Früherer Finanzcontroller von Yukos will Chodorkowski entlasten

Frank Rieger im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 14.10.2010
Der frühere Finanzcontroller des zerschlagenen russischen Ölkonzerns Yukos, Frank Rieger, bedauert, dass er im Verfahren gegen seinen früheren Chef Michail Chodorkowski nicht als Entlastungszeuge geladen wird. Die Verteidiger hätten schon im Mai beantragt, ihn als wichtigen Zeugen zu vernehmen.
Stephan Karkowsky: Ob Michail Chodorkowski ein politischer Gefangener ist oder ein Finanzbetrüger, das ist schwer zu sagen. Seine achtjährige Haftstrafe hat der einst reichste Mann Russlands mittlerweile fast abgesessen, aber frei ist er noch immer nicht. In Moskau läuft ein zweiter Prozess gegen ihn, diesmal geht es um angeblich illegal verschobenes Öl im Milliardenwert. Chodorkowskis ehemaliger Finanzcontroller bei Yukos heißt Frank Rieger, kommt aus Zwickau, arbeitet mittlerweile wieder in Berlin und ist heute Morgen bei zu Gast. Guten Morgen, Herr Rieger!

Frank Rieger: Einen wunderschönen guten Morgen auch Ihnen!

Karkowsky: Waren Sie tatsächlich der Herr über die Yukos-Milliarden?

Rieger: Nein, leider nicht oder zum Glück nicht - das ist immer eine Frage der Betrachtung. Ich war Herr über die Yukos-Zahlen mit einem Team von etwa 150 Kolleginnen und Kollegen. Wir haben tatsächlich von allen Yukos-Unternehmen Zahlen betriebswirtschaftlicher Natur, bilanztechnischer Natur gesammelt, konsolidiert, verdichtet, bearbeitet und daraus die Informationen gemacht, mit denen wir als Erstes russisches Unternehmen überhaupt eine Transparenz in das Land und in die Investorengemeinschaft brachten, die es bis dato nicht gegeben hat.

Karkowsky: Sie haben quasi eine westliche Buchführung da aufgebaut?

Rieger: Die Buchführung wurde nach russischen Prinzipien geführt, wir haben ein Reporting und ein Berichtswesen eingeführt, was sich mit allen internationalen westlichen Standards messen konnte, das ist richtig.

Karkowsky: Also alle Finanztransaktionen gingen mehr oder weniger auch über Ihren Schreibtisch?

Rieger: Über meinen Schreibtisch, was die Fixierung der Daten und solche betrifft, selbstverständlich. Es gab nichts, was von uns nicht kontrolliert und gebucht wurde. Und sollten wir etwas festgestellt haben, dass es so was gegeben hätte, hätten wir berichten müssen und unsere Berichte dementsprechend korrigieren müssen. Das ist unsere fachliche Aufgabe als Controller.

Karkowsky: Wie erklären Sie sich das denn, dass die russische Justiz Sie nicht von vornherein mit beschuldigt hat, an diesen angeblichen Finanzbetrügereien Ihres Chefs beteiligt gewesen zu sein?

Rieger: Das obliegt der Entscheidung der russischen Staatsanwaltschaft da, und die Vermutung ist richtig, wir über alle Geschäftsgebaren Kenntnis hatten, wir haben die Daten fixiert, nur vermute ich, dass man ganz klar unterscheidet zwischen einer Fixierung der Daten und einer Verarbeitung buchhalterischer Natur und dem konkreten Treffen von Entscheidungen, die zu gewissen Prozessen in Unternehmen führten.

Karkowsky: Da hätte man Sie ja als Zeuge vernehmen können, hat man das getan?

