"Ganz, ganz wichtig ist einmal trösten"

Das Gespräch führte Susanne Führer · 22.12.2011
Elf Monate im Jahr ist er Kfz-Mechaniker - vier Urlaubswochen lang kümmert sich Wolfgang Liebe als "Nikolaus" um Kinder, Senioren, Kranke und Sterbende. Für den Katholiken nicht nur eine Rolle, sondern selten anzutreffendes, tief empfundenes menschliches Mitgefühl.
Susanne Führer: Im Dezember schlüpfen viele erwachsene Männer freiwillig in ein recht merkwürdiges Kostüm, das des Weihnachtsmanns oder auch das des Nikolaus, also weißer Rauschebart, roter Mantel, und erfreuen dann damit Kinder oder auch Erwachsene in Heimen und Krankenhäusern. Nach ein paar Stunden ist die Verwandlung dann wieder vorbei. Anders bei Wolfgang Liebe. Er gibt die gesamte Adventszeit über den Nikolaus, manche sagen auch: Er ist der Nikolaus. Gestern Nachmittag war er uns aus München zugeschaltet, wo er eine Kinderkrebsklinik besucht hatte. Ich grüße Sie, Herr Liebe! Oder sollte ich sagen: Nikolaus?

Wolfgang Liebe: Ja, ich werde natürlich von den Kindern immer Nikolaus, Sankt Nikolaus genannt, aber der, wo drinsteckt, ist nur der Herr Liebe, ja.

Führer: Gut, dann bleibe ich mal bei Herrn Liebe. Was haben Sie denn da jetzt gemacht in der Klinik? Wie sieht so ein Nikolaus-Auftritt aus?

Liebe: Ja, das ist natürlich so, dass wir uns anmelden und die Krankenhäuser, die Kinderkrankenhäuser besuchen, und dann darf ich in die Zimmer gehen, wo die Kinder dann liegen, oder man versammelt sich dann einfach in einem Zimmer, wo man dann die Kinder begrüßt. Ja, und dann wird erzählt über Myra, über die Geschichte des heiligen Nikolauses, und ich habe meistens eine Puppe dabei, eine Handpuppe – weil nicht jedes Kind sofort sich mit mir anfreundet als Bischof, und dadurch kann ich mit dem Schweinchen Pinki doch sehr viel Freude machen. Und dann gibt es natürlich auch immer Geschenke. Kinder, die keine Schokolade haben, da ist es eben nicht so, da hat man dann eben Spielsachen dabei.

Führer: Die Kinder sind erst ein bisschen eingeschüchtert, meinen Sie. Sie sind ja groß, habe ich gelesen, ich sehe Sie ja nicht – Sie sind aus München zugeschaltet –, und so ein Rauschebart und so, da sehen Sie ein bisschen bedrohlich aus vielleicht?

Liebe: Nein, das nicht, aber ich bin 1,98 Meter groß, und mit dieser Mitra bin ich doch über 2,20 Meter. Und da – dann ist man schon sehr, sehr stattlich.

Führer: Und wie viele solcher Nikolaus-Termine haben Sie im Dezember?

Liebe: Das sind zwischen 30 und 37 Terminen, und das ist jeden Tag ein Krankenhaus oder ein Altenpflegeheim, oder man besucht die Menschen auf der Straße, was auch sehr wichtig ist im Ausland.

Führer: Haben Sie denn auch einen bürgerlichen Beruf?

Liebe: Ja, ich bin Kfz-Meister bei Volkswagen in Stuttgart.

Führer: Und woher nehmen Sie die Zeit?

Liebe: Die Zeit ist mein kompletter Urlaub, den ich opfere seit 23 Jahren, und das ist für mich sehr, sehr wichtig, weil ich Katholik bin und Christ bin und den Menschen Trost spenden möchte.

Führer: Warum machen Sie das, irgendwas muss es Ihnen ja auch geben?

Liebe: Ja, natürlich, für mich ist es eine Bestätigung, dass ich von vielen kranken Menschen, von vielen Kinderaugen ein Dankeschön zurückbekomme, indem sie mir zuhören und indem sie einfach auch sagen: Mann, den Nikolaus gab es ja mal in Myra! Und diese geschichtliche Sache, das ist ja auch mit dem Herrn Benedikt abgesprochen, dem XVI. in Rom, damit ich dieses Leben des heiligen Nikolaus auch durchleben kann und somit auch den Menschen zeigen kann: Da gab es mal jemand. Es ist nicht nur der beste Freund, der Weihnachtsmann, sondern es gibt ja den Sankt Nikolaus aus Myra, der damals wirklich gelebt hat und alles Gute tat für die Armen.

