Flüchtlinge zurück nach Griechenland?

"Zehntausende leben in prekären Verhältnissen"

Eine Frau sitzt an einem Camping-Kocher in einem Flüchtlingslager in Thessaloniki, Griechenland.
Eine Frau in einem Flüchtlingscamp in Theassaloniki. Nach Ansicht der EU-Kommission haben sich die Zustände im griechischen Asyl-System gebessert. © AFP / SAKIS MITROLIDIS
Karl Kopp im Gespräch mit Ute Welty · 10.12.2016
EU-Staaten sollen Flüchtlinge, die über Griechenland kommen, bald wieder zurückschicken dürfen. Pro Asyl-Europareferent Karl Kopp hält das für menschenrechtswidrig und zynisch: In vielen griechischen Lagern sei die Situation weiterhin unzumutbar.
Die EU will wieder zur Normalität zurückkehren, wie es aus der Kommission heißt: Flüchtlinge, die aus Griechenland in andere EU-Staaten weiterreisen, sollen ab Mitte März 2017 wieder zurückgeschickt werden können. Die Zustände im griechischen Asylsystem hätten sich gebessert, so dass das sogenannte Dublin-Verfahren schrittweise wieder anlaufen soll, erklärte die EU-Kommission am Donnerstag. Danach ist in der Regel der EU-Staat für einen Flüchtling zuständig, in dem dieser zuerst europäischen Boden betreten hat. Weil europäische Gerichte schwere Mängel im griechischen Asylsystem festgestellt hatten, waren auch in Deutschland Abschiebungen nach Griechenland seit 2011 ausgesetzt.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert die Empfehlung der EU-Kommission, demnächst wieder Asylbewerber nach Griechenland zurückzuschicken, als zynisch und menschenrechtswidrig.
Die Aufnahmebedingungen für viele Asylbewerber in Griechenland entsprächen weiterhin keiner "menschenrechtlich konformen Situation", sagte Pro Asyl-Europareferent Karl Kopp am Samstag im Deutschlandradio Kultur angesichts der Ankündigung, dass EU-Staaten Migranten, die über Griechenland kommen, bald wieder zurückschicken dürfen. In Griechenland herrsche weiter eine humanitäre Krise.

Auf den Inseln leben Flüchtlinge unter "menschenrechtswidrigen prekären Umständen"

Die Zustände in vielen griechischen Flüchtlingslagern seien immer noch unzumutbar, auch wenn mittlerweile in Griechenland neue Flüchtlingsunterkünfte aufgebaut worden seien. Vor allem auf den griechischen Inseln seien Flüchtlinge unter absolut menschenrechtswidrigen prekären Umständen untergebracht. "Das drückt schon mal aus, dass das ein sehr zynischer Ansatz ist, jetzt die Rückkehr zu Dublin zu verkünden," sagte Kopp.
Auf den griechischen Inseln vegetierten 16.000 Menschen unter widrigsten Bedingungen, die Anlaufstellen seien überfüllt: "Die Leute campieren in Zelten, sind zum Teil draußen. (...) Die Ägäis ist ein Art Freilichtgefängnis," beklagte Kopp weiter. Auch sei das europäische Re-Location-Programm so gut wie nicht umgesetzt worden.

Dublin-Verfahren der EU ist "unsolidarisch und inhuman"

Die für Griechenland 2011 ausgesetzte Dublin-Regelung sieht vor, dass der EU-Staat für einen Flüchtling zuständig ist, in dem dieser zuerst europäischen Boden betreten hat. Allein im vergangenen Jahr hätte Griechenland demnach Verfahren von 800.000 Flüchtlingen durchführen müssen, kritisierte Kopp. Dies zeige, "dass diese Regelung irrig ist, oder unsolidarisch und inhuman."
Alternativ zur Rückkehr zum Dublin-System forderte Kopp legale Weiterwandermöglichkeiten für Flüchtlinge zu eröffnen und Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Kopp beklagte ein Scheitern der Europäischen Union: "Das ist nicht ein Versagen des krisengeschüttelten Landes Griechenland."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Flüchtlinge wieder nach Griechenland abschieben, das beinhaltet die Empfehlung der EU-Kommission, ab Mitte März nächsten Jahres wieder zum Dublin-Verfahren zurückzukehren. Das Dublin-Abkommen oder Dublin-Verfahren sieht ja vor, dass grundsätzlich jenes Land für Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Migrant erstmals den Boden der EU betreten hat. Die Vereinbarung war 2011 war ausgesetzt worden, nachdem europäische Gerichte die Bedingungen für Asylsuchende in dem Land, in Griechenland unter anderem, als unzumutbar eingestuft hatten. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert die neuen Pläne scharf, und worauf sich diese Kritik genau gründet, kann ich jetzt mit dem Europabeauftragten Karl Kopp besprechen. Guten Morgen!
Karl Kopp: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie stellt sich die Situation von Migranten in Griechenland aus Ihrer Sicht derzeit dar?