Rieger: Das hat man nicht getan, und das verwundert mich, und ehrlich gesagt treibt mich das mit Sorge um. Denn wo hätten die russischen Ankläger bessere und umfassendere Informationen erhalten können als von ehemaligen Managern, Mitarbeitern des Unternehmens, die sich eben in dieser Branche auskannten. Das Angebot stand, die Verteidiger von den Herren Chodorkowski und Lebedew haben beantragt, bei Gericht mich als Zeugen zu vernehmen, doch zu einer Vernehmung in Moskau ist es nicht gekommen.

Karkowsky: Und haben Sie dafür eine Erklärung?

Rieger: Ich habe weder eine mündliche noch eine schriftliche Erklärung, ich bin verwirrt.

Karkowsky: Erklären Sie sich das denn irgendwie, haben Sie eine Vermutung?

Rieger: Nein, ich möchte nicht vermuten. Ich darf Ihnen vielleicht ganz kurz die Sachlage erklären, mit einfachen Worten, was eigentlich hätte sein müssen: Die Verteidiger von den Herren Chodorkowski und Lebedew hat im Mai diesen Jahres beantragt, mich als Zeuge zu vernehmen, da ich offensichtlich über sachkundige Informationen verfüge, die der Aufklärung des Prozesses und der Wahrheitssuche hilflich sein können.

Der Vorsitzende Richter hat diesem Antrag zugestimmt und eine Vernehmung beantragt. Es sollte eine Vorladung zugesandt werden, hier nach Berlin. Heute ist der 14. Oktober, und wir haben leider diese Vorladung bis heute nicht erhalten. Es sind viele Monate ins Land gegangen, also habe ich mir überlegt, was kann man tun mit den Verteidigern gemeinsam, um eine Zeugenaussage in Moskau zu ermöglichen. Ich habe dem Vorsitzenden Richter einen Brief geschrieben mit der Bitte, die Sachlage zu klären und mir zu erklären, wo die Vorladung sei, denn nur eine Vorladung auf bilateraler Ebene ausgestellt gibt einen Zeugenschutz nach internationalem Recht. Es gab auch darauf keine Reaktion.

Karkowsky: Haben Sie den Eindruck, dass Sie als Zeuge in diesem Prozess eines besonderen Schutzes bedürften?

Rieger: Ich glaube, jeder Zeuge, der in dem Prozess aussagt – und das beweisen viele Aussagen meiner Kolleginnen und Kollegen, die den Mut besessen haben, und dafür bin ich den Kolleginnen und Kollegen, die ausgesagt haben, wirklich innigst dankbar –, es gehört ein Stück Mut dazu, in einem solchen offenkundig falschen gesteuerten und absurden Prozess Aussagen zu treffen, Aussagen zu treffen, die eindeutig beweisen, dass die Anklage erfunden, keine rechtliche und wirtschaftliche Basis hat, und jeder Zeuge, der in Moskau an diesem Prozess aufgetreten ist, der – und das möchte ich hinzufügen – die Anklage unterstützt, hat sich einem persönlichen Risiko ausgesetzt, ja.

Karkowsky: Sie haben sich nun sogar einen Anwalt genommen, um vielleicht doch noch aussagen zu dürfen in Moskau, keinen Unbekannten, es vertritt sie der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Gregor Gysi. Warum gerade der?

Rieger: Das ist richtig. Als Erstes möchte ich festhalten, parteipolitische Überlegungen spielen in dem Falle absolut keine Rolle. Warum Herr Dr. Gysi? Zum einen, rechtlichen Beistand habe ich benötigt, um eine gefahrlose Reise nach Moskau antreten zu können, denn auch wenn das Zeugenschutzprogramm gilt, muss eins klar sein: Jeder ausländische Bürger, der in der Russischen Föderation vor Gericht auftritt, hat per se Zeugenschutz – das sagt auch die russische Gesetzgebung.

