Flüchtlingspolitik

"Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Lösung"

Flüchtlinge in einer Kirche in Berlin-Kreuzberg
Flüchtlinge in einer Kirche in Berlin-Kreuzberg © imago/Christian Mang
Bilkay Öney (SPD) im Gespräch mit Nana Brink · 26.03.2015
Fast 200.000 Menschen haben letztes Jahr in Deutschland Asyl beantragt, und die Tendenz ist weiterhin steigend. In Baden-Württemberg seien die Kapazitäten für die Erstunterbringung von Flüchtlingen bereits verzehnfacht worden, sagt Integrationsministerin Bilkay Öney.
Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) setzt angesichts der Herausforderung durch steigende Flüchtlings- und Zuwandererzahlen auf ein gemeinsames Vorgehen aller Integrationsminister. Das Fluchtthema sei einfach viel zu wichtig, als dass es eine Partei oder ein Bundesland lösen könnten, sagt Öney. "Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Lösung."
Die Aufnahmekapazität verzehnfacht
Die SPD-Politikerin verteidigte die Praxis, Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen, da diese in der ersten Zeit intensive Betreuung brauchten, mahnte aber gleichzeitig an, die Flüchtlinge müssten "menschenwürdig" untergebracht werden. In ihrer Amtszeit habe man die Kapazitäten für diese Erstunterbringung von 900 auf mehr als 9000 erhöht und zudem dezentralisiert, betonte sie. In einem zweiten Schritt würden die Flüchtlinge dann in die Stadt- und Landkreise überwiesen werden. Die dortige Unterbringung sei auch eine Kosten-und Ressourcenfrage, räumte Öney ein. So gebe es in den Ballungsräumen Probleme, freie Wohnungen zu finden. "Oft ist es so, dass natürlich die Vermieter nicht gerne bereit sind, die Wohnungen an die Flüchtlinge zu vermieten."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Eines ist klar, es werden mehr Flüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland kommen in der nächsten Zeit als in den letzten Jahren, das sagen schon die vielen Zahlen. Fast 200.000 Menschen haben letztes Jahr in Deutschland Asyl beantragt, das waren 60 Prozent mehr als das Jahr zuvor. Und laut Bericht des Bundesamtes für Migration waren es schon in diesen ersten beiden Monaten über 50.000. Das heißt, es werden, wenn man das hochrechnet, 2015 so viele Menschen wie noch nie Asyl bei uns beantragen. Manche sprechen von 500.000. Natürlich muss man diese Zahlen auch immer ins Verhältnis setzen. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien, dort herrscht ja bekanntermaßen ein furchtbarer Bürgerkrieg, und aus dem Kosovo. Und für viele Gemeinden – die Flüchtlinge werden ja nach einem bestimmten Schlüssel verteilt – ist die Aufnahme zunehmend ein Problem, auch wenn uns das in einem reichen Land wie Deutschland merkwürdig erscheinen mag. Heute tagen die Integrationsminister in Kiel, und auch die Ministerpräsidenten werden sich heute bei ihrem Treffen mit diesen drängenden Fragen der Unterbringung und der Finanzierung von Flüchtlingen beschäftigen. Bilkay Öney ist Integrationsministerin in Baden-Württemberg, guten Morgen, Frau Öney!
Bilkay Öney: Guten Morgen!
Brink: Warum leben denn immer noch so viele Flüchtlinge in Deutschland in Sammelunterkünften?
Öney: Wir reden von Gemeinschaftsunterkünften, das hat mit der Flüchtlingsaufnahmestruktur zu tun, die Länder sind nämlich zuständig und verantwortlich für die Erstaufnahme. In dieser Zeit sind Flüchtlinge natürlich ... können nicht auf sich selbst gestellt sein, sie brauchen intensive Betreuung. Ihnen muss man erklären, wie Deutschland funktioniert. Und das passiert auch in den Gemeinschaftsunterkünften, wo zum Beispiel die Personalien aufgenommen werden, Gesundheitskontrollen stattfinden, der Asylantrag gestellt wird. Und dann im zweiten Schritt werden die Flüchtlinge dann in die Stadt- und Landkreise überwiesen, in die vorläufige Unterbringung.
Flüchtlinge brauchen am Anfang intensive Betreuung
Brink: Eine Studie von Pro Asyl vom Herbst letzten Jahres hat gezeigt, dass zum Beispiel bei Ihnen in Baden-Württemberg Flüchtlinge vor allem in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Anders zum Beispiel als in Rheinland-Pfalz, wo sie in Wohnungen leben können. Warum ist das so?
Öney: Die Länder gehen ganz unterschiedlich mit dem Thema um, und es stimmt nicht, dass in Baden-Württemberg nur in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht wird. Ich weiß das deshalb, weil ich sehr viel auch in der vorläufigen Unterbringung und in der Anschlussunterbringung unterwegs bin im Land. Es stimmt, dass wir wie alle anderen Länder übrigens auch die Landeserstaufnahme eben als Gemeinschaftsunterkunft konzipiert haben, wie alle anderen Länder auch, weil ich bereits erwähnte, dass es aus Gründen der ... Weil wir die Flüchtlinge in den ersten Tagen nicht alleinlassen können und weil wir sie in der Zeit betreuen müssen. Das ist der Grund. Es gibt Kommunen, die auch unterschiedlich damit umgehen, das ist auch natürlich eine Kosten- und eine Ressourcenfrage. Sie müssen bedenken, dass es auch nicht überall unendlich viel Platz und überall freie Wohnungen gibt, gerade in den Ballungsräumen, und dann stellen Sie sich mal Stuttgart vor. Wobei Stuttgart auch sehr dezentral unterbringt. Oder auch andere Städte, Hamburg zum Beispiel, haben natürlich auch ein Problem, freie Wohnungen zu finden. Und oft ist es so, dass natürlich die Vermieter nicht gerne bereit sind, die Wohnungen an die Flüchtlinge zu vermieten.