"Ein zynischer Ansatz"

Kopp: Ja, während die Kommission angekündigt hat, die Abschiebung nach Griechenland im nächsten Jahr wieder aufzunehmen, versuchen UNHCR, der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und internationale Organisationen, Zehntausende Flüchtlinge aus prekärem Wohnverhältnis, aus Zelten oder gar aus der Obdachlosigkeit rauszuholen. Das drückt schon mal aus, dass das irgendwie ein sehr zynischer Ansatz ist, jetzt die Rückkehr zu Dublin zu verkünden, während in Griechenland immer noch eine humanitäre Krise vorherrscht.
Welty: Was hat sich denn seit 2011 womöglich verbessert?
Kopp: 2011 ist vielleicht der falsche Referenzrahmen. Letztes Jahr, 2015, sind 850.000 Bootsflüchtlinge lebend in Griechenland angekommen. Nach der Dublin-Regelung hätte Griechenland für einen großen Teil dieser Menschen, wenn Griechenland noch Teil von Dublin gewesen wäre, die Asylverfahren durchführen müssen. Das drückt schon mal aus, dass diese Regelung insgesamt irrig ist oder unsolidarisch und natürlich auch inhuman. Es hat sich was verbessert im Bereich der Asylbehörde – es wurde eine aufgebaut erst mal in den letzten drei Jahren –, und es gibt ein paar Unterkunftsplätze, die UNHCR praktisch angemietet hat, knapp 20.000. Das ist das Positive, aber de facto sitzen in Griechenland 62.000 Menschen fest. 16.000 Menschen, viele Frauen und Kinder auf den griechischen Inseln. Sie dürfen die Inseln nicht verlassen, das sieht der Türkei-Deal so vor, sagt die Europäische Kommission. Und von diesen Menschen sind viele unter absolut prekären menschenrechtswidrigen Bedingungen untergebracht. Auf den Inseln gibt es 7.500 Plätze, 16.000 Menschen vegetieren dort, das heißt, es muss Essen beschafft werden, die Leute kampieren in Zelten, sind zum Teil draußen bei widrigen Bedingungen – das hat alles nichts mit einem menschenrechtskonformen Aufnahmesystem zu tun. Und das ist ein Scheitern der Europäischen Union, das ist nicht das Versagen des krisengeschüttelten Landes Griechenland.
Welty: Wenn man am Grundgedanken von Dublin festhält, dass eben die erste Station in Europa verantwortlich ist für Flüchtlinge, für Asylsuchende, die dort ankommen, wie lässt sich denn den betroffenen Staaten – namentlich Griechenland – helfen?
Kopp: Na ja, Helfen hätte man Können, indem man in den letzten Monaten viel schneller menschenwürdige Unterbringungen schafft. Es ist ja doch viel Geld geflossen nach Griechenland, und auch …
Welty: Wo ist das Geld denn jetzt?
Kopp: Na ja, es geht jetzt nicht um Korruption, sondern um Missmanagement. Es hat viel zu lange gedauert, dass man …
Welty: Nur die Grenzen sind da aber auch fließend, oder?

"Die EU nutzt Griechenland als Pufferstaat"

Kopp: Die sind fließend oder es ist intransparent, da müsste auch die Kommission, wenn es europäische Gelder sind, genauer hinschauen. Es ist merkwürdig, dass wir jetzt … Wir reden schon so lange von der humanitären Krise in Griechenland, und jetzt haben wir immer noch die Appelle: Der Winter kommt, der Winter kommt, wir müssen die Leute aus den Zelten holen. Das ist beschämend für Europa. Europa hat Griechenland in Gänze übernommen, muss man einfach so sagen, Griechenland wird eigentlich behandelt wie ein Drittstaat, wie Libanon oder Kenia bei der Flüchtlingsaufnahme. Griechenland ist in den Händen der europäischen Staaten und der internationalen Organisationen, und da ist vieles schiefgelaufen. Was aber vor allem schiefgelaufen ist, dass die Europäische Union Griechenland als Pufferstaat nutzt. Wir haben den Türkei-Deal, der besagt, möglichst alle Bootsflüchtlinge wieder zurückzuschicken, zu Erdogan, egal was auf der anderen Seite an Menschenrechtsverletzungen passiert, und aus diesem Grund müssen seit dem 20. März die Menschen, die lebend auf den Inseln ankommen, dort verharren – ohne eine Perspektive, wie es weitergeht. Sie sitzen fest, es ist sozusagen die Ägäis eine Art Freilichtgefängnis, und das produziert Leid, Verzweiflung, und es produziert vor allem viele gesellschaftliche Spannungen auf den Inseln. Die Stimmung ist gekippt.
Welty: Welche Alternative zu dieser Konstruktion gibt es denn Ihrer Einschätzung nach, der Einschätzung von Pro Asyl, denn die Flüchtlinge kommen ja irgendwo nun mal zuerst an.

"Ein Akt der Unsolidarität"

Kopp: Gut, abgesehen von dem Deal, den wir kritisieren, dass man mithilfe von Erdogan versucht, alle Fluchtrouten dicht zu machen, ist es so, dass man in Griechenland viel schneller menschenwürdige Unterkünfte schaffen muss, um dann zügig Familienzusammenführung nach Zentraleuropa oder Nordeuropa zu eröffnen. Das wird verschleppt. Und wir müssen sehr viel mehr legale Weiterwanderungsmöglichkeiten eröffnen. Auch das Relocation-Programm, das Umverteilungsprogramm, bezogen auf Griechenland, läuft total schleppend. Mittlerweile konnten nur 6.000 Menschen legal aus Griechenland ausreisen, versprochen waren über 66.000 legale Ausreiseplätze. Diese Tatsache verschärft die Situation, Griechenland wird sozusagen zum Auffanglager Europas, und das destabilisiert das Land. Man lässt es alleine. Das ist ein Akt der Unsolidarität und ist vor allem sehr unmenschlich gegenüber den gestrandeten Flüchtlingen in Griechenland.
Welty: Karl Kopp von Pro Asyl, wir haben gesprochen, nachdem die EU-Kommission die Rückkehr zum Dublin-Abkommen empfiehlt und damit auch die Abschiebung von Flüchtlingen zurück nach Griechenland. Herr Kopp, haben Sie Dank für das Gespräch!
Kopp: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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