Fromm, asketisch, progressiv

Moderation: Ulrike Timm · 05.10.2012
Viele kennen Hildegard von Bingen von der Naturheilkunde und der Ernährungslehre. Jetzt will der Papst die Klosterfrau aus dem Mittlelalter offiziell zur "Kirchenlehrerin" ausrufen. Was das bedeutet und welche Sprengkraft dieser Schritt für die katholische Kirche haben könnte, erklärt die Theologin Mirja Kutzer.
Ulrike Timm: Die Benediktinerin Hildegard von Bingen ist eine der populärsten Gestalten des Hochmittelalters. Sie lebte vor fast 800 Jahren und sie war eine Universalgelehrte ihrer Zeit, sie befasste sich nicht ausschließlich mit Religion, sondern auch mit Medizin, mit Musik und mit dem Kosmos, und die Wenigsten, die ganz selbstverständlich ein Hildegard-Dinkelmüsli essen, auf eine naturheilkundliche Salbe nach uraltem Hildegard-Rezept vertrauen oder auch fasziniert sind von den mittelalterlichen Gesängen, deren Komponistin sie ist, die Wenigsten werden wirklich sagen können, was diese Frau für ihre Kirche geleistet hat. Mehrere bedeutende theologische Schriften aber geben ihre Gedanken und ihr spirituelles Vermächtnis wieder. Und jetzt, am Sonntag, soll Hildegard Kirchenlehrerin werden, der Papst will sie dazu ausrufen.

Mirjia Kutzer ist Theologin und sie lehrt an der Universität in Köln. Schönen guten Tag!

Mirja Kutzer: Guten Tag!

Timm: Frau Kutzer, 800 Jahre nach seinem Tod kann man nicht mehr unterrichten. Was ist eine Kirchenlehrerin?

Kutzer: Also in den erlauchten Kreis der Kirchenlehrer kann jemand aufgenommen werden, wenn er eine bedeutende theologische Lehre vorgelegt hat. Er muss also zunächst einmal theologische Bücher geschrieben haben, die dann auch der Nachwelt vermittelbar sind, und das ist für eine Frau in Hildegards Zeit schon mal alles andere als selbstverständlich. Diese Bücher müssen dann quasi so als Minimalbedingung rechtgläubig sein, also der kirchlichen Lehre entsprechen, sie müssen aber vor allem eine Bedeutung über ihre Zeit hinaus haben.

Timm: Was will denn die Kirche heute von ihr lernen oder was sollte sie von Hildegard lernen?

Kutzer: Das Faszinosum an Hildegard von Bingen ist ihre große Zusammenschau vieler Dinge, die für uns heute nicht mehr so selbstverständlich zusammengehören. Der Mensch ist Spiegel des ganzen Kosmos, die einzelnen Teile des Menschen hängen miteinander zusammen, und das alles ist getragen von Gott, den Hildegard auch mit vielen weiblichen Elementen umschreibt und beschreibt.

Also diese unglaublich ganzheitliche Sicht, die sie in ihren breiten Panoramen da entfaltet, ist was, das ist für heute faszinierend, es ist vielleicht für uns heute auch eher auf einer poetischen als im strengen Sinne wissenschaftlichen Ebene faszinierend, aber davon kann man lernen.

Timm: Was ist denn für Sie das Allerwichtigste an Hildegard von Bingen?

Kutzer: Mich beeindruckt ihre Beziehung zur konkreten Erfahrung, die sie auch in ihrem theologischen Werk immer wieder herstellt. Also man merkt in ihrem Denken, dass sie Umgang hat mit konkreten Menschen, dass sie weiß, was Menschen brauchen zum Leben, dass sie weiß, wie Geburten aussehen, wie Krankheiten aussehen und das immer wieder hineinzieht in ihre theologischen Spekulationen. Das ist unserer Theologie, die ja doch meistens irgendwie am Schreibtisch stattfindet, vielfach abhanden gekommen.

Timm: Frau Kutzer, ich habe gelesen, Hildegard habe, als sie im Kloster Verantwortung übernahm, erstmal die Gottesdienstzeiten gekürzt, sie hätte wohl sonst auch kaum so viel Zeit auf Naturkunde, auf Medizin und Musik verwenden können. Hat sie in einem selbstverständlich ganz tief religiösen Leben, hat sie ihren Blick stärker an der wirklichen Welt geschult als damals üblich, oder wäre das schon eine Überinterpretation?

