiter. Verschenkt, könnte man also rufen. Beide Hauptthemen des Buches - der Markt, aber auch die Gerechtigkeitsfrage - sind brandaktuell. Nicht erst seit der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise.

Spannend hätte das Buch werden können, der Titel gibt es her. Markt und Gerechtigkeit - was für eine Kombination! Auf Seite 135 dann taucht auch endlich die große Frage auf:

"Was ist das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft?"

- und schon wieder kommt nur Geschwurbel.

"Dann muss die normative Navigation aus dem Halbdunkel des Intuitiven herausgenommen und in die Helle der begrifflichen Bestimmung gestellt werden."

– herrjeh! Wolfgang Kerstings Buch ist zu viel Wortklauberei und zu viel gestern. Wo bleibt der Bezug zum Heute? Wo der Blick in die Zukunft? Welche Theorie trägt auch in Krisenzeiten?

Knapp eineinhalb Jahre vor der Bundestagswahl segeln die Piraten in den Umfragen steil nach oben, die FDP ringt mit der Fünf-Prozent-Hürde – warum traut der Autor sich da nicht ran? In dem Buch sind die alten ökonomischen Meister noch einmal aufgeschrieben, und zwar mit philosophischem Kontext. So what?

Besser wäre es gewesen, alte Ökonomen neu zu entdecken, ihre Theorien, Konstrukte aufs Morgen zu übertragen und anzuwenden – und zwar mit Blick auf den Markt wie auf die Gerechtigkeitsfrage. Doch das fehlt dem Buch. Leider.


Wolfgang Kersting: Wie gerecht ist der Markt? Ethische Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft
Murmann Verlag Hamburg, Februar 2012