Gedichte voller Weisheit

11.01.2007
Die Poesie des in Jerusalem lebenden Manfred Winkler, dessen Angehörige von den Nazis ermordet wurden, ist vom reinen Berichten ebenso entfernt wie von der Hoffart des gewollt Dunklen. Winkler ist ein alter Mann voller Weisheit und mit wunderbaren Gedichten, die mit jener Weisheit niemals prunken.
Im klassischen China pflegte man Leuten, die einem verhasst waren, ein "interessantes Leben" zu wünschen. Nicht wenige, die dann ein solches hatten - und vor allem: überstanden – glauben seither, als Lohn für so viel erlittenen Schrecken einen privilegierten Zugang zur Göttin der Poesie zu besitzen. Ein packender Zeitzeugenbericht ist jedoch noch lange kein Roman oder ein Gedicht.

Das muss keineswegs eine Abwertung bedeuten – im Bereich lebensweltlicher Erfahrung existieren keine Genre-Hierarchien. Wer allerdings das Wagnis eingeht, Lyrik zu schreiben, sollte sich bewusst sein, dass - bei ausreichendem Reflexionsbewusstsein - ein Erlebnis zwar durchaus zu einer Erfahrung werden kann, jedoch nicht sofort automatisch auch zu einem Bild, einer Metapher, zu einer liedhaften oder symbolgesättigten Zeile, die "das, was passiert" auf eine andere Ebene transformiert.

Genau dieses Problems ist sich der aus der Bukowina stammende und seit 1958 in Jerusalem lebende Manfred Winkler bewusst, wenn es in einem seiner Gedichte nahezu beschwörend heißt:

"Sage das Unsagbare das Ungesagte sage es auch/ doch das Zweigesagte sage nicht." Sage also nicht, dass Du den Terror des Jahrhunderts kennst, dass Familienmitglieder in der Shoa und in Stalins Gulag ermordet wurden, dass Du nicht nur Hitlers Wahn, sondern auch die kommunistische Repression im Nachkriegs-Rumänien erlitten hast, ehe die Ausreise nach Israel glückte: Sage es anders.

Manfred Winkler, inzwischen 85 Jahre alt und noch immer als Bildhauer, Lyriker und Übersetzer tätig, ist deshalb ein zutiefst skrupulöser Zeitgenosse. "Überall auf der Straße begegnet uns/ das Wörtchen aber" schreibt er, der in den sechziger Jahren Paul Celan ins Hebräische übertrug und von dessen Sprachskepsis geprägt wurde - aber eben auch vom Wunsch des Miteinander-Sprechens in noch nicht fad gewordenen, noch nicht verratenen Worten.

"Wenn die Zeit kommt/ die unerwartete/ wenn der Abend vorzeitig/ in den Morgen fällt/ wenn man woanders sagt/ dass Zeit ist/ wenn man nichts sagt/ Wenn man auf Augen wartet, die nicht mehr sind -/ wenn man verstummen möchte/ und es nicht kann/ und wenn man verstummt/ und es nicht mehr will"

Diese Poesie, nun endlich in einem schön gestalteten Band den Lesern in Deutschland zugänglich, ist vom reinen Berichten ebenso entfernt wie von der Hoffart des gewollt Dunklen. Ein alter Mann voller Weisheit und seine wunderbaren Gedichte, die mit eben jener Weisheit niemals prunken.

"Jemand döst vor sich hin/ in den kaltgewordenen Tee/ im Café Rowal im Zentrum Tel Avivs/ Jemand hört der heimkehrenden Herden/ karpatisches Glockenspiel."

Von Marko Martin

Manfred Winkler: Im Schatten des Skorpions.
Gedichte. Rimbaud Verlag, Aachen 2006,
240 S., geb., 18,60 Euro.