Frontberichterstatter im brasilianischen Stadtkrieg

Von Klaus Hart · 31.07.2006
Das Tropenland Brasilien ist zwar die 14. Wirtschaftsnation, doch von extremen, Gewalt fördernden Sozialkontrasten gezeichnet. Jährlich kommen durch Gewalt weit mehr Menschen um als im Irakkrieg. Folter ist alltäglich. Der Schriftsteller Ferrèz, mit bürgerlichem Namen Reginaldo Ferreira da Silva, wurde unfreiwillig zum Frontberichterstatter im brasilianischen Stadtkrieg, weil er als einziger Romanautor in den Slums der Megacity Sao Paulo lebt. Ferrez, dessen Bücher bei einem angesehenen brasilianischen Verlag erscheinen, erhält wegen seines literarischen und politischen Engagements derzeit Morddrohungen.
Vom Goetheinstitut Sao Paulos bis zum Slumviertel Capao Redondo sind es mit den entsetzlich lauten, überfüllten Vorstadtbussen etwa drei Stunden. In Capao Redondo hausen eine Million Menschen, darunter Ferrèz.

Seit Mai führt das größte brasilianische Verbrechersyndikat PCC, erstes Kommando der Hauptstadt, Terroranschläge gegen den Staat, erschießt an der Peripherie täglich Polizisten, Gefängniswärter und deren Angehörige. Ferrèz liefert als einziger fundierte Berichte von der Front: In seinen Büchern, seiner Zeitschrift, seinem Blog analysiert er Gewalt und Gegengewalt, die Rachefeldzüge der Polizei. Wir reden am Kaffeestand, im Krach einer vollen Bäckerei miteinander, hier fühlt sich Ferrèz sicher.

"Für mich ist das hier schon immer wie im Krieg. Doch die Eliten haben es erst in diesen Tagen, wegen der Attentatswelle gespürt. In ihren Nobelvierteln hat sie die Panik gepackt, sie haben sich verbarrikadiert und versteckt. Nur - so leben wir doch schon jahrelang. Durch Morde habe ich über zwanzig Freunde verloren, das ist hier normal. Man tötet wahllos, wegen Banalitäten. Kürzlich stehe ich mit vier Bekannten auf der Straße. Als ich gerade weg bin, kommt ein Killerkommando, erschießt die vier. Wäre ich noch da gewesen, hätten sie mich mit erschossen. Dazu kann man doch nicht schweigen."

Als Ferrèz mit seinen Blog-Frontberichten beginnt, stellen Brasiliens Medien die Sache noch so dar, als ob die Polizei lediglich auf die Terrorattacken reagiert, die gefährlichsten Verbrecher bekämpft. Doch Ferrèz beobachtet, dass es meistens Unschuldige trifft, damit Hass und Gewalt in der Gesellschaft weiter geschürt werden.

"Die Eliten stimulieren das Morden, die Vorurteile gegen Slumbewohner. Vierzig Prozent der Getöteten hier waren junge Pizza-Austräger, die nachts mit ihren Motorrädern zu den Kunden fahren. Die Polizei feuerte einfach auf Leute, die gerade auf der Straße waren. Niemand prangerte das an - also habe ich den Mund aufgemacht, und das hatte Wirkung. Die Polizei wurde angewiesen, vorsichtiger, weniger brutal vorzugehen. Doch mich bedrohen sie mit Mord."

Ferrez, der früher Besenverkäufer und Bauhilfsarbeiter war, hat sich deshalb eine Weile versteckt, geht jetzt nachts nicht mehr aus dem Haus. Er wirkt fatalistisch, ohne Angst vor dem Tod.

"Ich habe keine Träume mehr, weil sich diese Realität hier nicht bessert, nur alles schlechter wird im Viertel. Ich sehe keine Ehrlichkeit, keinen guten Willen bei den Politikern, den Eliten, nicht mal im Volk. Schau in die Gesichter, da siehst du Traurigkeit. Die Leute engagieren sich nicht, ergeben sich dem Zuckerrohrschnaps. Hier laufen nur Körper rum, haufenweise, ohne Richtung, Orientierung. Die öffentlichen Schulen formen doch nur funktionelle Analphabeten."

Drei Viertel der 185 Millionen Brasilianer, so sagen neue Studien, sind unfähig, einen einfachen Zeitungs- oder Buchtext zu lesen und zu verstehen. Aber wer liest dann Ferrèz? Von seinem Buch "Capao Pecado" produzierte er fünfzig Exemplare, verteilte sie unter Freunden und Bekannten im Slum. Manche sind Hausdiener, Wachleute der Mittel- und Oberschicht, zeigten das Buch den Privilegierten. Mancher bestellte, Ferrèz brachte den Roman zu den Villen.

"Ja, so lief es - jetzt ist das Buch bei einem Verlag in der fünften Auflage. Reiche sagen mir, du hast Recht, die Oberschicht ist idiotisch, die will sich nicht ändern. Unsere Eliten handeln selbstmörderisch, das kann hier alles mal explodieren. Die Revolte des Verbrechersyndikats konnten sie nicht verhindern - plötzlich 100 tote Polizisten, brennende Banken und Staatsgebäude. Morgen könnten es viele intelligenter anstellen, eine revolutionäre Organisation gründen. Und wenn es dann losbricht, kann es keiner aufhalten. Die jungen Menschen hier haben doch keinerlei Perspektiven."

Ferrèz ist mit dem Schwarzen Paulo Lins aus Rio de Janeiro befreundet. Lins schrieb den Slum-Roman "Cidade de Deus", Gottesstadt. Der wurde verfilmt - war auch in Deutschland als "City of God" ein Erfolg, zeigte das andere Brasilien - und auch die Lächerlichkeit so vieler Brasilienklischees von Karneval und Lebenslust. Die Produzenten von "City of God" verfilmen jetzt das neue Buch von Ferrèz "Manual pratico do Odio", praktische Anleitung zum Hass.
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