Nun hatten Sie eingangs im Gespräch erwähnt, dass ich eigentlich Manager war, und das ist Tatsache, für einen Zeitraum, zu dem Herr Chodorkowski und Herr Lebedew angeklagt worden sind, weil sie angeblich Öl gestohlen haben sollen und das Geld für private Zwecke gegebenenfalls verwendet haben sollen. Jetzt können wir den Fall konstruieren, ich wäre nach Moskau eingereist als Zeuge, ohne anwaltlichen Beistand und ohne Zeugenschutz, hätte die Staatsanwaltschaft ja ganz leicht zur Vermutung kommen können, Herr Rieger habe a) entweder seine Aufsichtspflicht verletzt, indem er uns nicht – sprich der Staatsanwaltschaft – mitteile, dass hier etwas nicht ordnungsgemäß gelaufen sei, oder aber er ist Handlanger der beiden Angeklagten. Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es diese Vermutung, keine Beweise dafür, dass die Staatsanwaltschaft so weit denkt, aber ohne eine Zusicherung der russischen Seite, dass voller Zeugenschutz gewährt wird, hätte ich nicht nach Russland reisen können. Dazu brauchte ich rechtlichen Beistand.

Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Frank Rieger, den ehemaligen Finanzcontroller von Michail Chodorkowski, dem in Moskau gerade ein zweiter Prozess gemacht wird. Herr Rieger, konnte denn Herr Gysi schon etwas erreichen für Sie?

Rieger: Herr Gysi hat das Mandat im Mai übernommen und ein Schreiben an den damaligen russischen Botschafter in Berlin gerichtet mit der kurzen Darlegung des Sachverhaltes und der Bitte, positiv darauf einzuwirken, dass ich behinderungsfrei nach Russland einreisen kann. Es verging eine gewisse Zeit, Herr Gysi sah sich genötigt, aufgrund der Nichtreaktion einen zweiten Brief an den ehemaligen russischen Botschafter zu senden, und dann geschah etwas für Herrn Gysi völlig Unerwartetes: nämlich nichts. Das heißt, bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine offizielle Reaktion auf das Schreiben von Herrn Dr. Gysi an die russische Botschaft hier in Berlin, in der gebeten wird, ganz einfach nichts weiter zu tun, als einen Zeugen in einem international beachteten Prozess nach Russland reisen zu lassen. Das ist sehr verwunderlich.

Karkowsky: Was würden Sie denn aussagen, wenn Sie aussagen dürften?

Rieger: Das, was jeder Mensch vor Gericht aussagt: die Wahrheit. Das heißt, ich würde Stellung beziehen zu den fachlichen Belangen, zu denen ich Stellung beziehen kann, nämlich dass bei Yukos in allen Jahren, in denen ich in der Firma tätig war, eine transparente, durchorganisierte Finanzkontrolle herrschte, dass es schier unmöglich gewesen ist, das, was Herrn Chodorkowski und Herrn Lebedew vorgeworfen wird, nämlich die Produktion von insgesamt 350 Millionen Tonnen Rohöl (*) gestohlen zu haben, sich die Gelder angeeignet zu haben, dass die Tochterunternehmen keinerlei Umsatzerlöse in ihren Büchern verbucht haben und sie somit die Geschädigten in dem ganzen Prozess sind.

Das ist schlichtweg so was von falsch, weil jeder, der nur eine Grundkenntnis an wirtschaftlicher Buchführung hat, versteht, dass wenn ein Unternehmen A etwas verkauft an ein Unternehmen B, es nichts Einfacheres gibt, als die beiden Umsätze gegeneinander abzugleichen, Bilanzen zu vergleichen, und dann würde man sofort sehen, die Vorhaltungen der Staatsanwaltschaft sind in all diesen Punkten haltlos. Und ich habe den Eindruck, dass man das nicht hören will, obwohl viele meiner Kolleginnen und Kollegen eben dazu Stellung bezogen haben und diese Aussagen getroffen haben. Es ist in den Büchern nichts zu finden, weil sie exakt geführt wurden, die auf Diebstahl deuten.

