Fotografie

Der entscheidende Augenblick

Blick in die Ausstellung des französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson im Züricher Museum für Gestaltung im April 2011. Zu sehen ist ein Foto, auf dem Kinder durch eine zerstörte Häuserwand springen.
Ausstellung des französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson im Züricher Museum für Gestaltung im April 2011. © picture alliance / dpa / Foto: Walter Bieri
Von Kathrin Hondl · 11.02.2014
"Fotografieren bedeutet, den Kopf, das Auge und das Herz auf dieselbe Visierlinie zu bringen“, so beschrieb Henri Cartier-Bresson seiner Arbeitsweise. Das Centre Pompidou widmet ihm jetzt die erste Retrospektive seit seinem Tod 2004.
"L’instant décisif“, der "entscheidende Augenblick“ – nichts scheint die Fotografien von Henri Cartier-Bresson besser zu beschreiben als diese von ihm selbst geprägte Idee des alles entscheidenden Moments. Hätte er zum Beispiel nur eine Sekunde früher oder später auf den Auslöser gedrückt – würde das Foto, das Cartier-Bresson 1932 hinter dem Saint Lazare Bahnhof aufnahm, nicht mehr funktionieren: Der Mann, der da gerade über eine riesige Pfütze springt, würde nicht der springenden Figur entsprechen, die auf einem Plakat im Hintergrund zu sehen ist. Und auch das perfekte Spiegelbild des springenden Mannes in der spiegelglatten Pfütze wäre der Nachwelt nicht erhalten geblieben.
Unzählige solcher unwiederholbaren Momente hat Henri Cartier-Bresson mit seiner Kamera eingefangen – flüchtige Gesichtsausdrücke, Zufallsbegegnungen auf der Straße, vorübergehende Schattenspiele. Doch das Werk dieses großartigen Fotografen lässt sich nicht allein mit dem Prinzip des alles entscheidenden Augenblicks beschreiben, sagt Clément Chéroux, Leiter der Fotografie-Abteilung im Centre Pompidou und Kurator der Retrospektive.
"Der ´entscheidende Augenblick` galt lange als DIE Definition der Fotografie von Cartier-Bresson. Man kann so tatsächlich viele seiner Bilder begreifen. Aber es gibt eben auch eine ganze Reihe anderer Fotografien, die ebenso bedeutend sind und die sich nicht mit einem ´entscheidenden Moment` erklären lassen."
Da ist zum Beispiel das Bild der Strickjacke, die von einer Wäscheleine herabhängt und vor dem Hintergrund einer fleckigen Hauswand aussieht wie eine mysteriöse dreizackige Krone.
"Eine vollkommen surrealistische Fotografie – auch Man Ray zum Beispiel hat trocknende Wäsche auf der Leine fotografiert. Cartier-Bresson zeigt hier alles andere als einen entscheidenden Augenblick. Das Foto hätte auch einen Moment früher oder später gemacht werden können. Und doch ist es ein sehr sehr bedeutendes Bild von Henri Cartier-Bresson."
Fast schon ikonische Bilder
Mehr als 500 Arbeiten hat Clément Chéroux für die Ausstellung zusammengetragen. Natürlich sind die bekannten, fast schon ikonischen Bilder Henri Cartier-Bressons dabei wie das Porträt des Pfeife rauchenden Jean-Paul Sartre im Nebel auf dem Pariser Pont des Arts. Oder Alberto Giacometti, wie er eine Straße überquert und dabei dieselbe gebückte Haltung wie seine Skulpturen einnimmt. Aber die umfassende Retrospektive im Centre Pompidou erneuert auch sehr überzeugend den Blick auf das Werk des Fotografen, der einmal Maler werden wollte.
"Über zwei Jahre lang war er Schüler an der Akademie des kubistischen Malers André Lhote. Für sein späteres Werk war das sehr wichtig, hier lernt er die klassischen Regeln der Geometrie und der Bildkomposition."
Farbe dagegen war Cartier-Bressons Sache nicht. Ab den 50er-Jahren machte er zwar auch Farbfotos, allerdings waren das ausschließlich Auftragsarbeiten für Magazine wie LIFE oder Paris Match. In der Ausstellung sind sie als Dokumente in Vitrinen zu sehen, an den Wänden hängen ausschließlich Schwarz-Weiss-Bilder – ein dichter, chronologischer Parcours durch Cartier-Bressons Gesamtwerk, von den ersten Fotografien des 14-Jährigen über die surrealistischen Bilder der 20er- und 30er-Jahre und die großen Fotoreportagen des engagierten Kommunisten bis zur Gründung der unabhängigen Fotoagentur Magnum 1947 und den immer größer werdenden Bildern der Nachkriegszeit.
Vom Spanischen Bürgerkrieg zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vom Begräbnis Ghandis in Indien über die Kulturrevolution in China bis zur 68er-Revolte in Frankreich. Die Retrospektive im Centre Pompidou zeigt geradezu meisterlich, wie Henri Cartier-Bresson mit seinen Fotografien die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeichnete – nicht nur in "entscheidenden Augenblicken“ sondern auch mit präzisen ästhetischen Entscheidungen.
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