Führer: Und das haben Sie mit dem Papst abgesprochen?

Liebe: Ich war 2007 eingeladen vom Heiligen Vater in Rom. Es war beeindruckend, vor über 150.000 Menschen gesegnet zu werden. Alle haben es gesehen, und er sprach mich persönlich an und dankte für die Arbeit und Mühe. Und mittlerweile hatten wir uns schon drei Mal gesehen in den letzten vier Jahren.

Führer: Sie sind ja aber nun schon länger Nikolaus als er Papst. Wie hat das eigentlich angefangen, Herr Liebe?

Liebe: Es begann an dem Tag, als meine Mutter im November 1989 im Krankenhaus Böblingen wegen einer Gallenoperation lag. Neben ihr lag eine sehr betagte Dame, die nur auf einen Punkt an die Decke starrte und kein Wort sprach. Ich setzte mich zu ihr ans Bett und streichelte ihre Hände und sagte: Ach, das wird doch alles wieder gut. Nach einer Weile schaute sie mich an und sagte: Weihnachtsmann. Na, das war ein Ding. Ich konnte damit nichts anfangen. Als ich meiner Mutter darüber berichtete, sagte meine Mutter zu mir: Nun, Bub, aus Dir gäb's doch mit 1,98 doch einen tollen Sankt Nikolaus. Und ab dieser Zeit wurde ich aufmerksam. Und ich bin meiner Frau Claudia und meiner Familie sehr, sehr dankbar. Und ich bin auf Stadtbummel in Stuttgart gewesen und habe dort in einem Spielwarengeschäft ein ganz billiges Weihnachtsmannkostüm gefunden – das hat damals acht D-Mark gekostet –, und das habe ich mir einfach gekauft. Mein Leben als Weihnachtsmann begann in den Kindergärten – das war meine Gesellenzeit –, denn Kinder vergessen nichts und beobachten einen Weihnachtsmann sehr genau. Das ist meine Arbeit für meine katholische Kirche.

Führer: Der Nikolaus Wolfgang Liebe ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Herr Liebe, das klingt auch so ein bisschen so, als wären Sie als Nikolaus ein anderer Mensch.

Liebe: Ja, ich denke, man reift mit der Situation vom Weihnachtsmann zum Sankt Nikolaus. Ich habe mir Bücher gekauft, ich habe mich informiert. Ich bin nach Myra gefahren. Dort bin ich jetzt seit einem Jahr sogar Ehrenbürger der Stadt. Ohne Sponsor könnte ich das natürlich nicht, und als Kfz-Meister haben Sie ein kleines Gehalt. Ohne diesen menschlichen Kontakt, den ich jedes Jahr brauche, und ohne die Hilfe meiner Familie wäre meine Arbeit nicht möglich.

Führer: Noch mal die Frage mit dem Anderen. Elf Monate im Jahr sind Sie Kfz-Mechaniker und einen Monat im Jahr sind Sie Nikolaus?

Liebe: Ja.

Führer: Verhalten Sie sich anders, sind Sie auch ein anderer Mensch?

Liebe: Nein. Das können Sie nicht. Sie können den Sankt Nikolaus nicht spielen, das geht nicht. Sie müssen von Grund auf ein guter Mensch sein. Auch ich mache Fehler, aber ich bemerke meine Fehler und versuche die zu berichtigen. Und das verbinde ich immer mit Gott und mit Gebeten, Menschen helfen – auch in Not.

Führer: Sie haben jetzt schon mehrfach Ihrer Familie gedankt, Herr Liebe. Das heißt, die nehmen das so hin, dass die von Ihnen in der Adventszeit gar nichts haben?

Liebe: Es ist wirklich so, wie Sie sagen. Es war manchmal nicht einfach. Ich bin froh, dass meine Frau Claudia immer Verständnis hatte und dass sie auch immer sagt: Es kommt ja Deine Zeit wieder, ich habe Dich ja dann wieder am 24. Dezember. Also ohne meine Frau ginge das nicht, nein.