Kutzer: Es ist damals durchaus im Trend der Zeit, wir müssen uns das vorstellen, die Liturgie hat damals Ausmaße angenommen, die für uns kaum mehr vorstellbar sind. Also wenn sich Mönche oder Nonnen noch überhaupt auf das tätige Leben konzentrieren wollten, dann musste man da kürzen, anders ging es gar nicht. Also hier gehört sie zu einer Reformbewegung, die genau das wieder in das Zentrum gerückt hat, und hier ist sie ihrer Zeit voraus, also respektive da bei den reformerischen Kräften ihrer Zeit einfach dabei.

Timm: Eine berühmte und eine erfolgreiche Frau im Mittelalter – wie aufmüpfig war Hildegard von Bingen? Die hat doch bestimmt auch Ärger gemacht.

Kutzer: Sie hat sicher auch Ärger gemacht. Wir müssen uns vorstellen, Hildegard von Bingen durfte predigen, das ist für eine Frau dieser Zeit allein schon eine aufmüpfige Geschichte, könnte man sagen, also ein ungewohntes Bild allein, wenn sie auftritt, um zu predigen. Dann ist der Inhalt ihrer Predigten durchaus provokant, also sie spart nicht an Kritik an der gegenwärtigen Gestalt des Klerus, prangert dessen Völlerei, dessen Gewinnstreben an und übt dort auch massive Kirchenkritik. Das alles tut sie natürlich in der Berufung auf ihre seherische Gabe, die ihr eine unglaubliche Autorität verleiht. Das heißt, wenn Hildegard sich hinstellte und predigte, das konnte man nicht so einfach vom Tisch wischen, sondern das stand als Kritik erst mal da und musste ernst genommen werden.

Timm: Und das sind Sachen, die der Papst heute gerne hört, eine predigende Frau, die, gut, sicher seit 800 Jahren tot ist, aber das entspricht ja eigentlich nicht so dem, wie sich die Kirche heute präsentiert.

Kutzer: Ich denke, dass Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erhoben werden soll, ist durchaus ein Zeichen, dass man hier ein Defizit erkennt. Die Erfahrung von Frauen ist in der Lehre, im Leben der katholischen Kirche vielfach ausgeblendet, Hildegard von Bingen ist auch erst die vierte Kirchenlehrerin, die es in einer ganzen langen Reihe von männlichen Kollegen gibt.

Also man erkennt wohl durchaus, dass hier etwas fehlt, und will dem Ganzen begegnen. Natürlich handelt man sich mit der Hildegard auch einiges an Sprengkraft ein. Das geschieht sicherlich bewusst, man weiß ja um Hildegards Leben und um ihr Wirken, aber vielleicht tut gerade diese Sprengkraft der Kirche ja auch ganz gut.

Timm: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit Mirja Kutzer über die Benediktinerin Hildegard von Bingen. Frau Kutzer, heilig gesprochen sollte Hildegard erstmals kurz nach ihrem Tode werden, das hat dann aber noch 780 Jahre gedauert, im Mai diesen Jahres ist sie dann heilig gesprochen worden, jetzt, ein paar Monate später, gleich die nächste Stufe, Kirchenlehrerin. Warum hat es die katholische Kirche plötzlich so eilig?

Kutzer: Die Heiligsprechung ist so was wie ein vorbereitender Schritt, also zur Kirchenlehrerin muss man auch einen heiligen Lebenswandel aufweisen, das heißt, das Ziel ist natürlich die Kirchenlehrerin, und dafür muss diese Heiligsprechung vorher erfolgen. Nun kann man natürlich spekulieren, dass ein deutschsprachiger Papst auch eine besondere Beziehung zu dieser deutschsprachigen Person Hildegard von Bingen hat. In Deutschland genießt sie ja schon lange Verehrung und ein hohes Ansehen, einen richtigen Bekanntheitsgrad. Und vielleicht darf man hier auch eine Affinität zu diesen Traditionen vermuten.

Timm: Ich dachte eher, das sei vielleicht auch Kirchenpolitik: 780 Jahre muss die Frau auf ihre Heiligsprechung warten und dann geht es im Galopp gleich bis zur Kirchenlehrerin – fällt doch einfach auf.

Kutzer: Ja, mein Gott, die Kirche lässt sich selten von außen wirklich drängen. Wenn man sich dann mal dazu entschlossen hat, dann geht das wohl auch schnell. Ich denke, es gibt im Moment einfach wenig Gegenkräfte, die etwas gegen Hildegard von Bingen haben, und das hängt wiederum damit zusammen, dass sie so eine Identifikationsfigur für viele Strömungen ist. Sie gilt als Identifikationsfigur durchaus auch für konservative Kräfte in der Kirche, die in ihr eben vor allem die fromme, asketische Frau sehen, aber eben auch für das, was man eher auf die progressive Seite tut, für feministische Theologinnen, eben diese breite Zustimmung, die Hildegard von Bingen als Person findet, ist sehr selten, und das ist wahrscheinlich auch eine Gelegenheit der Zeit.