Brink: Muss nicht da gerade zum Beispiel das Land dann eingreifen, auch im Sinne von Unterstützung? Ist das ein Ziel?
Öney: Das machen wir, wir haben in Baden-Württemberg lange Zeit in Karlsruhe die einzige Erstaufnahmestelle gehabt, wir haben die Kapazitäten, seit ich im Amt bin, verzehnfacht. Wir hatten anfangs 900 Plätze in Karlsruhe, jetzt haben wir über 9.000 Plätze über das Land verteilt geschaffen. Wir möchten das natürlich auch dezentraler machen, auch die Erstaufnahme, um auch einfach eine gerechtere Verteilung zum einen der Flüchtlinge, aber auch der Ressourcen zu erreichen. Weil, Sie können sich vorstellen, dass die Zahl der Flüchtlinge natürlich nicht nur eine Kapazitätsfrage ist, was Wohnraum angeht, sondern auch natürlich Personal, das sich ja intensiv um die Menschen kümmern muss.
Brink: Ich kann mich noch gut erinnern, in den 80er-Jahren, da schreckten ja diese Gemeinschafts- oder Sammelunterkünfte, Asylbewerberheime, wie man ja sagte, auch ab. Ob immer unbedingt gewollt oder bewusst, das lasse ich mal dahingestellt, aber sie waren ja alles andere als einladend. Und da bin ich schon beim Stichwort, Sie sprechen ja immer auch von Willkommenskultur. Das möchte man ja ändern. Wie kriegt man das hin?
Öney: Eine Willkommenskultur bezieht sich natürlich nicht nur auf Flüchtlinge, Deutschland hat im letzten Jahr sehr viel Zuwanderung erfahren, das Einwanderungssaldo lag bei über 400.000 Menschen. Und das sind natürlich Flüchtlinge, aber es waren auch sehr, sehr viele Menschen, die auf dem Wege der EU-Niederlassungsfreiheit ...
Brink: Also, Sie unterscheiden jetzt, Pardon, von Flüchtlingen und Asylsuchenden?
Öney: Nein, nein, ich will nur sagen, dass die Willkommenskultur sich auf alle Menschen bezieht, so ist das gedacht. Es ist nicht nur so, dass Flüchtlinge willkommen geheißen werden, sondern natürlich auch die anderen Menschen. Wenn sie nach Deutschland kommen, die Sprache nicht kennen, das Land nicht kennen, brauchen sie auch Unterstützung. Und da haben Länder zum Beispiel "Welcome Center" geschaffen, Baden-Württemberg hat Welcome Center geschaffen und finanziert sie auch als Land. Manche Welcome Center richten sich direkt an bestimmte Fachkräfte, aber die meisten sind auch offen für Flüchtlinge. Dann geht es darum, dass man eben, wenn es solche Center nicht gibt, wenigstens die Strukturen dafür schafft, Personal bereitstellt und natürlich auch Mittel und diese Migrationsberatung, Migrationserstberatung stärkt und weiterentwickelt, das waren so die Hauptüberschriften.
Alle Integrationsminister ziehen an einem Strang
Brink: Was erlebe ich denn, wenn ich in so ein Welcome Center komme bei Ihnen in Baden-Württemberg?
Öney: Das ist unterschiedlich. Es gibt Städte, die haben das bewusst geöffnet, manche haben es zum Beispiel in das Kunstamt auch übertragen beziehungsweise machen das in einem Schritt. Da können Sie Beratung bekommen, was zum Beispiel die Schule angeht, wenn Sie Kinder haben und Ihre Kinder einschulen wollen oder einen Kindergartenplatz brauchen, oder sich informieren wollen auch zusätzlich über das kulturelle Angebot. Also viele Dinge, die Sie wahrscheinlich im normalen Leben erst sehr spät erfahren würden oder, wenn Sie keine Ansprechpartner haben, eben gar nicht. Und deswegen sind diese Willkommensstrukturen wichtig. Sie werden auch gerne angenommen.
Brink: Sind Sie sich da alle einig unter den Integrationsministern?
Öney: Ja, das ist erstaunlicherweise so. Wobei ich sagen muss, dass früher die Trennlinien deutlich schärfer verliefen, insbesondere was ... also SPD-geführte oder grün geführte Länder und CDU-geführte Länder anging. Aber heutzutage sind die Integrationsminister so pragmatisch, dass sie eben alle an einem Strang ziehen. Ich meine, alle Länder haben ähnliche Probleme. Und ich glaube auch, das Fluchtthema, das ist einfach viel zu wichtig, als dass es ein einziges Bundesland oder eine einzige Partei lösen könnte. Denn wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Lösung, wir brauchen die Gesellschaft und wir müssen eben auch gucken, dass die Menschen menschenwürdig untergebracht werden.
Brink: Und wir brauchen auch Welcome Center, oder vielleicht auch auf Deutsch gesagt: Willkommenscenter. Sagt Bilkay Öney, Integrationsministerin in Baden-Württemberg. Sehr danke für das Gespräch!
Öney: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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