Führer: Wie bereiten Sie sich eigentlich auf Ihre Auftritte vor? Sie gehen ja nicht nur zu Kindern, sie gehen ja auch zu Erwachsenen ins Hospiz, in die Altenheime, in Krankenhäuser.

Liebe: Man kann sich nicht vorbereiten, wenn man zu Menschen geht, die krank sind, das kann man einfach nicht. Man kann sich vorbereiten, indem ich zu meinem Pfarrer gehe, mit ihm kurz ein- oder zweimal drüber spreche, was ich vorhabe. Aber sonst lasse ich das einfach so, wie es aus mir heraussprudelt, kommen. Und das ist auch ganz wichtig, weil die Gefühle, die ich dann entwickle, die möchte ich auch ausleben. Ich kann auch mit sterbenden Menschen weinen, aber ich rede immer sehr positiv. Oder die Hospize, wenn ich Kinder begleite, wenn sie mich fragen: Du, sag mal, Nikolaus, wie ist es denn im Himmel? Und ich dann mit ihnen dann drüber spreche und male das mit ihnen aus, wie schön das ist. Und ich begleite diese Kinder wie diese Menschen dann auch über die Brücke ins Licht. Ich glaube auch da fest daran, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Das ist einfach so, wenn man so lange mit Menschen zu tun hat, die krank sind und sterben müssen oder die einfach krank geworden sind durch Krebs oder Tumore, dann erlebt man auch manchmal ganz, ganz tolle Wunder. Und da könnte ich ihnen einige darüber berichten: Wo ein Baby in Karlsruhe, wo eine Mutter ihr Baby verloren hat, das waren Zwillinge. Sie war eine starke Raucherin, und ich kam in das Zimmer rein, und der Arzt sagte zu mir: Ich musste vor einer Stunde ihr ein Kind wegnehmen. Und ich bin dann zu ihr rein, und sie sagte: Da, Nikolaus, nimm mir mein anderes ruhig auch noch weg. Und ich sagte: Nein, nein, nein, komm zu Dir, dass du Kraft bekommst, das Kind spürt das. Bitte halt es fest. Und wenn Sie dann zwei, drei Monate später noch ein Briefchen kriegen, oder Sie bekommen ein Bild oder eine E-Mail und Sie sehen das Kind an, dass es lebt, und eine glückliche Mama, dann wissen Sie, dass Ihre Arbeit gut war.

Führer: Was denken Sie, was ist das Wichtigste, was Sie den Menschen geben?

Liebe: Ganz, ganz wichtig ist einmal trösten. Trösten, dann unheimlich viel, viel Wärme. Man berührt ja so einen Menschen an der Schulter, an der Hand, man hört ihm zu, man führt einen Dialog. Und man muss Menschen immer positive Hoffnungen machen, das ist ganz wichtig. Menschen, die krank sind, öffnen ihr Herz.

Führer: Sie sind jetzt noch bis zum Heiligen Abend als Nikolaus auf Tour. Was machen Sie am Heiligen Abend dann?

Liebe: Das ist ja das Allerhöchste der Familie. Hier wurde Jesus Christus geboren, und wir feiern Weihnachten. Und hier trifft sich die ganze Familie: Oma, Opa, alles ist da, um auch wieder den Moment zu genießen, eine Familie zu sein, um auch vielleicht zu verzeihen, um aufeinander mehr wieder zuzugehen.

Führer: Und was machen Sie am Heiligen Abend? Ziehen Sie dann das Nikolauskostüm wieder aus?

Liebe: Ja, da gibt es dann extra – das hat sich schon so eingebürgert –, dass wir in der Mitternachtsmesse, dann darf ich mit dem Pfarrer reinlaufen, und dann darf ich einige Minuten über meine Mission reden. Und dann gehe ich in die Sakristei und dann ziehe ich mich um, und dann kommt alles in einen Koffer – das kennt man seit Jahren –, und dann darf ich wieder am Altar vorbeigehen und dann mich in meine Reihe einreihen als wieder Wolfgang Liebe. Und alle freuen sich, dass ich es wieder geschafft habe, anderen Menschen eine Freude zu machen.

Führer: Das war der Nikolaus, ab dem 24. wieder Wolfgang Liebe. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Liebe!

Liebe: Ja, alles Gute, schönes Weihnachtsfest!

Führer: Danke, Ihnen auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

In der ZDF-Mediathek finden Sie einen Videobeitrag über Wolfgang "Nikolaus" Liebe