Fortschrittsironie oder: das Verschwinden der Ruhezonen

Von Burkhard Müller-Ullrich · 17.04.2008
Walter Benjamin hat in "Berliner Kindheit" anschaulich beschrieben, als was für eine Zumutung die ersten Telefone in bürgerlichen Wohnungen empfunden wurden. Das schrille Klingeln dieser schwarzen Ungetüme, die in der Diele montiert waren, glich einem öffentlichen Angriff auf das Privatleben.
Allein die Möglichkeit, jederzeit dem Anruf aus einer fremden Ferne ausgesetzt zu sein, machte die Menschen hochgradig nervös. Wenn es dann soweit war, rannten sie herbei und riefen überlaut Kommandos in den Apparat, als gelte es, die Entfernung zum Gesprächspartner stimmlich zu bemeistern. Gewiss, die Übertragungsqualität forderte das auch heraus, es rauschte, gluckerte und knackste in den Leitungen, und lautes Sprechen steigerte am anderen Ende die Verständlichkeit, aber meistens kam es einfach von der Aufregung. Man schrie sich gleichsam das eigene Erstaunen über das technische Wunder des Fernsprechens von der Seele.

Und wie ist die Situation heute? Ein knappes Jahrhundert und etliche Technikwunder später hat sich an der Telefonaufregung wenig geändert. Nur dass der Mensch nicht mehr an der Strippe hängt, sondern hauptsächlich drahtlos quasselt. Aber er tut es laut, weil er es immer noch nicht fassen kann, dass so etwas wie Sprachfernübertragung wirklich funktioniert. Das laute Mobiltelefonieren kehrt nun allerdings die Verhältnisse um: nicht mehr die Öffentlichkeit stört den Bezirk des Privaten, sondern das Private wird geradezu gewaltsam in die Öffentlichkeit getragen. Mobiltelefonieren bedeutet permanente Herstellung unfreiwilliger Zeugenschaft – im Restaurant, im Zug, im Kino, auf der Straße, im Supermarkt, in Wartezimmern und –sälen, überall, bloß nicht im Flugzeug.

Tatsächlich liegt eine gewisse Fortschrittsironie in der Tatsache, dass zwei so avancierte Technologien wie Luftverkehr und Mobilfunk scheinbar völlig unverträglich sind. Jedenfalls wurde einem bisher die Benutzung von Handys an Bord mit dermaßen geschraubten Formulierungen verboten, dass man sich aus purer Absturzangst daran zu halten angewöhnte. Nur ganz hartgesottene Burschen ignorierten die entsprechenden Durchsagen möglichst lange und teilten ihrem Gesprächspartner am Handy, während die Maschine schon zur Startbahn rollte, reihenweit vernehmlich mit: "Ich muss jetzt Schluss machen, sonst tickt die Saftschubse noch aus."

So ekelhaft dieses Benehmen ist, diese Burschen hatten recht. Denn jetzt – noch eine Fortschrittsironie! – soll der bisher als hochgefährlich gebrandmarkte Handygebrauch während des Fluges mir nichts, dir nichts erlaubt werden. Welch eine plötzliche Wendung der Dinge: was eben noch als absolute Untat galt, Auslöser putativer Katastrophen, war und ist in Wirklichkeit harmlos wie Naseputzen. Man fragt sich nebenbei, was von dem vielen Verbotsinventar unserer Lebenswelt auf die gleiche Weise substanzlos ist.

Aber nun ist in Gestalt fliegender Flugzeuge die wohl letzte handyfreie Zone überhaupt entfallen, und das führt zu allerlei sozialpsychologischen Verwerfungen. Da wird zum einen der Verlust einer wirklichen Exklusivität beklagt, nämlich der köstlichen Phase telekommunikativer Unerreichbarkeit zwischen Start und Landung. Als ob es keinen Ausschaltknopf gäbe, den man auch willentlich betätigen kann, sehen sich die Menschen der Anrufmöglichkeit genauso leidend ausgesetzt wie die Inhaber der ersten Telefone in ihren bürgerlichen Wohnungen.

Zum anderen hat das Mobiltelefonieren eine ganz neue Dialektik von sozialer Zu- und Abwendung hervorgebracht. Denn indem sich der Kampfquasseler am Handy kommunikativ verausgabt, betreibt er seine kommunikative Abschottung gegenüber den Menschen in seiner physischen Umgebung. Wie eine unsichtbare Glocke umgibt den Fernsprechenden eine Aura von Unansprechbarkeit. Dies wird durch Zusatzgeräte wie Ohrknöpfe mit eingebautem Mikrofon noch bis zum Paroxysmus gesteigert. Jeder kennt das grenzwertige Auftreten laut vor sich hinschimpfender Manager, die allein auf einem Flur stehen, oder das nach akutem Einlieferungsgrund aussehende Gestikulieren ohne erkennbares Gegenüber. Erst bei näherem Hinsehen entdeckt man die Utensilien der Funktelefonie.

An dieser Schnittstelle von Sittengeschichte und Technikgeschichte hängt auch das Handy-im-Flugzeug-Problem. Irgendwie hinkt die nervliche Verarbeitung dem Fortschritt in der Elektronik gewaltig hinterher. Der Mensch sendet im Gigahertzbereich, aber seine Selbstwahrnehmung basiert noch auf Steinzeitimpulsen. Bald dröhnt er auch auf Langstreckenflügen seinem nicht gemeinten Nachbarn die Ohren mit Stuß und Anekdoten voll. Nur: Gäbe es das Handy nicht, täte er dasselbe ohnehin. Früher nannte man so etwas eine Unterhaltung und man musste als deren Opfer auch noch Interesse heucheln. Jetzt kann man guten Gewissens den Kopf wegdrehen – und kriegt trotzdem noch alles mit.


Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.