Geheimnisvolle Schriften

24.09.2009
Zu den wenigen chinesischen Autoren, die bei einem breiteren europäischen Publikum bekannt und beliebt sind, gehört der seit 1984 im Pariser Exil lebende Dai Sijie. Seit dem internationalen Erfolg seines Romans "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin", der bei uns 2001 erschien, schätzt man ihn als charmanten Erzähler, der mit leichter Hand von den schrecklichen Verheerungen berichtet, die die chinesische Kulturrevolution angerichtet hat.
Wer die kleine chinesische Schneiderin geliebt hat, wird vielleicht mit dem neuen Buch des 1954 geborenen Chinesen seine Schwierigkeiten haben. Denn dieses "Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht" hat, abgesehen von dem flüssigen Erzählton, nur wenig mit der Dreiecks-Liebesgeschichte von vor acht Jahren gemein. Erzähltechnisch raffiniert, mit vielen Verschachtelungen, vor allem aber dank seiner zahlreichen kulturgeschichtlichen Exkurse auch einigermaßen anspruchsvoll, ist der vorliegende Text ein mit großer literarischer Ambition verfasster "Gelehrtenroman".

Im Kern geht es, wie bei Potocki, um eine verlorene Handschrift und die Suche nach ihr, die - und nun kommt die Liebe doch ins Spiel - eine junge französische Studentin und einen nur wenig älteren chinesischen Gemüsehändler (der aber väterlicherseits von einem französischen Gelehrten und mütterlicherseits aus der Familie der letzten chinesischen Dynastie abstammt) zusammenbringt.

Beide sind besessen von der Faszination für alte, untergegangene Sprachen. Und beide erfahren unabhängig voneinander von einer kalligraphischen Sutra, einem heiligen buddhistischen Text, den der letzte Kaiser von China, als er in den 30er-Jahren in die Mandschurei ausgeflogen wurde, aus seinem Flugzeug abgeworfen haben soll - eine Hälfte davon zumindest, die andere, durch die der heilige Text erst verständlich werden würde, ist eben das Verschwundene, nach dem sich die beiden jungen Leute auf die Suche machen.

Diese Suche führt sie immer mehr hinein in die Geheimnisse des alten China. Tumschuk, das Land und die Sprache, aus der die verlorene Handschrift stammen, das hat der Autor in Interviews bekannt, ist zwar eine Erfindung, aber die vielen Details, die wir über die chinesische Verehrung für Texte und Schriftzeugnisse erfahren, dürfen als authentisch gelten.

Gleichfalls muss die Figur des französischen China-Forschers Paul d' Ampère, des Vaters des Gemüsehändlers, als fiktiv gelten, aber eine Verbeugung vor den immens kenntnisreichen China-Forschern, die Europa in den vergangenen Jahrhunderten hervorgebracht hat, ist sie, den Äußerungen des Autors zufolge, trotzdem.

Je länger man sich in die Geschichte von Dai Sijie hineinversenkt, desto mehr gewinnt man den Eindruck, man habe es hier mit einer Allegorie zu tun - einer Allegorie auf das ewige China, das von wenigen Eingeweihten immer wieder neu erforscht und erobert wird, den politischen Machenschaften der jeweiligen Herrschaftscliquen zum Trotz.

Alle Figuren des Romans, die das Geheimnis der verlorenen Handschrift aufzuklären versuchen, sind Verfolgte, Eingesperrte, Behinderte, denen erst das kommunistische, dann das autoritär kapitalistisch gewendete offizielle China das Leben schwer machen. Insofern liest sich der Roman auch als Kommentar zu den Querelen um das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Er sagt uns nämlich indirekt: nur das nicht-offizielle China zählt!

Besprochen von Tilman Krause

Dai Sijie: Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht
Roman. Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni
Piper Verlag, München 2009
320 Seiten, 19,95 Euro