Gegen die verkrusteten Traditionen

Von Barbara Wiegand · 01.10.2009
Zum 100. Geburtstag des Futuristischen Manifests präsentiert der Martin-Gropius-Bau in Berlin die Ausdrucksformen der avantgardistischen Kunstbewegung ihrer ganzen Breite. Die Ausstellung "Sprachen des Futurismus" widmet sich Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater und Fotografie.
Paff Piff Po RRR, oder Zang Tumb Tumb – steht auf einigen an die Wand gehängten Blättern zu Beginn des Rundganges geschrieben. Was sich heute liest wie Lautmalereien aus einem Comic ist die pure Poesie des Futurismus – ein "sprachlicher Salto Mortale" wie es Filippo Tommaso Marinetti beschrieb. Der Italiener war der Begründer dieser avantgardistischen Kunstbewegung aus Italien, die mit seinem Tod 1944 endete. Und er war Dichter – weshalb auch bei den Futuristen am Anfang das Wort war, wie Kuratorin Gabriella Belli vom Museum für moderne und zeitgenössische Kunst aus Trient erläutert.

"Marinetti gibt der Dichtung neue Regeln. Er verzichtet auf Interpunktur, verwendet neue Worte. Er erfindet in seinen Manifesten eine neue Form zu dichten. Aber das Besondere ist, dass die Schrift zur Figur wird. Also der Buchstabe ist nicht nur Teil eines Wortes. Vielmehr wird er gemeinsam mit den anderen zu einem Bild, einem Gesamtklang."

Aber auch andere Sparten der Kunst standen für den 1909 von Marinetti in einem Manifest propagierten Aufbruch – weg von den Traditionen – hinein in die Zukunft. Das versucht die Ausstellung mit verschiedenen Schwerpunkten in den einzelnen Räumen zu zeigen.

Eine Installation alter Lautsprecher etwa kündet von der Musik der Futuristen, als "Kunst der Geräusche". Ein paar Schritte weiter hängen kastenköpfige Puppen und kegelförmige Figuren von der Decke, geformt von Fortunato del Piero. Nebenan findet sich die Rekonstruktion eines Bühnenbildes des Bildhauers. Mit Figuren, die eine fantastische Mischung sind aus Menschen und Blumen.

Außerdem gibt es Fotografien zu sehen, die doppelt und dreifach belichtet gleich mehrere Momente und Motive in einer Aufnahme zeigen - als Sinnbilder permanenter Bewegung. Nicht zu vergessen die Malerei. Hier brechen die Künstler gewohnte Perspektiven auf. Häuser kippen, Menschen zersplittern in vielarmige und -köpfige Wesen. Formen verwischen, Landschaften zerfließen. So ist der Futurismus also als eine Art Gesamtkunstwerk zu betrachten, eine vielseitige Strömung mit einem Ziel: nach vorn. Nochmals Gabriella Belli:

"Als Marinetti 1909 sein Manifest schreibt, erfindet er den Namen des Futurismus. Ein Name, der ganz klar benennt, worum es geht: Nämlich um den Glauben an Morgen, an den Fortschritt. Die Futuristen waren nämlich überzeugt davon, dass Fortschritt und die damit verbundene Industrialisierung alle Probleme lösen würde. Das zu glauben, ging natürlich nur in einem Land wie Italien, einem damals rückwärtsgewandten Land, in dem die Industrialisierung noch keinen Fuß gefasst hatte."

So schreibt Marinetti in seinem 1909 im "Figaro" veröffentlichten Manifest des Futurismus an gegen die verkrusteten Traditionen im noch in alten Feudal und Agrarstrukturen verhafteten Italien. Gegen die Museen, die Bibliotheken, die Vergangenheitskultur schreibt er an. Als revolutionäre Loslösung vom Gewesenen. Wobei man sich durchaus auf andere Strömungen der Moderne bezog - in den 30er-Jahren etwa sieht man Einflüsse des Surrealismus, mit seinen symbolhaften Traumbildern.

Auch Elemente des Bauhauses finden sich in den rhythmisch geometrisch geprägten Abstraktionen von Giacomo Balla. Aber vor allem der Kubismus war prägend – das zeigt sich etwa in den zersprengten Formen der Malerei von Carlo Carra. Dessen Gemälde waren 1912 auch in der Berliner Galerie von Herwarth Walden zu sehen, der in seiner Zeitschrift "Der Sturm" auch das Futuristische Manifest druckte.

Während damals der Futurismus zweifellos im Licht der Avantgarde stand, fällt auf eine andere, 22 Jahre später im Hamburger Kunstverein und der Berliner Galerie eröffnete Futuristen-Ausstellung ein tiefer Schatten. Der Schatten der Nähe des Futurismus zum Faschismus – und damit zum Nationalsozialismus.

Denn die Schau zeigte sogenannte Flugbilder – von denen eines jetzt auch im Martin-Gropius-Bau zu sehen ist. Die darauf als tollkühne Männer in fliegenden Kisten gemalten Piloten, die in kamikazehaftem Sturzflug in die modernen Metropolen herunter stoßen, sie begeisterten führende Nazis wie Hermann Göring, einer der Schirmherren der Ausstellung. Und auch wenn Hitler den Futurismus später als entartet erklärte - der Makel blieb an der Kunstbewegung haften. Zumal der ursprünglich aus anarchistischen Kreisen stammende Marinetti enge Beziehungen zu Mussolini pflegte und unter diesem sogar Kulturminister wurde.

"Man muss da erstmal unterscheiden. Es gibt ja zwei Phasen des Futurismus. Bis 1924 war die Bewegung noch sehr frei von Ideen und Schemen, die an den Faschismus erinnern. Also diese Flugmalerei zum Beispiel, die kam erst später. Aber natürlich sind sich Futurismus und Faschismus in ihrer Fortschrittsgläubigkeit, in ihrer Bewunderung von moderner Technik, Kraft, Geschwindigkeit sehr nahe. Aber es gab ja eine zweite künstlerische Bewegung in Italien, die des Nove Cento, des Neuen Jahrhunderts. Und die Künstler befassten sich viel mehr mit faschistischen Themen und Thesen. Da ging es um Heimat, Familie, um die eigentlichen Ideen des Faschismus."

So sehr Gabriela Belli dieses heikle Kapitel in der Geschichte des Futurismus relativiert, so wenig wird es in der Ausstellung selbst thematisiert. Es taucht allenfalls auf in kurzen Absätzen der recht trockenen Wandtexte. Ansonsten stellt man die Vielfalt des Futurismus in den Vordergrund. Die Leichtigkeit, aber auch den zielgerichteten Mutwillen, mit denen die Futuristen mit vergangenen Traditionen brachen. So bekommt man sicher einen lebendigen Eindruck von dieser künstlerischen Bewegung, vermisst aber tiefer gehende Einsichten und Einordnungen.