Karkowsky: Sie glauben also nicht, dass die russische Justiz die Wahrheit auch ohne Ihre Aussage herausfinden würde?

Rieger: Ich bin in dem ganzen Prozess nur einer von vielen Kolleginnen und Kollegen, der in dem ganzen Unternehmen tätig war. Yukos hatte 120.000 Mitarbeiter. Meine Rolle ist eine sicherlich exponierte im Unternehmen gewesen, da die Finanzströme controllingseitig bei mir zusammenliefen. Ich maße mir aber nicht an zu sagen, dass ohne meine Aussage die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt, nein, es haben ehemalige Minister ausgesagt, es haben aktive Minister ausgesagt, der Ex-Vorstandsvorsitzende Herr (...), Ex-Zentralbankchef von Russland, und viele andere, die tendenziös das unterstrichen und das gesagt haben, was ich hätte auch sagen können, aber primär originär wäre in mir eine Quelle vor Gericht aufgetreten, durch deren Hände, durch deren Abteilungen all das, worüber gesprochen wird, gegangen ist. Ich habe das gesehen, ich habe es kontrolliert und geprüft.

Karkowsky: Die Anwälte von Chodorkowski haben ja auch einen Prozess anhängig vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in dem sie halt diesen Prozess gegen Chodorkowski für illegal halten, für einen politischen Prozess. Haben Sie die Gelegenheit, dort auszusagen?

Rieger: Persönlich habe ich dort noch nicht ausgesagt. Wenn die Fragen an mich gerichtet werden, ob ich dort als Zeuge auftreten möchte persönlich, werde ich das tun. Und ich habe mehrfach schriftlich dargelegt, was meine Sachkenntnisse zu den erhobenen Vorwürfen sind, auch in diesem Prozess, ja.

Karkowsky: Und was glauben Sie, wenn ich das fragen darf, wie dieser Prozess ausgehen wird gegen Chodorkowski?

Rieger: Es gibt viele Prognosemodelle, und eines ist mir leider abhanden gekommen: die Rationalität der Entscheidungsprozesse nachvollziehen zu können. Ich glaube, da wäre meine Tätigkeit in Yukos, das russische Management und die Entscheidungsprozesse auch außerhalb von Yukos sehr gut zu verstehen, dieses Verständnis ist mir abhanden gekommen, und ich wage keine Prognose, ich hoffe nur auf Gerechtigkeit.

Karkowsky: Herr Rieger, Sie haben Michail Chodorkowski persönlich erlebt, Sie haben mit ihm zusammengearbeitet, wie schätzen Sie ihn denn ein? Ist das ein Mensch, dem man Unredliches leicht zutraut?

Rieger: Auf keinen Fall. Ich habe Herrn Chodorkowski als einen Menschen, als einen Manager kennengelernt, der bereits nach zwei Halbsätzen, die ich als fachkundiger Controller und Finanzmann gesagt habe, wusste, was das Ergebnis meiner langen Rede sei, der auf den Punkt brachte, was er will, der klar strukturiert dachte, der eigentlich ein Visionär war und der vor seiner Zeit für all die Dinge in Russland gekämpft hat, die man mit transparent, effizientes Management und für eine offene Gesellschaft eingetreten ist.

Karkowsky: Und wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt?

Rieger: Das war im Oktober 2003, ein paar Tage vor seiner Verhaftung.

Karkowsky: Ein Berliner war einst Finanzcontroller des Yukos-Konzerns, eine Entlastungsaussage für seinen ehemaligen Chef Michail Chodorkowski will man in Russland nicht hören. Ihnen vielen Dank für das Gespräch!

Rieger: Danke für Ihr Interesse!

(*) Anm. d. Red.: In der Audio-Fassung, die auch als MP3 nachzuhören ist, sprach Herr Rieger irrtümlich von "50 Millionen Tonnen". Auf seine Bitte haben wir diese Stelle zu "350 Millonen" korrigiert.