Fotogeschichte eines vergessenen Lagers

Was geschah in Sandbostel?

Die ehemaligen Absonderungsbaracken des NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers am 06.06.2013 im niedersächsischen Sandbostel, in denen heute Dämmstoffe produziert werden.
Die ehemaligen Absonderungsbaracken des NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers im niedersächsischen Sandbostel: Hier werden heute Dämmstoffe produziert. © imago stock&people
Von Jochen Stöckmann · 31.03.2015
Zehntausende haben Stalag X B nicht überlebt. Allein mehr als 40.000 sowjetische Kriegsgefangene kamen in Sandbostel bei Bremen um. Doch der einzige Gedenkstein wurde 1956 gesprengt, das Lager vergessen. Die Fotografin Sarah Mayr hat nach Überlebenden gesucht und sie porträtiert.
"Meine Mutter ist in die Gegend gezogen. Sie meinte: 'Letztens wollte ich zum Baumarkt fahren und etwas für den Garten kaufen und da habe ich das entdeckt, guck mal. Und dann gab es da ein paar Hinweisschilder: Hier war ein Kriegsgefangenenlager. Irgendwie hatte mich dieser Ort nicht losgelassen und ich hatte angefangen zu forschen, was da passiert ist, wieviel Menschen dort gefangen waren und dass es am Ende ein furchtbares Sterbelager gab."
"Sandbostel heißt der Ort, den die Fotografin Sarah Mayr als Thema für ihre Abschlussarbeit an der Berliner Ostkreuzschule gewählt hat. Sandbostel ist heute eine kleine Gemeinde in der Nähe von Bremen. Sandbostel war bis zur Befreiung durch die britische Armee Ende April 1945 ein riesiges Lager: Stalag X B, für Zehntausende von Gefangenen eine Stätte der Demütigung, des Hungers, der Zwangsarbeit, des qualvollen Sterbens. Nun aber zeigt Sarah Mayr ihre auf den ersten Blick überraschende Sicht auf diese deutsche Geschichte: ruhige, statuarische Farbporträts von acht Überlebenden. Acht würdige ältere Herren aus Italien, Belgien, Frankreich, England, Polen und der damaligen Sowjetunion, meist im Anzug, einige mit Orden und Ehrenzeichen.
Keine Portraits hilfloser Opfer
"Die sind eigentlich im Stil gemacht wie Präsidentenporträts. So werden Staatsmänner fotografiert, leicht von unten, sitzend. Das war schon bewusst gewählt, diese Art der Ästhetik: Gegen diese Wahrnehmung von dem Grauen und dem Leiden, das in der Bildsprache zu dem Thema KZ und Gefangenenlager in den Medien erscheint."
Genau dieses zu Jahres- und Gedenktagen abrufbare Bildrepertoire hilfloser Opfer hinter Stacheldraht wollte Sarah Mayr vermeiden. Außerdem beließ sie es nicht bei der Recherche der Fakten, etwa einer fotografischen Dokumentation historischer Spuren in Gestalt windschiefer, verfallener Baracken. Die gibt es zwar auch in der jetzt gezeigten Ausstellung. Aber entscheidend bleiben die Porträts der Überlebenden. Sie waren von vornherein geplant als Momente einer intensiven Begegnung. Doch genau das erwies sich als sehr schwierig, war kaum vereinbar mit den üblichen Gedenkritualen:
"Bei der Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung war mir um uns herum zu viel Trubel. Die Presse wollte Interviews machen und die standen schon Schlange. Da habe ich mich dazu entschlossen, die Überlebenden zuhause zu besuchen."
Für diese Besuche hatte sich Sarah Mayr ein Konzept bereitgelegt: Erst ein längeres Interview, aufgezeichnet für Audiostationen, die als wesentlicher Teil des jeweiligen "Porträts", als ganz persönliche "oral history" gedacht waren. Dann – unter dem Eindruck des eben Erzählten – die Fotografie des von ihr befragten Zeitzeugen: "Dann habe ich aber gemerkt, dass das Interview mich ganz schön mitnimmt, diese ganzen grausamen Sachen, die sie erlebt haben. Und da habe ich mich dazu entschlossen, zuerst das Porträt zu machen und danach das Interview."
Kein Gedenkstein, keine Tafel, keine Erinnerung
Eine gute Entscheidung, wie sich jetzt zeigt und wie vor allem zu hören ist, denn jeder der ehemaligen Gefangenen ist nicht nur individuell porträtiert, er äußert auch ganz dezidiert eine sehr eigene Meinung. Wie zum Beispiel der belgische Unteroffizier Roger Cottyn auf Sarah Mayrs Frage, ob in Deutschland die Zeit des Nationalsozialismus nicht verharmlost werde: "Verharmlost? Nein, das glaube ich nicht."
Zwangsarbeiter im Bremer U-Boot-Bunker, Arbeitskommandos in Werkstätten und Fabriken bis zu den Kriegsgefangenen auf den Bauernhöfen der Umgebung - alle kamen aus Sandbostel, aber dort mochte man nicht an sie erinnert werden. Ein Gedenkstein für die über 40.000 umgekommenen sowjetischen Kriegsgefangenen wurde 1956 gesprengt, auf Anordnung deutscher Behörden.
Das ging weit hinaus über eine "Verharmlosung" und bleibt für den französischen Widerstandskämpfer Raymond Gourlin eine offene Wunde in der Geschichte von Sandbostel. Er war im April 1945 auf einem Todesmarsch aus dem KZ Neuengamme ins Lager Sandbostel getrieben worden und überlebte nur knapp: "Wenn ich mit Herrn Gourlin spreche, ist er immer noch wütend, dass an dem Ort, an dem das KZ war, in dem er war, bis heute nichts ist. Es gibt keinen Gedenkstein, es gibt ein Maisfeld. Das würde ihm schon reichen: ein kleiner Stein mit einer Inschrift. Dagegen wird sich aber immer noch vehement gewehrt von Seiten des Eigentümers."
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