Timm: Sie ist, das sagten Sie vorhin, erst die vierte Frau unter 35 Kirchenlehrern, also unter Menschen, die mit ihren theologischen Schriften die Kirche beeinflusst, gewandelt, geprägt haben. Was sagt Ihnen das auch als Theologin – die vierte Frau unter 35 Kirchenlehrern – und was erhofft man sich von diesem Zeichen?

Kutzer: Als systematische Theologin sage ich natürlich, es ist höchste Zeit, dass die Frauen der Geschichte weit mehr ins Zentrum, mehr ins Bewusstsein damit auch rücken. Damit verbunden ist natürlich auch eine Wertschätzung: Hildegard von Bingen kommt faktisch zum Beispiel im Theologiestudium derzeit nicht vor, wie so viele Frauen einfach nicht vorkommen. Dann ist unterschwellig natürlich auch immer dieses Bewusstsein dabei: Theologie ist eine männliche Angelegenheit. Allein Hildegard zur Kirchenlehrerin zu erheben, sagt schon, hoppala, es gibt auch Frauen, die theologisch gedacht haben und es gab sie schon immer, und es ist etwas, was natürlich auch ein Signal ist für heute, also auch heute gibt es theologisch denkende Frauen, die zu vielem fähig sind.

Timm: Andererseits – verzeihen Sie, ich drehe das mal ins etwas Böse um –, man kann auch sagen, die Gläubigen laufen der Kirche davon, mit Frauen tut sie sich unendlich schwer, da befördert man dann eine allgemein anerkannte, eine unbestreitbar denkwürdige Person wie Hildegard von Bingen, die befördert man aus dem Mittelalter, da hat nämlich niemand was dagegen und man hat eine gute Alibifrau.

Kutzer: So kann man es natürlich auch wenden, sicher. Also wie gesagt, Hildegard von Bingen ist als Identifikationsfigur für so viele anschlussfähig, dass man das immer gut begründen kann. Die Hoffnung ist natürlich auch schon ein bisschen dabei, dass dieses Revoluzzertum, das in der Hildegard dann trotzdem drinsteckt, dass sich das nicht einbalsamieren lässt. Hildegard von Bingen bietet vielleicht auch einen Schatz, den man heben kann in ganz vielfältiger Art und Weise. Feministische Theologinnen zum Beispiel haben sich lange bemüht, aus der Bibel weibliche Gottesbilder rauszufinden. Bei Hildegard von Bingen finden wir dieses Bemühen schon viel früher und wir finden es in einem unglaublichen Reichtum, der eben auch zu unserer katholischen Tradition gehört und der nun auch ganz offiziell geadelt wird. Da drauf kann man aufbauen.

Timm: Wunderschönes Wort, der Schatz, den ihre Lehre birgt – nun kennen die meisten Hildegard von Bingen eher von der Naturheilkunde her, von der Ernährungslehre her, vielleicht auch noch von der Musik, die Wenigsten kennen sie als Mystikerin und als Theologin. Was würden Sie denn dem Laien wünschen, dass er das von Hildegard noch kennen sollte?

Kutzer: Zunächst sollte man diese faszinierende Person der historischen Hildegard ein bisschen näher kennenlernen, einfach zu sehen: Was hat diese Frau alles Fantastisches in ihrer Zeit geleistet? Wir haben ja oft so dieses Bild von Frauen, dass die im Mittelalter oder bis in die Neuzeit quasi nichts zu sagen hatten, und da spricht die Vita von Hildegard doch eine deutlich andere Sprache. Und dann stoße ich quasi ganz automatisch darauf, wie vielfältig ihr Denken ist, dass es eben nicht nur ums Müsli geht, sondern dass das Müsli quasi Zeichen dafür sein könnte, dass in dieser Welt ganz viel miteinander zusammenhängt und wo wir auch eine Achtsamkeit entwickeln könnten.

Timm: Danke an Mirja Kutzer, sie ist Theologin, lehrt an der Universität Köln, und wir sprachen über die Benediktinerin Hildegard von Bingen, die jetzt zur Kirchenlehrerin ausgerufen wird.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema